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Ihr Kinderlein, kommet
Das Raunen und Rascheln schob sich vom Eingang der Bürgerhalle bis hin zum Sprecherpult. Dort brandete die finkenwäldlerische Woge der Aufregung und übergoss den sichtlich überforderten Bürgermeister Gauerheim. Der wischte sich mit beiden Händen mehrmals über die glänzende Stirn, bis er dieses aussichtslose Unterfangen schließlich verwarf und sich schweißnass seinem kläglichen Auftritt stellte. Angestrengt räusperte er sich, um die murrenden, die zischenden Dörfler der Ruhe zu mahnen.
„Meine lieben Finkenwäldler“, floss es erschlagen aus ihm heraus.
Ich saß ganz rechts und hatte freie Sicht auf den birnenförmigen Körper des Glatzkopfs. Hinter dem massiven Pult schien die Gestalt auch den übrigen Rest ihrer Ausstrahlung einbüßen zu müssen. In diesem Moment verspürte ich Erleichterung, nicht unter der politischen Fuchtel dieser Witzfigur stehen zu müssen. Einen kurzen Moment nur, dann verjagte ich das wohlige Gefühl im Angesicht der ernsten Situation.
„Wo sind sie, Gauerheim?! Wisst ihr das immer noch nicht?!“
Der Bürgermeister winkte dem aufbrausenden Fragensteller hastig zu. Verblüffend, diese Geste. Ebenso mysteriös war das rhythmische Kopfschütteln dabei.
„Wo sind sie?!“, blies es ihm daraufhin heftig im Chor entgegen.
„Ja, was macht ihr denn?! Was macht ihr denn?!“
Ja, was machen wir eigentlich. Das war eine berechtigte Frage. Mein Blick wanderte an der viel zu engen Lederweste des Bürgermeisters nach unten, hinunter zu seinen schlammverdreckten Stiefeln. Bis vor wenigen Minuten noch, war er mit den vier Suchbrigaden, bestehend aus Polizei und freiwilligen Dorfbewohnern, durch den matschigen Waldboden gewatet und hatte nach den vier vermissten Kindern aus Finkenwald gerufen. Im Anschluss hatte er wohl keine Zeit mehr gefunden, sich ein wenig fernsehkonformeres Outfit überzustreifen. Sechs Lokaljournalisten – mehr gab es scheinbar ohnehin nicht – und einige von den nationalen Medien hatten sich in der ersten Reihe der Versammlungshalle breit gemacht und warteten jetzt auf neue Informationen, vielleicht gar einen Fund. Wenn man großes Glück hätte, vielleicht schon eine oder – dem Herrn sei’s gedankt - zwei Leichen.
„Seit dem gestrigen Verschwinden der drei Buben und der kleinen Irna, haben wir bedauerlicherweise keine neuen Erkenntnisse über ihren Verbleib gewinnen können. Entsprechend der Pressemitteilung von heute Mittag, gehen wir noch immer davon aus, dass die Kinder sich beim plötzlichen Einsetzen des Regens im Wald südlich der Kalkkirche verliefen und bisher nicht den Weg zurück gefunden haben. Es tut mir sehr Leid…“, stockte er und leckte sich über die rauen Lippen, „… sehr Leid, keine anderen Informationen für euch zu haben.“
Chapeau, Herr Gauerheim. Sehr mitreißend, das Ende. Während die Menge hinter mir davon unbeeindruckt in Rage geriet und kopfüber in die Sitzreihen polterten, prüfte ich sehnsüchtig, ob es bereits Erlösung für mich gäbe. Doch natürlich hatte ich keine Anrufe aus der Zentrale. Keine Reaktion auf mein Gesuch, den Fall aus persönlichen Gründen kurzfristig abgeben zu dürfen. Auf dem Display leuchtete nur eine aufpoppende Textnachricht meiner Frau, in der sie mich beschwor, pünktlich spätestens Mittwoch nach Hause zu kommen, wenn mir wirklich etwas an unserer Beziehung läge. Ja. Nichts Neues also. Ich rieb mir plötzlich sehr müde über das Gesicht.
