Ihr Lieblingsfilm war Casablanca
Trostlos und verlassen steht es da, das alte, marode Kino am Ende der Fußgängerzone. Bald schon soll es einem modernen Einkaufscenter weichen; einem Outletstore, das vor allem junge Menschen anziehen soll. Die Kinogänger von heute haben keinen Sinn für Nostalgie; statt dessen wollen sie Hightech, jede Menge Fastfood und Filme sehen in 3D. Dies alles bietet ihnen das neue Cinestar Filmcenter direkt gegenüber.
Durch die milchigen Glasscheiben der Flügeltüren lässt sich noch ein letzter Blick auf die großzügige Eingangshalle des alten Lichtspielhauses erhaschen. Mit etwas Fantasie kann man sich leicht ausmalen, wie es hier früher ausgesehen hat; damals, als der pompöse Kronleuchter an der Decke die luxuriöse Halle hell erstrahlte, als es nach frischem Popcorn roch und ein wenig nach Bohnerwachs.
Am Tag der Eröffnung, einem Samstag, war das Kino schon Stunden vor Beginn der Vorstellung restlos ausverkauft. Die letzten beiden Kinokarten hatte Max ergattern können, für sich und die hübsche Ida. Und das war ein wirkliches Glück, denn es handelte sich um ihre erste Verabredung, oder, wie Cinestarbesucher heute sagen würden, ihr erstes Date. Ida mag achtzehn gewesen sein, Max ein wenig älter. Die Aufregung stand ihr ins Gesicht geschrieben.
Ida stand verlegen, mit geröteten Wangen an der Treppe, während Max Popcorn und Cola besorgte.
Gespielt wurde Casablanca mit Humphrey Bogart und Ingrid Bergmann.
Im Kinosaal saßen Ida und Max zunächst wie Bruder und Schwester nebeneinander, langsam ist er dann näher herangerückt, hat schließlich den Arm um sie gelegt. Als Humphrey alias Rick dann diesen legendären Satz gesagt hat - den damals allerdings noch niemand kannte, denn es war die Premiere des Filmes - küsste Max Ida auf den Mund. Nur ganz flüchtig. Von nun an sah sich das Paar, mit wenigen Ausnahmen, jeden Samstag einen Film an.
Casablanca lief wochenlang.
Im Gegensatz zu dem neuen Cinestar, in dem 20 Filme gleichzeitig abgespielt werden können, verfügt das alte Lichtspielhaus über lediglich einen Kinosaal, was die Wahl des Streifens, den man sehen wollte, deutlich vereinfachte. Für Ida und ihren Max war es in den ersten Wochen ihrer Verliebtheit ohnehin egal, welcher Film lief; ihre Münder schienen aneinander gewachsen zu sein. Irgendwann haben sie dann immer weniger geknutscht, damit aber nie ganz aufgehört. Jedenfalls konnten die Zwei sich nun viel besser auf die Filme, die gespielt wurden, konzentrieren. Und sie haben wirklich alle gesehen.
Im Laufe der Zeit veränderten Ida und Max sich zusehends. Aus dem pausbäckigen Teenager wurde eine attraktive Frau, aus dem jungen Schnösel ein stattlicher Mann.
Es fiel gleich auf, als beide eines Tages goldene Ringe trugen. War auch kaum zu übersehen, weil Ida ihre rechte Hand permanent hochhielt und ihren bestaunte. Nach jeder Vorstellung hat das Paar die Handlung des jeweiligen Films heiß diskutiert. Überhaupt hatten Ida und Max sich viel zu erzählen, brauchten auch keine anderen Menschen um sich herum, sie hatten an sich selbst genug.
Die Jahre vergingen und die Spuren des Alters gingen weder an Ida und Max, noch an dem Lichtspielhaus vorbei. Während die Fassade des Gebäudes immer mehr bröckelte, bekam Ida graue Haare, Max fielen sie vollständig aus.
Ganz plötzlich blieben die Stammplätze des alten Liebespaares, die Sitze achtundvierzig und neunundvierzig in Reihe sechs, leer.
Und dann kam das Unvermeidliche: Sanierungsstau. Das Wasser stand dem Kinobetreiber bis zum Hals. Der Supergau war die Eröffnung des Cinestars gegenüber. Insolvenzantrag wurde gestellt, dann kam das Aus.
Es sollte eine letzte große Vorstellung geben, für all die Gäste, die dem alten Lichtspielhaus jahrelang die Treue gehalten haben. Würden Ida und Max auch kommen? Der Film, der gezeigt wurde, war, wie am Eröffnungstag, natürlich Casablanca. Ein letzte Mal sollte Ilsa ihren Rick in die Augen schauen. Ein letzte Mal sollte Sam es noch einmal spielen, diesen Song, „As time goes by“.
Und dann kam…. Max. Nur Max. Er sah alt aus, fahl und eingefallen, trug schwarze Kleidung, doch noch immer seinen goldenen Ring…. Und an seinem rechten kleinen Finger …. ihren.