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Ihre Grenzen
Der Teppichboden war alt. Die Flecken, mit denen er übersäht war, bewiesen es. Er musste schon viel aufgesaugt haben. Kaffee, Tee, Blut, Leid, Hoffnung: aufgesogen, gelöscht und doch verewigt.
Ich sah zu meinen Füßen, während ich auf ihm dahinschritt, beobachtete seine von Menschenhand geschaffene Imperfektionen und zählte dabei meine Schritte.
Eins, zwei, drei, dreieinhalb, vier… Meine Beine waren schwer. Nicht weil es zu früh am Morgen war, sondern weil sie mich nicht dorthin tragen wollten, wohin ich gehen sollte. Nicht wollte, nicht musste. Ich sollte.
Viereinhalb, fünf, fünfeinhalb, …
Das Gemurmel wurde lauter. Helle, müde Mädchenstimmen, die sich damit brüsteten, wessen Haar voller aussah, wer von ihnen am ehesten als „gesund“ durchgehen würde. Den Schein zu wahren, egal was es kostete, das oberste Gebot. Dagegen zu verstoßen war Sünden. Sünden bedeutete versagen. Und versagen bedeutete alles und nichts.
Sechs, sechseinhalb, sieben, …
Das nächste Mädchen wurde in das verglaste Zimmer gerufen. Die zugezogenen Rollläden sollten Intimsphäre vortäuschen. Eine Intimsphäre, die so privat war, wie eine Eilmeldung in der Tagesschau.
Siebeneinviertel, siebeneinhalb, siebendreiviertel … Null. Ich reihte mich in die Schlange der anderen Wartenden ein. Eine Mischung aus frisch gesprühtem Deo, Zahnpasta und Erbrochenem kroch mir in die Nase und schüttelte meine Schleimhäute gänzlich wach.
Das eben in den verdunkelten Raum getretene Mädchen kam wieder heraus, auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck von Erleichterung, zeitgleich auch von Hass.
Lena erhob sich von dem Harten Stuhl, auf dem sie gewartete hatte, bis sie an der Reihe war. Ich wusste, dass sie Lena hieß, weil sie ein zartes Goldkettchen mit ihrem Namen darauf trug, das sich nun langsam auf ihren hervorstehenden Brustbeinknochen hob und senkte, im Rhythmus ihres Atems, im Rhythmus ihres Lebens, das kläglich in ihren Venen pochte und auf die Rettung wartete, die nur durch ein Wunder geschehen würde.
Sie ging in den Raum. Alles was nach draußen drang, war das Gefühl von Scham, das sich bestätigte, als Lena wieder auf den Flur, auf den fleckigen Teppichboden schritt, der unter unseren Füßen ruhte, allzeit bereit uns aufzufangen und unsere blutigen Tränen aufzusaugen. Ihre haselnussbraunen Augen waren verweint, rot, und halb tot. Ihr kläglich schwacher Körper zitterte und sie stank nach Scham. Die Mädchen, die eben erst zu der tragischen Objektivierung angekrochen waren, die wir Tag für Tag über uns ergehen lassen mussten, rümpften ihre Nasen bei Lenas Anblick. Sie war nun die Geschmähte. Jedenfalls so lange, bis die Nächste in einen tieferen gesellschaftlichen Tod stürzte. Du warst zu krank. Du warst zu wenig. Du warst zu schlecht. Du warst nichts.
Das Mädchen namens Lena schritt davon. Der Gestank der Scham, ihres Nichts-Sein, ging mit ihr und blieb doch bei uns Wartende. Ich roch nichts.
Ich war an der Reihe und trat in das abgedunkelte Zimmer.
Die Schwestern wartenden, sie wussten was sie tun mussten, sie wussten was nun folgte.
Ich wusste es auch. Ich wusste auch, was mich erwartete, würde ich jetzt nicht gehorchen. Also gehorchte ich. Ich sollte. Und ich musste auch.
Ich zog mich aus. Bis auf die Unterwäsche.
„Nein. Ja. Nein“, krochen die Antworten aus meiner Kehle, wässrig und hohl, wie eine Blase. Es war das was sie hören wollten, was ich sagen sollte, um ihren Gesetzen zu folgen und das was ich sagen musste, um zu überleben, um mich für die kommenden 24 Stunden vor dem „Nichts-Sein“ zu bewahren.
