Ihr Herzblatt
„Schönen Guten Abend, meine Damen und Herren, ich begrüße Sie herzlich zu unserer 100. Jubiläumssendung „Herzblatt“ in unserem Studio in Köln. Heute in der ersten Runde zu Gast Luisa Schäfer aus Engelskirchen und ihre drei Überraschungskandidaten, die gegeneinander um ihre Gunst wetteifern werden. Begrüßen wir sie nun mit einem kräftigen Applaus!“
Luisa trat ins Scheinwerferlicht und war überwältigt von der stürmischen Begrüßung. Sie war ja auch eine bezaubernde Frau: überschulterlanges, dunkles Haar, eine schlanke Figur und gekleidet in einen schmalen, langen Rock und eine türkisfarben leuchtende Bluse. Und ein strahlendes Lächeln mit ihren tiefblauen Augen und dunkelrot geschminkten Lippen. Sie hatte das Gefühl, auf Wolken zu gehen, so aufgeregt war sie. Würde sie heute Abend wirklich vor einem Millionenpublikum wieder neues Glück in der Liebe finden? Sie hatte ja ihre Zweifel, als sie die Einladung zum Casting erhalten hatte. Zu tief saß noch die Enttäuschung über ihre letzte Beziehung, die jetzt schon fünf Jahre zurücklag. Die Trennung von Leo hatte nachhaltige Spuren hinterlassen. Seitdem hatte sie zwar versucht, sich manchmal mit Männern zu treffen, die ihre Freundinnen ihr wohlmeinend vorstellten, aber sie konnte sich einfach nicht mehr verlieben.
„Bitte stellen Sie sich einmal unserem Publikum vor, Luisa“, forderte sie der Moderator auf.
„Ich arbeite in der Tourismusbranche, bin 35 Jahre alt, habe eine Katze und liebe ausgedehnte Motorradtouren, das Meer und wenn der Wind durch meine Haare braust, und mein Herzblatt sollte selbstbewusst, eigenständig aber auch kompromissfähig und einfühlsam sein. Ich liebe das Abtanzen in der Disko ebenso wie gemütliche Abende auf der Terrasse oder am Kamin.“
„Ja, Luisa, das ist ja sehr vielseitig, da hoffen wir mal, dass einer unserer Kandidaten Ihre Erwartungen erfüllen kann“, lächelte der Moderator. „Begrüßen Sie nun mit uns Kandidat 1“.
Dieser betrat unter dem Applaus des Publikums schwungvoll die Bühne auf der anderen Seite der Trennwand und verneigte sich mit der Hand auf dem Herzen, was bei einigen Zuschauern Lachen auslöste. „Bitte Luisa, Ihre erste Frage an Kandidat 1“, forderte sie der Moderator auf.
„Kandidat 1, ich fahre für mein Leben gern ans Meer und schwimme, surfe oder liege einfach in der Sonne. Wenn du jetzt aber mit mir unbedingt in die Berge fahren willst im Urlaub, weil du ein begeisterter Kletterer bist, aber mir das ein Graus ist, was würdest du tun, damit wir dennoch gemeinsam verreisen können?“
Kurze Stille, dann meinte Kandidat 1 mit weicher Stimme: „I mog vielloicht a begeisterter Bergfroind sa, abr wann dua mei Herzblatt wärst, wär i für olles zu begeistern, was di erfreut, weil i von dir begeistert bi!“ Er setzte hinzu: „I würd also mit dir ons Meer fohrn.“
Luisa musste lächeln. So nett gesagt! Und trotz des bayerischen Zungenschlags löste seine Stimme ein vertrautes Gefühl aus. Wenn sie da an Leo dachte, mit seinem schnodderigen Berliner Akzent: bei ihrem letzten gemeinsamen Urlaub war das wie jedes Jahr genau diese Streitfrage gewesen, und wie immer hatte er sie überredet, mit in die Berge zu fahren, mit dem Versprechen, nach der Besteigung der Dolomiten gemeinsam ans Meer zu fahren, an die Riviera. Und wie fast jedes Mal hatte er sein Versprechen nicht gehalten. Sie waren nun mal zusammen in den Bergen untergebracht, er hatte das Auto, und um es nicht zum Streit kommen zu lassen, hatte sie es tief enttäuscht geschluckt, dass er ihre Weiterreise ans Meer unter immer neuen Ausreden von Tag zu Tag verschob. Sie ging aus Protest dann nicht mehr mit auf die Wanderungen und langweilte sich zu Tode in dem kleinen Gasthof und dem Dorf in den Bergen.
Beinahe hätte sie nicht gehört, wie der Moderator sie aufforderte , die nächste Frage an den Kandidaten zu stellen, so vertieft war sie in ihre Erinnerungen.
„Kandidat 1, ich lege sehr viel Wert darauf, dass man sich an Jahres- und Geburtstage erinnert und sie entsprechend feiert. Was würdest du tun, wenn du mal wieder unseren Jahrestag vergessen hättest und ich dir abends um acht eine Szene mache?“
Kandidat lachte leise und wohlwollend. „Örstens glaub i nit, dass du a Szene mochen würdest, dazu bist dua vial zua bezaubernd“, - ein „Ah!“ ging durch das Publikum – „und zwoitens würd i di kurzerhond küssen und mi entschuldigen, indem i di in das beste französische Restaurant der Stodt einlad – natürli mit Kerzenlicht ond Fünfgangmenü ond Champagner!“ Das Publikum applaudierte begeistert.
