Ihr Tag
9 Uhr, der Wecker klingelt. Langsam wird sie wach. Es ist viel zu früh für sie. Sie will nicht aus dem Bett, eigentlich will sie nie aus dem Bett. Am liebsten würde sie für immer daliegen und weiterschlafen. Doch heute ist ihr Tag, sie muss raus. Sie setzt sich auf, streckt die Arme über den Kopf, der Rücken knackt. Langsam schlurft sie in die Küche. Auf dem Tisch liegt ein Zettel: Musste heute früher anfangen. Kaffee ist frisch gemacht. Hab einen schönen Tag! Kuss, Mama. Sie kann sich nicht erinnern wann sie das letzte Mal gemeinsam mit ihrer Mutter gefrühstückt hat. Ihre Mutter ist immer arbeiten, gefangen im Hamsterrad der Gesellschaft. Fest verstrickt im 9-to-5 Rhythmus. Sie rümpft die Nase und schenkt sich Kaffee ein. Schaut aus dem Fenster, wo von draußen wie immer die Katze hereinschaut. Diese Steunerin bettelt jeden Tag um Futter, seit Wochen. Sie gibt ihr nie etwas. Sie mag keine Katzen, eigentlich überhaupt keine Tiere. Zum ersten Mal heute schaut sie auf ihr Handy. Keine Nachrichten, wie immer wenn sie es anschaut. Wer sollte sich auch melden? Früher hatte sie Freunde, viele Bekannte. Sie war oft unterwegs, unternahm viel und bemühte sich um Freundschaften. Das war bevor ihr alles…egal wurde. Als sie in alldem noch einen Zweck erkennen konnte. Aber jetzt sie sieht den Sinn nicht. Sie geht ins Bad, steigt unter die Dusche. Lässt das Wasser an sich hinunterlaufen. Das Wasser, das immer zu warm oder zu kalt ist. Der Wasserdruck der immer zu stark oder zu schwach ist. Sie zieht sich an, packt ihren Jutebeutel, setzt Sonnenbrille und Kopfhörer auf. Den Schlüssel will sie gewohnheitsmäßig einstecken. Sie zögert und lässt ihn dann auf dem Schreibtisch liegen. Sie braucht ihn heute nicht. Sie läuft die sechs Stockwerke zu Fuß nach unten. Einen Lift gibt es in ihrem Wohnhaus nicht. Sie muss diese Treppen in den letzten Jahren tausende Male hoch und runtergestiegen sein. Rauf und runter. Rauf und runter. Immer dasselbe. Sie geht vor die Tür, es ist ein warmer Tag. Die Sonne ist fast unangenehm, sie mag die Hitze nicht. Sie läuft zur U-Bahnstation. Davor sitzt wie immer der alte Bettler. Er sitzt einfach nur da, starrt auf den Boden und erwartet Geld von den Menschen. Es kotzt sie an. Jedes Mal packt die Wut wenn sie den alten Mann sieht. Sie versteht es nicht, wie er einfach da sitzen und um Geld betteln kann. Es stört sie und dann ist es ihr auch wieder egal. Früher hat sie sich oft über Dinge aufgeregt, sich an Sachen gestört. Es hat sie das Leben in ihr spüren lassen, auch wenn es keine schönen Empfindungen waren. Heute bebt es kurz auf, nur für einen Moment. Doch dann ist es weg und im nächsten Moment weiß sie schon gar nicht mehr ob es da war. Sie hat es sich doch nur eingebildet. Sie sitzt in der U-Bahn. Ihre Kopfhörer wie festgeklebt auf ihrem Kopf. Musik hört sie nicht, das tut sie nie. Sie hat die Kopfhörer auf um sich zu entziehen. Sie will nicht teilhaben an dem was um sie passiert. Sie sieht denn Sinn nicht. So kapselt sie sich ab und ist in ihrer Welt. In ihrem Nichts. Sie ist an ihrer Station, steigt aus. Sie steht vor dem Rathaus mit dem Kirchturm. Sie blickt auf die große Uhr: 11:25 Uhr. Fast Mittag. Diese Uhr, so schwerfällig. Die Zeit, sie schleppt sich dahin. Sie findet es dämlich nach der Zeit zu leben. Sie sieht den Sinn nicht. Sie geht zum Eingang des Turms. Sie steigt auf die erste Stufe, schon das findet sie ermüdend. Sie geht langsam die Treppe hinauf. Stufe um Stufe. Sekunde um Sekunde. Sie starrt vor sich hin und geht weiter hinauf. Oben tritt sie ins Freie, es ist jetzt windig. Der Wind bläst ihr um die Ohren, kein Mensch ist hier. Sie geht in die Mitte der Fläche, schaut sich um. Sie sieht weit über die Stadt. Sieht die immer gleichen Häuser und Gebäude. Grau, leer, irgendwie einsam. Sie legt ihren Beutel hin, die Kopfhörer ab. Sie geht zum Rand, steigt auf die Brüstung und setzt sich. Sie beobachtet die Menschen, die auf dem großen Platz rumhetzen. Sie hört Kinderlachen. Kinder mag sie nicht, sie kann nichts mit ihnen anfangen. Sie sieht den Sinn nicht. Sie blickt zum Himmel, er ist jetzt grau. Es schmeckt nach Regen, ein Gewitter zieht auf. Ein Tropfen landet auf ihrer Hand, und noch einer. Die Menschen unten spannen Schirme auf. Regen mag sie. Und sie springt.