„Okay“, sagte die Schwester und hielt in meiner Akte das fest, was sie hörte, das was sie sah und das, was das Gerät sagte, auf dem ich stand. Sie verdrehte die Augen, bemühte sich erst gar nicht ihren grausam genervten Blick zu verstecken. „Bis dann“, sagte sie.
Ich hatte bestanden. Ich war nicht Nichts. Jedenfalls nicht, bis zum nächsten Wiegen.
Ich ging zurück auf mein Zimmer, streifte meine labbrigen Leggins über die Knochen, die einmal Beine waren und ging wieder zurück zu den anderen Mädchen, die sich mittlerweile alle vor dem Aufzug versammelt hatten. Zeit für Frühstück.
Ein paar der Mädchen, überwiegend, die, die sich schon länger hier befanden, durften die Treppe nehmen. Wir nicht. Das war die Grenze von dem was sie uns für fähig zu tun hielten. Wir mussten Aufzug fahren. Wir sollten es, das wurde von uns erwartet. Sie sagten es ginge um unser Leben. Auch wenn es nur um ihre Gesetze ging.
Das Frühstück war wie jeden Tag: erniedrigend und eine Strafe dafür, dass wir auf der Welt waren, dass wir es wagten Gefühle zu haben, dass wir es wagten zu Sein. Oder „Nichts“ zu sein.
Wir kamen zu spät, wegen dem Aufzug, der sich Zeit gelassen hatte. Die Brötchen waren schon zäh, der Kaffee in der Mikrowelle aufgewärmt und von der Marmelade war nur noch Pflaume übrig. Das war die Strafe, wir sollten fühlen, dass wir die unterste Schicht waren.
Wir sollten essen. Wir mussten essen. Sonst würden wir bestraft werden.
Gleichgültig zerkaute ich jeden Brösel, der auf meinem Teller oder daneben landete. Ich gehorchte. Nicht weil ich Angst vor ihrer Strafe hatte, nicht weil ich ihre Grenzen wahren wollte, nein, ich wollte meine Grenze wahren.
Nicht gut: ich hatte kurz nicht aufgepasst und ein buttriges Stück meiner Honigsemmel landete auf dem Boden. Nicht gut. Gar nicht gut. Mein Herz fing als Reaktion auf das Kommende an einen Sprint hinzulegen und ich konnte fühlen wie mir das Blut in den Kopf stieg. Aus Scham oder aus Angst? Vermutlich beides. Denn ich wusste was nun folgen würde…
Der Aufseherin, die bei uns am Tisch saß und mit ihren Augen jedem Stück Nahrung folgte, was sich auf dem Tisch bewegte, ob nun zu unseren Mündern oder in unsere Hosentaschen, hatte ihren scharfen Blick auf mich gerichtet. Ich wusste was kommen würde, sie wusste es, alle Mädchen, die am Tisch saßen wussten es.
„Was war das?“
Ich wollte den Mund öffnen, wollte sagen, dass das keine Absicht war, wollte ihr sagen, dass ich nicht Nichts war.
Die anderen Mädchen am Tisch würdigten mich keines Blickes: sie starrten auf ihre Frühstücksbrötchen, mit zentimeterdicker Butter bestrichen und einer doppelten Ladung Aprikosenmarmelade, die mehr aus Zucker bestand als aus Frucht. All das, nicht weil es schmeckte, sondern weil wir sollten. Weil wir jemand sein wollten und jemand sein sollten.
Während die Anderen peinlich genau darauf achteten, mich nicht zu sehen, geschweige denn mich wahrzunehmen, sah ich in die Augen der Aufseherin. Sie hob eine Augenbraue und wartet darauf, bis ich das tat, was ich nun sollte.
Ich sah auf das buttrige Stück Semmel, dass neben meinem Stuhl lag. Kläglich, alleine und zufrieden damit klebte es mit der Honig-Seite auf dem Fußboden, auf dem schon mehr Krankenhausschuhe mit ihren Leidensgeschichten gewandert waren, als ich mir nur vorstellen konnte.
Ich wusste, was ich nun tun sollte, was von mir erwartet wurde und was passieren würde, wenn ich es nicht tat, wenn ich meine Grenze wahrte und nicht ihre.
