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Ihr ganzer Stolz
Ihr ganzer Stolz
Der erste Morgen. Sie schlug die Augen auf, als die Frühlingssonne die linke obere Schlafzimmerecke zum Leuchten brachte. Blicklos sah sie in die gelbe Helligkeit und wunderte sich über das merkwürdige Gefühl der Schwere, das auf ihr lastete.
Sie strich sich das vom Schlaf wirre weiße Haar aus der Stirn und wendete den Kopf ihrem noch schlafenden Mann zu. Als sie das leere, unbenutzt glatte Kopfkissen sah, legte sich das Dunkle, das hinter ihren Augen auf den rechten Moment gewartet hatte, auf sie wie eine schwere Decke. Georg war nicht mehr bei ihr.
Die Beerdigung. Gestern.
Sie hatte sie wie einen Fernsehfilm empfunden, bei dem sie nicht mal eine Statistenrolle bekommen hatte, vielleicht nicht einmal die des erlaubten Zuschauers. Sie hatte sich selbst dabei zugesehen, wie sie erstarrt, mit trockenen Augen, an Georgs Grab stand, während sich der Sarg in das mit Fichtenbrettern ausgekleidete dunkle Erdloch gesenkt hatte. Die in Schwarz gekleideten Menschen mit ihrem Beileid, ihren Umarmungen, ihrem Händeschütteln, alles war an ihr vorübergezogen, als beträfe es nicht sie, irreal und wie mit Weichzeichner verfremdet. War sie wirklich dort gewesen?
Doch, natürlich.
Flüchtig und mit der Gewohnheit einer langen Zeit dachte sie daran aufzustehen, Kaffee aufzubrühen, Frühstückstisch. Die Erkenntnis, dass sie nur eine einzige Tasse, nur für sich allein, hinstellen müsste, fiel wie ein passendes Puzzleteil in ein wirres Gemenge. Jeder Tag würde nun neue dieser Splitter bringen, und am Ende würde sie es begreifen. Dass sie nun allein war.
Fünfundfünfzig Jahre mit Georg.
Sie ließ sich in ihr Bett zurücksinken und versuchte sich darüber klarzuwerden, wie sie fühlte. Zuerst war da nichts als vages Erinnern. Georg war tot. Plötzlicher Herzinfarkt, hatte der Hausarzt ihr bedauernd erklärt. Er hatte Georg kaum gekannt. Georg war selten krank gewesen, vielleicht war alles deshalb so unwirklich für Luise. Natürlich hatten sie beide sich Gedanken gemacht, schließlich waren sie schon lange nicht mehr jung, eigentlich eher richtig alt geworden. Aber so plötzlich hatte sich keiner von ihnen den Tod vorgestellt.
"Von der Seite seiner liebenden Gattin gerissen ...", die Phrase des Pastors drehte sich in Luises Kopf.
Hatte sie Georg geliebt? Oder vermisste sie nur seine schlafende Gestalt neben sich? Trauerte sie oder hatte sie nur Angst vor den einsamen Stunden, die kommen würden? Vor den unwiederbringlich verlorenen Gewohnheiten von über fünfzig gemeinsam verbrachten Jahren?
Liebe ... ja, doch, die war da gewesen. Georg war sogar ihre ganz große Liebe damals. Der Krieg noch nicht lange vorbei, Ruinen in der ganzen Stadt, Menschen, die in Lumpen Trauer trugen – Georg und sie, ihre Liebe, das erschien ihr damals wie die Verkörperung der Hoffnung an sich. Ihr ganzes Herz war ihm zugeflogen, stattlich, gutaussehend, wie er dort am noch immer geschwärzten Tor auf sie gewartet hatte, wenn sie aus dem "Lyzeum für Höhere Töchter" kam, wie altmodisch das klang!
Luise musste lächeln bei dem Gedanken, wie verliebt sie gewesen waren. Wenig später eine bescheidene Hochzeit, kleines Glück, großes Glück.
Diese ersten Jahre ... von Zeit zu Zeit musste Georg geschäftlich verreisen, doch sie hatte die Kinder gehabt, später das große Haus, und war sich ihres Glücks und ihrer Liebe zu Georg so sicher, so darin geborgen gewesen.
Luises Lächeln verschwand, als hätte ein dunkles Tuch über ihr Gesicht gewischt.
Es hatte angefangen mit diesem Brief, dass ihr Glück zu zerbrechen begann wie Glas.
Ein zart getönter Briefumschlag, den die Nachmittagspost gebracht hatte, als Georg gerade mal wieder ein paar Tage geschäftlich nach München aufgebrochen war. Damals wollte Luise das Kuvert gerade wie immer auf den Schreibtisch zu dem Stapel legen, der Georgs eingegangene Post enthielt. Die Sonne stand schon tief am Fenster des "Herrenzimmers", wie sie es nannte, weil sie es aus Respekt vor Georgs Geschäften so gut wie nie betrat. Bunte Sonnenreflexe auf der polierten Schreibtischplatte, die Schattenstreifen wie gemalt. Luise hatte noch einen Blick auf das Adressfeld geworfen, um festzustellen, ob wirklich Georg der Empfänger war. Niemals hätte sie es gewagt, einen seiner Geschäftsbriefe zu öffnen oder auch nur näher zu betrachten, das tat man einfach nicht als bürgerliche Ehefrau.
