Ihr Tag
Schon in der Früh ist sie auf den Beinen. Sonst steht sie nicht vor 10.00 Uhr auf, muss sie ja auch nicht. Die Arbeit kann warten. Heute ist ein großer Tag. Heute endlich, wird sie belohnt werden. Sie hat es ja auch verdient, ehrlich. Warum immer die Anderen?? Das Geld kann sie gut gebrauchen. Schließlich ist das, was sie von Ihren Eltern bekommt, nicht grade viel. Es reicht für die 25 qm-Wohnung mit Balkon und Aufzug im Haus.
Sie schlurft ins Bad, stellt sich vor den Spiegel. Ja, nicht schlecht. So sieht eine Gewinnerin aus. Sie grinst, entdeckt einen Pickel, neben der Nase; sie drückt ihn aus, zufrieden betrachtet sie die geschwollene, blutige Stelle.
Beim Frühstück geht sie in Gedanken noch mal die Fragen durch. Olaf hat sie gestern noch mal abgefragt. Bundeskanzler ist Schröder, Marie Curie hat die Radioaktivität erfunden.
Jaja, sie wird es schaffen. Es ist ihr Tag.
Ganz schlecht ist ihr schon. Sie beginnt zu schwitzen, die Übelkeit steigt ihr sauer den Hals hinauf.
Sie schafft es bis zu Toilette, das Frühstück verabschiedet sich.
Gleich kommt Olaf. Er wird sie mitnehmen, er hat ein Auto. Einen alten Opel.
Später sitzen sie schweigend im Auto. Hin und wieder wirft Olaf ihr einen Blick zu. Er scheint sich Sorgen zu machen. Aber sie wird es wohl schaffen. Sie glaubt fest daran.
Endlich kommen sie an. Unheimlich ist es ihr. All diese Menschen, die wichtig hin und her laufen und schicke Plastikschilder tragen. „Sylvi – Produktionsassi“ liest sie.
Die nächsten Stunden laufen wie ein Film an ihr vorbei. Maske, Besprechung, Warten, Probesitzten auf dem Stuhl. DER Stuhl... auf dem wird sie gleich sitzen.
Ein Auto. Ja, das wird sie sich kaufen. Ein Gebrauchtes. Anspruchsvoll ist sie nicht. Vielleicht einen Fernseher. Und eine Reise. Nach Italien, da wollte sie immer schon mal hin. Sie wird es schaffen.
Endlich, sie können ihre Plätze einnehmen. Neun andere Kandidaten sitzen neben ihr. Verstohlen beäugt sie ihre Konkurrenten. Nein, der dicke Mann mit der Glatze wird ihr nicht gefährlich. „Thomas,“ hatte er sich vorgestellt, „Busfahrer aus Recklinghausen“.
Naja, auch Hilde, Hausfrau und Mutter, kann ihr nicht das Wasser reichen.
Verkrampft und aufgeregt hält sie ihren Glücksbringer in der Hand. Ein zerfetzter Hase, Ohren hat er schon lange nicht mehr. Der hat ihr früher schon Glück gebracht, mit ihm hat sie ihren Volksschulabschluss geschafft. Und auch die Lehre zur Floristin hat sie durch ihn bekommen.
Hoffentlich strengt er sich heute an.
Die Sendung beginnt. Ihr fällt die Krawatte des Moderators auf. Gelb ist sie. Wie hypnotisiert starrt sie darauf. Ob seine Frau die Krawatte ausgesucht hat? Er hat bestimmt eine blonde Frau. Mit langen Beinen und großen Brüsten. Und Geld natürlich.
Geld hat sie auch bald, bald. Dann kann sie sich auch einen Mann kaufen. Einen netten.
Oh nein. Sie hat nicht aufgepasst. Die Frage wurde schon gestellt. Der Dicke ist am schnellsten. Behäbig steht er auf und wechselt den Platz. Setzt sich auf ihren Stuhl. Es ist Der Stuhl.
Natürlich kommt er nicht weit. Bei 1000 € ist Schluss. Und Werbepause.
Ewige Minuten später geht es weiter. Der Moderator, frisch gepudert, lächelt sie an. Er ist auf Ihrer Seite. Will, dass sich gewinnt. Sie wird sich anstrengen. Sie wird es schaffen.
Eine neue Frage. Sie weiß die Antwort sofort. Schnell tippt sie die richtige Reihenfolge ein. Ein Grinsen breitet sich auf ihrem angespannten Gesicht aus. Sie lehnt sich zurück und wartet.
Die Auflösung. Nein. Das kann nicht sein. Sie starrt gebannt auf ihren Monitor. Richtig waren ihre Antworten. Nur einer war schneller. Der Mann steht auf, geht zum Stuhl, setzt sich.
Nein, so geht das nicht. Sie war doch schneller. Ehe sie sich versieht, ist sie auch schon aufgestanden. Der Moderator merkt nichts. Gibt dem Mann die Hand.
Langsam zieht sie die Pistole aus der Tasche. Einige Zuschauer haben es bereits gemerkt. Immer lauter und lauter fangen sie an, zu schreien. Einige springen auf, wollen das Studio verlassen. Andere werden mitgerissen, ein großes Chaos breitet sich aus.
Sie geht auf den Moderator zu. Langsam. Aufgeregt ist sich nicht mehr. Sie lächelt.
Zielt. Drückt ab, ohne zu zucken. Das hat ihr Vater ihr beigebracht. Früher waren sie gemeinsam auf der Jagd.
Entsetzt und ungläubig blickt er sie an. Rote Flecken auf der gelben Krawatte. Er fällt einfach um.
Sie wendet sich dem Kandidaten zu, der regungslos auf dem Stuhl sitzt. Ihrem Stuhl.
Er darf kein Geld gewinnen. Ihr gehört das Geld. Sie wollte doch nach Italien.
Sie hat es nicht geschafft.
[Beitrag editiert von: Lola am 26.02.2002 um 10:58]