Auch Luisa applaudierte innerlich. Dieser Kandidat zog sie immer mehr in seinen Bann. Trotzdem hatte sie das Gefühl, als fehle ein Teil in einem Puzzle. Dieses Lachen – tief aus dem Bauch heraus. Irgendwie weckte es warme Gefühle bei ihr. Das war doch unmöglich – dieser Mann war ein Fremder – und noch dazu Bayer!
Wenn sie da an Leo dachte: wie oft hatte er ihren Jahrestag vergessen und war zu spät vom Büro gekommen oder an ihrem Geburtstag mit Freunden zum Fußball gegangen. Wenn sie ihn dann nachts drauf ansprach, entschuldigte er sich mit einem flüchtigen Kuss und brachte ihr erst am nächsten Tag einen Blumenstrauß von der Tankstelle und eine Schachtel Pralinen mit. So etwas von lieb – und einfallslos!
„Luisa, stellen Sie nun bitte die letzte Frage?“ meinte der Moderator.
Luisa schluckte. Nun kam die alles entscheidende Frage.
„Ich habe eine Perserkatze, die ich über alles liebe. Was würdest du machen, wenn du eine Katzenhaarallergie hättest? Müsste die Katze gehen, wenn wir zusammen ziehen?“
Der Kandidat nieste demonstrativ. Lachen im Publikum. „Nun, liebe Luisa, i hob leider a Katzenhaarallergie. Aber da i gor nit gegen etwas allergisch sei könnt, was dir lieb ond teuer is, würd i beim Orzt oine Desensibilisierung mache ond außerdem würde wir ja so oft an die frische Luft gahn, Motorrad fahrn oder ans Meer, dass i damit bestimmt sehr bald koi Problem mehr hätt.“ Erneut begeisterter Applaus.
Luisa stiegen nun fast die Tränen in die Augen vor Freude. Aber es kribbelte sie auch – welches Geheimnis verbarg sich hinter der Trennwand, was sie so verunsicherte? Mein Gott, dieser Kerl war einfach herrlich! Denn Leo hatte von ihr wegen seiner angeblichen Allergie verlangt, ihre Minou wegzugeben, als sie zusammenzogen. Das war wahrscheinlich sogar der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. Luisa schwebte wie auf Wolken, die beiden anderen Kandidaten nahm sie kaum noch wahr, sie gaben nur mittelmäßig originelle oder lustig gemeinte Antworten, die in ihr nicht diese Bezauberung auslösten wie Kandidat 1.
Es erklang die Schlussmusik. Susis Stimme aus dem Off fasste zusammen: “Nun, liebe Luisa, wer soll denn nun Ihr Herzblatt sein – Kandidat 1, der seebegeisterte Genießer, der auf Sie keineswegs allergisch reagiert und Sie zum Franzosen entführt mit Champagner, oder Kandidat Nummero 2, der bodenständige....“. Wieder hörte Luisa nicht mehr zu. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Sie konnte kaum noch den Schlusssatz des Moderators erwarten.
„Ich nehme Kandidat 1“, rief sie unüberhörbar ins Publikum, wenn ihre Stimme auch ein wenig zitterte.
Zuerst traten nun die beiden anderen Kandidaten auf Luisas Seite der Trennwand, und verabschiedeten sich. Gott sei Dank, sie hatte keinen von den beiden ausgewählt – der eine war ein muskelbepackter Sonnenstudiogebräunter mit kahlgeschorenem Schädel und Piercing, der andere ein langer, schlaksiger Hungerhaken mit langen Ponysträhnen, Brille und Schnauzbart.
Nun kam der Tusch. „Hier ist Ihr Herzblatt!“ jubelte der Moderator, und Stück für Stück wurde die Trennwand zurückgefahren. Luisa schloss die Augen. Als sie sie öffnete, blieb ihr der Atem weg: da stand, unverkennbar mit seinem jungenhaften Lächeln, den dunklen Locken und der kräftigen Statur LEO vor ihr! Zögernd trat sie auf ihn zu. Er ebenfalls, legte nun sanft einen Arm um ihre Schultern und küsste sie ganz zart auf beide Wangen. „Ick war so dumm, ick hab es jetzt bejriffen“, flüsterte er ihr ins Ohr, dieses Mal wieder mit seinem vertrauten Berliner Akzent. „Du hast mir so jefehlt.“ „Du mir auch, flüsterte sie.“
„Na, das ist ja ein tolles Paar, sie kennen sich erst seit einer halben Stunde und schon haben sie Geheimnisse miteinander,“ meinte der Moderator schelmisch ans applaudierende Publikum gewandt. „ Das ist ja richtig romantisch, und so wird auch Ihre Herzblattreise sein:
mit dem Herzblatt-Hubschrauber über die französischen Alpen nach Nizza und Monaco, wo wir ein Hotel am Strand und ein Abendessen in einem Sternerestaurant für Sie reserviert haben“. Da konnten sich Luisa und Leo nicht mehr halten und mussten einfach nur noch lachen – erst wirkte das Publikum irritiert, dann lachte es mit.
„Was ist denn so lustig?“ fragte der Moderator erstaunt.
„Nun“, meinte Leo, „wir haben uns damals schon einmal bei einem Ball bei der Damenwahl kennen jelernt. Dat scheint uns ja Jlück zu bringen.“
Und er und Luisa verbeugten sich und verließen Arm in Arm die Bühne.