Bis zu den winzig kleinen Staubpartikeln, die in der etwas abgestandenen Luft im Licht der untergehenden Sonne umhertanzten, sah Luise diese Szene von vor über vierzig Jahren vor sich. Irgendetwas hatte sie zögern lassen, obwohl ihre Hand mit dem Umschlag schon über dem Papierstapel aus Karten, Georgs Zeitungen und grauen Amtspostumschlägen hing, die seine Geschäftspost normalerweise darstellten.
War es der leise Geruch, ja ein Duft, der von dem pastellfarbenen Papier ausgegangen war?
War es die geschwungene Schrift gewesen, eine (... vielleicht weibliche?, flüsterte eine zuvor nie gehörte Stimme in ihrem Kopf) Schrift mit großen Initiallettern? Fast schuldbewusst hatte sie, ganz gegen ihre sonstige Gewohnheit, den Brief herumgedreht, um den Absender (... die Absenderin?, hauchte die Stimme ...) zu ermitteln.
– F. Sundermann, München –
Sie kannte keine Sundermanns in München. Sie kannte überhaupt niemanden in dieser Stadt. Georg war mindestens einmal im Monat ein paar Tage in der bayerischen Hauptstadt, aber mitgenommen hatte er sie nie dorthin. Niemals hätte sie gewagt zu fragen, woraus seine "Geschäfte" dort bestanden, das gehörte sich einfach nicht. Ja, auf den Gedanken, ihn zu fragen, war sie eigentlich nicht mal gekommen. Hatte sie vor seinem "Davon verstehst du sowieso nichts, Luischen!" Angst gehabt oder wollte sie es gar nicht wissen?
Noch heute war sich Luise darüber nicht genau im Klaren.
Sie wusste auch nicht mehr, was sie dazu veranlasst hatte, den Brief damals nicht auf Georgs Poststapel zu legen.
Stattdessen hatte sie ihn in ihrem Nachttisch tief unter die bestickten Taschentücher, das obligatorische Neue Testament und ihr Nähzeug geschoben.
Damit war er aus ihrem Gesichtsfeld verschwunden.
Nichtsdestoweniger war er dort gewesen. Von Zeit zu Zeit, besonders wenn Georg mal wieder auf einer seiner Reisen war, zog sie ihn aus seinem Versteck hervor und betrachtete ihn. Befühlte das schwere Büttenpapier, sog seinen zarten, eindeutig, dessen war sie inzwischen sicher, weiblichen Duft ein. Versuchte sich hinter Schrift und Geruch die Frau vorzustellen, die diesen Brief verfasst hatte. Was mochte hinter "F." stecken? Florence? Franziska? Einfach Fanni?
Doch niemals in all den Jahren war sie dazu fähig gewesen, ihn zu öffnen.
Es war nicht nur die Verletzung des Briefgeheimnisses, dieses unübertretbare Gebot. Es war sicher auch die Furcht vor der endgültigen Gewissheit gewesen. Doch auch ohne diese hatte sich plötzlich ein neuer, dissonanter Ton in ihre Beziehung zu Georg geschlichen. Ein Ton, so unhörbar und hochfrequent wie der, der winzige Craquelè-Sprünge in ungetrübtes Glas graviert.
Und wie durch feinste Risse, die unmerklich einer nach dem anderen entstehen, wurde ihre Liebe brüchig und zerbröckelte in winzige, unauffindbare Stücke.
Fuhr Georg nach München, meldete sich in ihrem Innern diese unwillkommene zweifelnde Stimme, ob er wohl zu ihr, zu "F." fuhr. Wie oft hatte sie den elfenbeinfarbenen schweren Telefonhörer im Herrenzimmer in der Hand gehalten, auf einem kleinen Zettel die Telefonnummer seines Münchner Hotels. Gewählt hatte sie nie. Das brachte sie einfach nicht über sich. War er zu Hause, beobachtete sie ihn sorgfältig durch gesenkte Wimpern. Benahm er sich anders als sonst? War er anders mit den Kindern? Dachte er an "sie", wenn er mit ihr nachts, im Dunkeln, wie sich das gehörte, das Bett teilte?
Es dauerte lange, bis er ihre Kühle überhaupt bemerkte. Wieder ein Indiz? Für seine Untreue? Sein Doppelleben? Inzwischen verbot ihr Stolz und ihre anerzogenen Konventionen jede Frage. Wie hätte sie auch anfangen sollen? Dass sie fähig wäre, einen Brief zu unterschlagen, darauf wäre Georg sicher nicht im Traum gekommen.
