Ihr Raum
Ich starre ins Endlose. Es ist ein kalter stürmischer Wintertag. Vor mir eine weite Landschaft, zugedeckt von einer meterhohen Eisschicht. Neben mir ein schwarzer Kater, der sich an meinen Beinen warm streicht. Und hinter mir, hinter mir höre ich ein fröhliches Kinderlachen. Ich sitze vor dem Fenster und höre der Stimme hinter mir grinsend zu. Dann drehe ich mich um und sehe sie. Sie sitzt auf ihrem frisch bezogenen Bett und spielt lachend mit ihrer kleinen Puppe. Ich bewege mich auf sie zu. Ich versuche ihre Schulter mit meinen Händen sanft zu berühren, doch dann verschwindet sie. Da sie mich allein in ihrem Zimmer lässt, fange ich an zu weinen. Eine Träne läuft über meine Wange, weiter bis zum Hals, bis die nächste Träne aus meinen Augen kullert. Doch sie achtet nicht auf mein Weinen. Sie bleibt fort. Ich wische meine Tränen ab und gehe ihr nach, um sie zu suchen. Und dann sehe ich sie wieder. Sie steht mit dem Rücken zu mir, außerhalb des Hauses, im Schnee. Mit jedem Schritt, den ich auf sie zumache, knirscht der Boden unter mir. Plötzlich stolpere ich über einen verdeckten Ast und falle zu Boden. Meine zarten Hände berühren die feine Eisschicht und meine Knie drücken zwei Vertiefungen in den eiskalten Boden. Plötzlich sehe ich sie zu mir rennen, doch sie rast an mir vorbei geradewegs zur Eingangstür unseres Hauses. Ich humple ihr hinterher und öffne schließlich die alte Tür zum Haus, die mit einem kräftigen Windstoß hinter uns zu fällt. Als wir eintreten, fällt mein Blick auf die große Kuckucksuhr, die jeden Besucher freudig begrüßt. Mich jedoch muntert sie nicht auf. Im Gegenteil, sie langweilt mich. Wir gehen weiter in die Küche, wo unsere Eltern schon beim Abendessen sitzen. Mutter isst mit gesenktem Kopf eine dünne Scheibe Brot mit einer dicken Butterschicht darauf. Vater steckt die Nase in die 25-Cent Zeitung und löffelt nebenbei seinen Eintopf. Doch keiner von beiden bemerkt sie. So wie jedes Mal, wenn wir an der Tür stehen und ich hoffnungsvoll warte, dass irgendjemand unsere Anwesenheit spürt. Und wie jedes Mal gehe ich zu meinem Essplatz, nehme mir eine Scheibe Graubrot und dazu eine versalzene Brühe. Sie geht mir nach und setzt sich mir gegenüber auf ihren leeren Sitzplatz. Ich biete ich ihr ein Stück Brot an und, ohne eine Antwort abzuwarten, schiebe ich ihr ein Stück herüber. Meine Eltern starren mich fragend an. Doch ich lasse mir nicht anmerken, dass ich ihren Gesichtsausdruck bemerkt habe. Ich senke meinen Blick auf den Teller und esse Biss für Biss mein ganzes Brot.
Ich sitze wieder vor dem Fenster und höre eine Stimme leise mit der Katze reden. Es ist die Zeit, in der ich im Bett sein müsste. Wie aber jeden Abend schleiche ich mich in ihr Zimmer, um ihr näher zu sein. Dann drehe ich mich um und sehe, wie sie auf ihrem kleinen Sessel sitzt und den schwarzen Kater streichelt. Ich gehe zu ihr und hocke mich neben sie. Ich versuche sie zu umarmen. Doch ehe ich sie berühren kann, verschwindet sie wieder. Ich fange an zu weinen. Wiedermal hat sie mich alleine gelassen. Ich suche sie, doch finde sie nicht! Nach langer Zeit erfolgloser Suche, schleiche ich traurig aber hoffnungsvoll ins Bett. Sie ist bis jetzt immer wieder gekommen.
Am nächsten Tag gehe ich die Treppe runter in die Küche zum Abendessen. Meine Eltern sitzen dort schon. Ich setze mich zu ihnen und schnappe mir eine dicke Möhre. Dann warte ich, bis sie kommt. Doch der Platz mir gegenüber bleibt leer. Meine Eltern räumen den Tisch ab, Meine Eltern gehen ins Bett. Ich warte immer noch. Ich schlafe am Küchentisch ein.
Wieder starre ich ins Endlose. Vor mir eine weite Landschaft, zugedeckt von einer meterhohen Eisschicht. Und hinter mir, hinter mir ist Stille. Ich sitze vor dem Fenster in ihrem Zimmer. Mir ist in diesem Augenblick bewusst, dass ich alleine bin, denn als ich mich umdrehe, blicke ich in ihren leeren Raum.