Ihr Menschen mit euren Geschichten
Ben war 42 Jahre alt, als ihn die Erde verschluckte.
Es gab keinen Erdrutsch und keine Spalte tat sich auf. Im einen Moment lag er auf seiner Parkbank und fror sich den Arsch ab und im nächsten fühlte er sich nach unten gezogen und sah, wie sich die Grasnarbe über ihm schloss.
Dieser Vorgang wäre ja schon erstaunlich genug. Noch viel erstaunlicher war es allerdings, dass er die Prozedur keinesfalls als unangenehm empfand. Er fühlte sich sicher, wie in einem unsichtbaren Kokon und sah die Gesteinsschichten in gemächlichem Tempo an sich vorbeiziehen. Er sah! Und das unter der Erde. Toll! An so nebensächliche Dinge wie Atmung dachte er im Moment nicht. Atmung war nicht relevant. Hitze übrigens auch nicht, wie er feststellte, während er eine flüssig-glühende Masse durchquerte. Er schwebte durch eine riesige Höhle, mit diesen ganzen Stalak-Dingern, die in alle möglichen Richtungen wiesen und tauchte am Höhlenboden wieder sanft in die Erde ein.
Es ging tiefer und immer tiefer.
In einer kleinen Felsenkammer endete die Reise. Ben wurde abgesetzt. Vor ihm spielte ein kleines, rothaariges Mädchen Hüpfkästchen. Sie trug ein T-Shirt und eine kurze Hose mit Spiderman-Motiven drauf, dazu grüne Ringelsocken. Als Ben sich aufrichtete, sprach das Mädchen ihn an. „Moin“, sagte sie, „Ich habe auf dich gewartet.“ „Moin Moin“, gab Ben zurück, „Wo bin ich hier - und wer bist du?“ „Du bist am Eingang“, antwortete das Mädchen, „und ich bin Tod.“ „Oh“, sagte Ben, „dann bin ich ja wohl auch tot.“ Das Mädchen seufzte: „Nein, du hast mich falsch verstanden. Ich bin DER Tod! Aber was dich selber betrifft, liegst du schon ganz richtig.“ „Du bist der Tod?“, Ben hob die Augenbrauen, „Wie ulkig!“ Das Mädchen sah Ben fragend an: „Wieso das denn?“ „Na ja“, antwortete Ben, „ich dachte, du wärst irgendwie ... größer. Und mir fehlt der schwarze Mantel mit der Kapuze - und die Sense.“ Der Tod schüttelte den Kopf: „Ihr Menschen mit euren Geschichten. Komm jetzt mit.“ Sie huschte davon. „Moment noch!“, rief Ben ihr nach. Der Tod drehte sich zu ihm um. „Ist das hier die Hölle?“, fragte Ben. „Die Hölle?“, das Mädchen blickte ihm ins Gesicht, „Die Hölle gibt es nicht.“ Sie ging voraus in einen langen, gewundenen Gang und Ben folgte ihr.
Nachdem sie eine Weile schweigend hintereinander her gelaufen waren, nahm Ben das Gespräch wieder auf: „Wie bin ich eigentlich gestorben?“, fragte er. „Erfroren.“, antwortete der Tod, „Auf der Parkbank im Schlaf erfroren. Es war sehr kalt in der Nacht. So, da sind wir auch schon.“ Sie betraten einen riesigen, domartigen Saal, in dessen Mitte ein kleines Pult mit unglaublich vielen Knöpfen zu sehen war. Die Wand gegenüber dem Pult war voller Monitore. Ben staunte. Das mussten Tausende sein. „Dann wollen wir mal.“, sagte der Tod und drückte auf einen der Knöpfe. Die Monitore flackerten auf und Ben erblickte sich tausendfach. Er erlebte seine Geburt, die er schon vergessen hatte. Er sah sich in allen möglichen Altersstufen all die Dinge tun, die er getan hatte. Sein Leben zog an ihm vorüber und er schaute es sich an.Plötzlich blinkte einer der Monitore rot. Der Tod zog das Bild größer auf und Ben sah sich, wie er seinem alten Klassenlehrer Reißnägel auf den Stuhl legte. Der Tod kicherte: „Eine lässliche Sünde, aber trotzdem eine Sünde.“ Das Bild lief weiter.
Im Lauf der Zeit leuchteten viele Monitore rot auf. Die meisten zeigten Ben beim Diebstahl. Oft gab es aber auch grün leuchtende Monitore. Die guten Taten. Irgendwann begannen die Monitore sich abzuschalten. Einer nach dem anderen. Bis Ben sich auf dem letzten laufenden Monitor friedlich und mit Zeitungen zugedeckt auf einer Parkbank schlafen sah. Dann wurde auch dieses Bild dunkel.