Ich bückte mich nach dem Stück Semmel und konnte den selbstgefällig fordernden Blick der Aufseherin auf meiner Haut brennen spüren. Als ich wieder auftauchte, hatte sie gerade in eins besonders knuspriges Stück ihres Salamibrötchens gebissen und ich konnte hören, wie ihre Zähne es zermalmten, während mich die anderen Mädchen am Frühstückstisch nach wie vor wie hypnotisiert ihre buttrigen Brötchen in sich stopften, um ja besser zu sein als ich. Sie folgten den Spielregeln, gehorchten und kamen nicht einmal in die Nähe des Grenzwärtigen. Ich schon.
Ich legte das eben aufgehobene Stück Honigsemmel, an dem jetzt ein langes Blondes Haar klebte, ebenso wie sämtlicher Dreck, der sich über die vergangenen ungereinigten Jahre angesammelt hatte, auf die scharlachrote Serviette neben meinem Teller und wartete auf mein Urteil.
„Du willst das doch essen.“ Die Aufseherin hatte gesprochen und ich wusste was war meine letzte Chance. Meine letzte Chance zurückzutreten, die Grenze nicht zu überschreiten, die heilige Grenze, die nur heilig war, weil es ihre Grenze war. Ich sollte meine Grenze vergessen, sie in die Luft jagen und nicht einmal zurückblicken…
„Nein.“
Ich stopfte mir den letzten Happen meines Frühstücks in den Mund, das nicht zuvor auf dem Fußboden des Speisesaals gelandet ist, in den Mund und kaute, schmeckte aber nicht.
„Wieso.“
„Weil es auf dem Boden lag?“
Ich bestand fest auf meine Würde, während meine Beine zu zittern begannen.
„Iss.“
„Es. Lag. Auf. Dem. Boden.“
Ich hörte wie meine Stimme leiser geworden war, wie mein Körper langsam vor Furcht davor, was gleich mit mir passieren würde, in sich zusammensank. Ich war kein Mensch mehr. Ich war ein räudiger Straßenhund, der es eben gewagt hatte, nicht dem Wort des feinen Herren zu gehorchen und nun nicht mehr wert war, als die Prügel und die Tritte, die er gleich beziehen würde. Wie der Straßenhund für den feinen Herren, war ich für die Grenzenzieher hier nur eines, ich war Nichts.
„Nahrungsverweigerung. Ich werde es notieren. Du weißt, was das heißt.“
Ja. Dass ich ihre Grenze überschritten hatte. Dass es mir wichtiger war, für meine Menschenwürde einzustehen. Ich musste kein schmutziges Stück Honigsemmel essen, nur weil ich in ihren Augen Nichts war… Mir war meine eigene Grenze wichtiger gewesen, als die künstliche, die sie mir aufgezwungen hatten, die sie mir versucht beizubringen hatten, sie um alles in der Welt zu wahren.
Sie sagten, dass ihre künstliche wäre auch meine eigene Grenze. Sie sagten ich würde es nur nicht wissen. Wie auch. Ich war schließlich ein Nichts…
Doch wer waren sie, um das zu wissen?
Wer waren sie, um sich dessen so sicher zu sein, dass ein Grenzübertritt kein Schritt in meine selbstbestimmte Zukunft, sondern nichts als ein Bruch gegen ihre Gesetze war?
Und ich hatte gegen ihre Gesetze, gegen ihre Regeln verstoßen. Ich hatte ihre Grenze, die auch meine sein sollte, überschritten. Und das auch noch ganz bewusst.
Für die Aufseherin war die Sache abgehackt. Grenze überschritten, Zeit für Bestrafung: fortan war ich Nichts. Ich war Nichts, bis ich meinen Grenzübertritt wiedergutmachen konnte, mit der nächsten Portion Schinken-Sahne-Nudeln vielleicht oder einer Extraportion vor Fett triefendem Gyros. Bis dahin war ich in etwa so viel wert, wie das Stück verunreinigter Honigsemmel, das nun kläglich auf meiner Serviette darauf wartete im Abfalleimer zu landen. Ich war Nichts. Nichts für sie.
„Sie verlangen von mir, dass ich das Stück dreckiger Semmel esse?“
„Das ist aktive Nahrungsverweigerung. Das ist die Essstörung in dir.“
„Nein.“
Eine Widersprache hatte niemand erwartet. Weder die Aufseherin, die mich jetzt perplex hervorquellenden Augen musterte, als hätte ich aus dem Nichts heraus, in ihren Orangensaft gepinkelt. Weder die anderen Mädchen, die mich erschrocken anstarrten, als wäre ich ein Müllbeutel, der eigentlich die Schnauze halten sollte, aber sich plötzlich wehrte in die Tonne gekloppt zu werden. Und weder ich selbst.