Und so war die Zeit vergangen. Das Misstrauen war ihr unsichtbarer Begleiter geworden. Morgens, mittags, abends, all die Jahre hindurch. Nie wieder konnte sie für Georg das fühlen, was sie vor diesem Brief empfunden hatte. Selbst wenn sie sich noch so bemühte, das Grenzenlose, das Unbeschwerte, das Vertrauensvolle hatte sich verflüchtigt. Sie trauerte sehr darum, was hätte sein können, doch mit Georg zu sprechen, vielleicht durchsichtige Ausflüchte hören zu müssen oder gar Gründe für seine Untreue, es wäre eine Demütigung gewesen, die sie nicht ertragen hätte. Sie hatte noch ihren Stolz. Tränen? Sie hätte sich selbst verachtet. Und so meisterte sie jeden Tag aufs Neue allein mit ihren Gefühlen, Woche um Woche, Monat um Monat, Jahr um Jahr. Eine Aura der Bitterkeit begann sie zu umhüllen. Georg merkte davon nicht viel. Die Reserviertheit, die Luise ihm mehr und mehr zeigte, schob er auf mögliche Wechseljahrsbeschwerden, auf die üblichen kleinen Sorgen mit den Kindern, später den Enkeln.
In seiner Welt hatte sich nicht viel verändert, alles zu Hause funktionierte, nur flüchtig überlegte er manchmal, was wohl in Luise vorging. Wohin ihre frühere liebevolle Art entschwunden war. Doch sie hatte ja schon lange ihren eigenen Kopf und um nichts in der Welt wollte er einen von ihren in letzter Zeit so eisigen Blicken auf sich ziehen. Sein Alltag war hart genug. Er hatte sich mit dem Zustand ihrer Ehe abgefunden, ohne sich oder sie je nach dem Warum zu fragen.
Bis zuletzt.
Fröstelnd zog Luise die Bettdecke bis zum Kinn. Die Morgensonne hatte dunklen Regenwolken Platz gemacht und graues Licht sickerte nun zwischen den Gardinen hindurch. Doch plötzlich setzte sie sich im Bett auf. Ihr war ein Gedanke gekommen. Gerade heute, jetzt, war der richtige Augenblick.
Sie wendete sich nach links und zog die Schublade des Nachttischs mit einem Ruck auf. Zuerst die Lesebrille. Um Zeit zu gewinnen, nahm sie ein Taschentuch und putzte sie umständlich, bevor sie sie aufsetzte.
Ihre Hände zitterten, als sie das lavendelfarbene, vom vielen Angreifen mürbe gewordene Papier zwischen ihren Fingerspitzen fühlte und unter einem Buch hervorzog. Mühelos schlitzte ihr Daumennagel die zugeklebte Lasche des Kuverts auf. Luises Herz klopfte, fast hörte sie das Blut in ihren Ohren rauschen. Vorsichtig zog sie den Inhalt heraus. Etwas verschnörkelt Gedrucktes und ein handschriftliches Billett. Das erste schien eine Speisekarte zu sein. Nein, eine Weinkarte.
Und das Handgeschriebene ... Luise erkannte die ausdrucksvolle Schrift aus der Adresse und wappnete sich gegen eine Entdeckung, die ihr Herz, oder das, was davon übrig war, gefrieren lassen würde.
"... möchten wir uns bei Ihnen, lieber Herr Doktor, sehr herzlich in bezug auf unseren neuen Beaujolais empfehlen! Mit hochachtungsvollen Grüßen Ihr Weinkontor Friedrich Sundermann, München"
Luise ließ die Blätter sinken.
Unbeachtet fielen sie auf den polierten Dielenboden vor ihrem Bett. Sie bemerkte, dass ihre Füße ganz kalt waren und zog sie in einer unbewussten Geste wieder unter die Decke. Sie konnte es nicht fassen. Erst nach und nach wurde ihr die volle Bedeutung der Schriftstücke klar. Das erste, was sie fühlte, war grenzenlose Erleichterung. Dann Bedauern. Zuletzt Scham und Wut auf sich selbst. Ein Satz, den eine ihrer Enkelinnen einmal gesagt, und über den sie, die Lebenserfahrene, sich insgeheim sehr geärgert hatte, fiel ihr ein: "Das Leben ist zu kurz für Prinzipien." Vielleicht hatte die junge Frau doch mehr Recht gehabt, als sie je ahnen würde. Für Georg und sie war diese Erkenntnis zu spät gekommen.
Langsam füllten sich Luises alte Augen mit Tränen. Sie weinte endlich um Georg, um das, was gewesen war und das, was hätte sein können. Und die Flut eines halben Lebens nicht geweinter Tränen spülte die Bitterkeit, die Trauer und jeden falschen Stolz an einen unbekannten Strand.
Susafee/ Nov. 03