Der Regen wurde stärker und donnerte imposant auf das Dach der Versammlungshalle. So laut, dass man kaum mehr ein Wort darin verstehen konnte und so wurden die sich ohnehin wiederholenden Fragen mit steigender Intensität des Unwetters weniger, die Gemüter beruhigten sich weit nach Mitternacht endlich und die müden Leiber torkelten in ihre Betten. Als assistierender Einsatzleiter der regionalen Abteilung für Vermisstenfälle und zeitweise Verantwortlicher für diesen Fall, war ich verdammt, mit Gauerheim und ein paar anderen alten Männern im Stuhlkreis zu sitzen und das weitere Vorgehen zu eruieren. „Was denken Sie?“, fragte mich irgendwann einer, bei dessen Namen ich mit gutem Willen auf Kaberhalven tippte.
Ich legte den Kopf schief und brummte. „Es heißt natürlich nichts. Aber der Erfahrung nach geht man nach 72 Stunden nur noch von einer 20-prozentigen Wahrscheinlichkeit aus, den Gesuchten wiederzufinden.“
Sie sahen mich lange an. Ich blickte in die Runde fragender Gesichter, bis mir auffiel, dass ich ein Wort vergessen hatte und schob es schnell nach.
„Lebendig. Lebendig, meine ich.“
Plötzlich ließen sie alle die Köpfe sinken.
„So, so.“
„So, so“, entgegnete ich mit angemessener Resignation und sah auf mein Handydisplay.
Ich schrieb meiner Frau in dieser Nacht eine lange Nachricht, in der ich wieder einmal beteuerte, dass ich viel lieber bei ihr sein würde. Es ginge nur gerade nicht, weil ich Leben retten musste. Kinderleben. Ein, wie ich fand, durchaus nachvollziehbarer Grund. Und doch überraschte mich ihr Ultimatum nur wenig, das ich irgendwann gegen drei Uhr morgens gleich zweimal hintereinander zugeschickt bekam. Ratlos gegen die Müdigkeit ankämpfend, starrte ich auf das immer stärker verschwimmende Handydisplay.
Das Krähen eines Hahns weckte mich. Das passierte seit meiner Ankunft in Finkenwald jeden Morgen. Es war ungewohnt, doch damit ließ sich durchaus leben lernen. Nach einem ausgiebigen Frühstück mit frischen Eiern und mindestens genauso frischer Milch lief ich über die bereits überraschend geschäftige Dorfhauptstraße zur Versammlungshalle. Das beherrschende Gesprächsthema war natürlich die vermissten Kinder, die hier alle persönlich kannten. Die Silhouetten der besorgten und herzhaft lästernden Finkenwäldler spiegelten sich auf den nassen Pflastersteinen. Diese Menschen waren, wie man sie in einem solchen Kaff vorzufinden erwartete. Gastfreundlich, geschäftig, mit herben Worten und Gesichtern. Und Bärten. Viele Bärte. Hier hatte absolut jeder einen Bart. Ich trug meinen Kaffee zudem in einer Messingtasse mit mir herum und achtete deshalb darauf, nichts zu verschütten, als ich die Handvoll Holzstufen zur Halle erklomm. Furchtbar reinlich waren sie nämlich auch.
Die Nacht über hatte es ebenfalls Freiwillige gegeben, die erfolglos nach den Kindern gesucht hatten. Alle durchsuchten Gebiete wurden auf einer weitläufigen Karte der Umgebung eingezeichnet und dem Dorfrat und mir wurde regelmäßig knapp Bericht erstattet. Nichts Neues an der Front, grübelte ich, als mir Gauerheim verstohlen auf die Schulter klopfte. Draußen rauchten wir jeder eine seiner Zigaretten und sagten lange nichts. Ich fand, so wie er bereits aussah, sollte er nicht auch noch rauchen, aber dann verkniff ich mir einen Kommentar. Durch meine häufige Abwesenheit im letzten Jahr, in der ich meine Frau zu pflegen hatte, waren meine Vorgesetzen sowieso nicht gut auf mich zu sprechen. Diesen Umstand wollte ich mit einer Dienstaufsichtsbeschwerde nicht noch befeuern. Irgendwann zertrat er seine Zigarette und hob den Stummel gewissenhaft auf. Er schob ihn sich in die Westentasche und lächelte mich müde an. Sein Gesicht war faltenfrei, absolut glatt. Wie die Schale eines Eis. Ich wich seinem Blick aus und sah über den Dorfplatz. Auf der anderen Seite spielten erschöpft lachende Kinder bei einer Rutsche.