„Tja“, sagte der Tod, „deine Statistik ist dieses Mal gar nicht so schlecht ausgefallen.“ Er drückte Ben eine kleine Chipkarte in die Hand. „Ich habe dir deine Sünden hier mal aufgezeichnet. Du solltest sie dir in einer ruhigen Minute ansehen und darüber nachdenken. Aber alles in allem kannst du schon recht zufrieden sein.“ „Komme ich jetzt in den Himmel?“, fragte Ben. Der Tod verdrehte die Augen: „Wie ihr euch das immer alles so vorstellt. Der Himmel. Viel zu kompliziert, viel zu weit weg. Das würde nie vernünftig funktionieren. Nein nein, so ist es schon ganz okay. Das Vergessene Tal ist doch wirklich sehr schön. Und wenn du genug Zeit hier verbracht hast und wir dich wieder zurückschicken, ist auch der Weg nicht so wahnsinnig weit.“ Ben sah den Tod nachdenklich an: „Aber wenn es keinen Himmel und keine Hölle gibt ... ich meine ... was macht ihr dann mit den richtig schweren Jungs? Bekommen die ihre Sünden auch nur auf einer Chipkarte in die Hand gedrückt? Zum lernen?“ Das Mädchen, das der Tod war, setzte ein vielsagendes Gesicht auf: „Weißt du, normalerweise schicken wir alles, was hier ankommt, wieder als das zurück, was es gewesen ist. Also ein Mensch wird wieder ein Mensch. Aber in besonderen Fällen machen wir auch schon mal Ausnahmen und wenn du dir oben so einen richtigen Hammer geleistet hast, dann könnte es durchaus sein, dass du in etwas ... sagen wir mal ... unangenehmerer Form zurück musst.“ „Zum Beispiel?“, fragte Ben. Der Tod zuckte mit den Achseln: „Egal ... Huhn in Käfighaltung zum Beispiel ... oder Weihnachtsbaum .... oder Toilettenpapier.“ Ben glaubte sich verhört zu haben: „Toilettenpapier? Aber - Toilettenpapier lebt doch nicht.“ „Wie kommst du denn darauf?“, fragte der Tod, „Alles lebt!“ Ben schluckte: „Du meine Güte ... das ist ja ... die Hölle!“ „Eben!“, sagte der Tod und setzte ein schiefes, dreckiges Grinsen auf, das so gar nicht in sein niedliches Mädchengesicht passen wollte.
Plötzlich spürte Ben ein Ziehen in der Brust. „Oh Oh“, sagte der Tod und sah zu, wie Ben von einem starken Sog erfasst und nach oben an die Decke des Saales gezogen wurde. „Hey!“, rief Ben dem Tod zu, „Gibt es eigentlich Gott?“. Aber die Antwort hörte Ben nicht mehr. Er tauchte in die Decke des Saales ein und wurde in ziemlich flotter Geschwindigkeit durch feste und flüssige Gesteinsschichten nach oben gezogen. Dann sah er ein helles, wunderschönes Licht, auf das er unaufhaltsam zusteuerte. Je näher er kam, desto deutlicher wurden die Umrisse des Lichts. Es hatte die Form zweier Augen. Und es sog ihn ein.
„Wir haben ihn wieder!“, rief der junge Mann, dessen Gesicht Ben direkt über sich sah. Er fror. Bens Körper wurde in eine silbrig glänzende Decke gewickelt. „Los, schnell in den Wagen mit ihm!“ Ben fühlte sich hochgehoben und ein wenig durchgeschüttelt. Er war sehr müde. Er schloss die Augen. Dann fühlte er ein paar kräftige Klatscher auf seinen Wangen. „Hey, mein Freund, bleib bei mir! Nicht einschlafen! Du willst ja wohl jetzt nicht noch sterben.“ Ben schlug die Augen auf. Der junge Mann war wieder da. Ben grinste ihn an. Sterben? Komisch, davor hatte er jetzt überhaupt keine Angst mehr. Er war gestorben. Zwar konnte er sich nicht mehr wirklich erinnern, aber er wusste noch, dass dort ein wunderschönes Licht gewesen war. Er musste wohl in den Himmel gekommen sein. Weiß der Geier, weshalb er ausgerechnet jetzt an Toilettenpapier denken musste.