Ich, die sich dazu entschieden hatte, meine Grenze zu wahren nicht die ihre.
Ich, die lieber Nichts in ihren Augen, dafür aber endlich wieder Etwas in meinen eigenen Augen war.
Ich, die lieber tot und frei war, als ein Leben hinter ihren Grenzen zu tristen.
Die Aufseherin starrte mich immer noch an: „Doch“. Sie war fassungslos, weil Nichts ihr eben widersprochen hatte.
„Würden Sie das noch essen?“, fragte ich und deutete auf das Stück Honigsemmel, über das jetzt auch noch seelenruhig eine Fliege spazierte.
„Nein. Aber ich bin auch nicht krank.“
„Und ich bin genauso ein Mensch wie sie, auch wenn ich krank bin.“
Das Beil eilte nach unten und besiegelte mein Schicksal für die kommenden zähen Stunden. Ich würde Nichts sein, weil ich Nichts war.
Sie wusste es, wie ich es wusste, dass es nicht um die auf den Boden gefallene Frühstückssemmel ging. Sie war eine Metapher, nichts weiter. Eine Metapher für ihre Grenze und eine Metapher für meine Grenze. Und ich hatte mich nicht für ihre entschieden. Ich hatte meine eigene gewählt.
Ich hatte keine Angst mehr. Sie hatten mir bereits alles genommen: ich durfte keine Treppen gehen oder mich anderweitig bewegen. Meine Familie durfte mich nicht besuchen, weil sie mir nicht trauten. Ich durfte die Klinik nicht verlassen und musste fragen, ob ich auf die Toilette gehen durfte, wenn ich mal musste. Ich durfte nirgendwo sein, denn nirgends war ich gewollt oder gerne gesehen und ich durfte ausschließlich zwischen dem Speisesaal, meine Zimmer und dem Therapieraum pendeln. Natürlich nur unter Beobachtung. Alles andere war für sie bereits ein Grenzübertritt und damit das Zeugnis Nichts zu sein.
Sie hatten uns unterbewusst eingehämmert, dass ihre Grenzen gleich unsere Grenzen waren. Wir würden hier nicht wieder rauskommen, wir würden niemals mehr Freiheit spüren, wenn wir strikt hinter ihrem Grenzzaun blieben. Wir würden weiterleben… mit der Voraussetzung, dass wir nicht einen Schritt über die Grenze wagten. Alles was wir dafür tun mussten, war unsere eigenen Grenzen dafür vollständig zu vergessen und einzureißen... Ein Paradoxon, dass mich zu gleichermaßen umbrachte und mit Leben überflutete.
Und so überstrichen sie weiter. Jeden Tag. Jeden Patienten. Sie verkleideten den Schimmel, der in jedem einzelnen von uns wucherte mit Schichten von Farbe. Die Ursache blieb und würde für immer bleiben, der Schimmel würde sich wieder ausbreiten und noch einnehmender und verpestender sein als zu vor. Es war keine Frage der Kilos, die man innerhalb deren Grenzen zunehmen sollte, es war eine Frage der Eigenverantwortung und der Liebe zum Leben außerhalb deren Grenzen, aber innerhalb der eigenen Grenzen, die einen von dem Leid erlösen würde.
Ich hatte es geahnt.
Sie hatten es vergessen.
Und jetzt wusste ich es.
Schweigend beendete jeder für sich sein Frühstück. Die unbequem stabilen Metallstühle wurden zurück und wieder an den Tisch geschoben. Leises Gemurmel erhob sich über die Stickige Augustluft im Raum und nacheinander, Mädchen für Mädchen, verließen wir den Speisesaal. Die schwachen Schritte hallten durch die Eingangshalle der Klinik und während wir auf den Aufzug warteten sah ich wie leise, ängstliche Tränen langsam und glitzernd über die blassen, hohlen Wangen von ein paar der Mädchen rannen. Sie weinten, weil sie verzweifelt waren. Weil sie nicht weiterwussten und weil sie es hassten mit einem gefüllten Magen zu existieren, zu leben. Sie hassten es zu leben.
Tränen flossen jetzt auch über mein eigenes Gesicht, glitten über meine eigenen eingefallenen Wangen und suchten sich ihren Weg über meinen Hals zu meinem Herzen.
Ich weinte, weil ich liebte.
Ich liebte das Leben.
Und ich würde leben.
Innerhalb meiner Grenzen.