„Schön ist es hier“, sagte ich und meinte es so. Irgendwie.
Er nickte leicht, das glaubte ich aus dem Augenwinkel erkennen zu können.
„Ich fürchte… rechne damit“, ich senkte die Stimme, damit es keiner sonst hörte, „… dass die Kinder tot sind.“
Wieder konnte ich ein Nicken ausmachen.
Im gleichen Augenblick seufzten wir lautstark. Bald wieder zu Hause, dachte ich.
Sonntag. Ich lag wach und lauschte einem Brummen von irgendwo in den Wänden. Es schien mit jeder Stunde lauter zu werden. Gerade als es kalt durch das geöffnete Fenster blies, riefen aufgeregt jubelnde Stimmen durcheinander. Ich sprang auf und rannte dem euphorischen Lärm halbnackt entgegen. Die Straße war rutschig. Was ich hoffte, aus dem Bauch heraus ahnte, bewahrheitete sich bereits eine Ecke weiter. Vier schmale Körper, fahle Gesichter, klammerten sich an die knienden Eltern. Es schien den Kindern auf den ersten Blick gut zu gehen und ich spürte eine schwere Last von mir abfallen. Das gibt sicher Pluspunkte weiter oben. Gauerheim klopfte mir auf die Schulter. Kein vorwurfsvolles Wort fiel wegen meiner düsteren Prognose von heute Morgen. Schließlich lebten alle vier. Somit war alles gut. Alles gut, sagte der Bürgermeister in einer ruhigen Minute zwischen zahlreichen Dankesbekundungen mehr zu sich, als zu mir. Lange noch hallte das frohe Schluchzen der Mütter aus den Fenstern von Finkenwald.
Am nächsten Tag, nachdem die Kinder untersucht und geduscht worden waren, gegessen und ausgeschlafen hatten, unterhielt sich ein Kinderpsychologe in meinem Beisein mit allen Vier nacheinander. Sie alle erzählten das Gleiche. Ein Blitz sei beim Spielen im Wald eingeschlagen und danach hätten sie nicht mehr zurück ins Dorf gefunden. Irgendwann, nach vielen Stunden und Schlafen im Freien, seien sie dann wieder an der Kalkkirche angelangt und von dort geradewegs nach Finkenwald zurück. Sonst sei keiner bei ihnen gewesen, entgegneten sie auf meine Nachfrage. Sonst sei da keiner und alle vier seien sie immer zusammen gewesen. Die ganze Zeit. Da ich die Kinder vorher nicht kennengelernt hatte, war es mir unmöglich zu sagen, inwieweit ihr Verhalten vom Normalzustand abwich. So verließ ich mich auf das knappe Urteil des Experten auf Basis der Vorgespräche mit den Eltern. Er bescheinigte den Kindern die Nachwehen eines Schockzustands, doch sonst nichts weiter. Ein gutes Ergebnis. Alle waren damit zufrieden.
Ich war sehr erleichtert, als endlich die Nachricht kam, dass ich am Tag darauf nach Hause fahren dürfte. Der Fall war sozusagen abgeschlossen. Jetzt folgte nur noch Papierkram. Der hatte Zeit. Der konnte auch vom heimischen PC erledigt werden. Dennoch schlief ich in der Nacht auf Dienstag sehr unruhig. So schlecht, dass es mich aus dem Bett trieb. Die Gedanken an meine Frau hielten mich wach. Ich hatte eigentlich keine Lust zu ihr zu fahren, aber… aber, na ja. So war das eben, dachte ich und zündete mir eine Zigarette an. Nachdem ich zum Abschied das Pensionszimmer voll gequalmt hatte, schnippte ich den Filter zufrieden aus dem Fensterschlitz. Für einen Augenblick hätte ich dabei schwören können, ja, dass da kleine Gestalten die Straße entlang gerannt waren. Gerade eben. Ich öffnete hastig das Fenster und streckte den Kopf nach links und rechts, kniff die Augen zusammen und versuchte im Zwielicht der Dorfhauptstraße etwas auszumachen. Eine breite Straße war das, auf der sich um diese Uhrzeit jedoch keiner mehr befand. Nein, niemand. Da war niemand.
Das finkenwäldlerische Rathaus war aus dicken roten Ziegeln zwei Etagen hoch geschustert und fügte sich nur widerwillig in den übrigen Straßenzug ein. Ich schrieb diesen architektonischen Fauxpas dem stillosen Gauerheim oder seinem sicherlich ebenso stillosen Vorgänger zu und war froh, das glattpolierte Antlitz des Bürgermeisters heute zum letzten Mal ertragen zu müssen. Der empfing mich direkt und servierte mir einen würzigen Tee der Region. Ich war guter Stimmung, die Aussicht nach Hause zu kommen, ließ mich leichter atmen. „Der ist lecker. Würzig“, bemerkte ich höflich und blickte durch das Fenster auf den Spielplatz auf der anderen Seite des Rathausplatzes.
„Ich bin sehr froh, dass das alles… na ja… so geendet hat.“
„Verschwundene Kinder tauchen meistens wieder auf. Nur selten ist es ein Verbrechen. Noch seltener verschwinden sie für immer“, zitierte ich fast automatisch meinen Professor von der Universität. Gauerheim nickte zufrieden. „Nur jetzt… also… diese Kinder… also, die Eltern… sie sagen, manchmal hätten die Kleinen seit gestern… ja… Aussetzer.“
„Aussetzer?“, wiederholte ich und nippte leicht an der Tasse.
Er lachte etwas verlegen und suchte offensichtlich nach den richtigen Worten.
„Na ja… wie soll ich das sonst nennen. Der Vater vom Björn… was hat der gesagt? … Na, was hat der noch gesagt? Ach! Genau! Wie ein Fernseher, der den Empfang verliert.“
„Was?“
Mein Blick ging weiter aus dem Fenster und ich bemühte mich, gleichzeitig zu verstehen, was der glatzköpfige Gauerheim mir gerade zu erklären versuchte.
„Ist ja egal…“, sagte er und lachte urplötzlich, so dass es im ganzen Büro vibrierte.
„Was meine Sie?“
Hm?“
„Was meinen Sie?“
„Nichts. Nur, wie sagen. Die Buben und das Mädchen, manchmal, sie scheinen nicht zu reagieren, wenn man sie ruft. Zum Essen. Oder so.“
„Ach?“
Er nickte und bot mir eine zweite Tasse an. Ich schüttelte den Kopf und bedankte mich.
„Ja. So… wissen Sie, als ob sie die ganz vergessen hätten. In der Zeit. Als ob sie ihre eigenen Namen vergessen hätten.“
„Ja? Ihre Namen…“, lächelte ich und schob die leere Tasse zu ihm rüber. Mir war schlecht. Er sah mir lange ins Gesicht.
„Ja. Ihre Namen.“ Dann, nach einer Pause, fügte er ernst hinzu, „Wer vergisst schon seinen Namen?“
„Ein Schock“, entgegnete ich und sprang unfreiwillig auf. Ich musste gehen. Jetzt. „Also.“
„Also.“
„Das ist sicher… also, der Psychologe würde Ihnen sagen, dass das eine Nachwirkung des Schockzustands ist, den die Kinder erlitten haben, verstehen Sie?“
Gauerheim verzog den Mund zu einer nachdenklichen Schnute.
„Ja“, sagte er schließlich. Seine Zustimmung beruhigte mich.
Ich verabschiedete mich und verließ das Rathaus mit großen Schritten. Als ich über den Platz zu meinem Auto hastete, vermied ich es, noch einmal in Richtung des Spielplatzes auf der anderen Seite zu sehen, wo die vier heimgekehrten Kinder kichernd knieten. Ich rief meine Frau an, die sofort abhob. „Ich komme jetzt“, sagte ich, „ich bin bald da. Der Fall ist gelöst." Dann, den Schritt weiter beschleunigend, warf ich keuchend nach, "die Kinder sind wieder zurück. Wohlbehalten.“
„Gut." Es tönte im Hintergrund metallisch. Vielleicht stand sie ja gerade in der Küche. Vielleicht war sie endlich aus dem Bett gestiegen. "Ich erwarte dich“, sagte sie wie es von ihr zu erwarten war. Und auch wenn sie es mir später vorwerfen würde, musste ich sie in diesem Moment wegdrücken, damit sie es nicht hören konnte. Das Jaulen und Fauchen des kleinen Tieres, aus der Mitte des Kreises, den die vier Kinder mit ihren Holzstöcken bildeten und das immer schwächer wurde, umso weiter ich mich davon entfernte.