ihr entgegen
Ihr entgegen . . .
Die Sonne scheint, bringt Licht in die Straßen der Großstadt. Ihre Strahlen tasten sich an den Wänden der Hochhäuser entlang, gleiten an ihnen herunter, bis sie den Boden berühren und jedes winzige Eckchen mit wohliger Wärme überflutet haben.
Ich halte deine Hand. Wir gehören zusammen, unzertrennlich, der Schmerz des Verlustes vereint uns, bringt uns dem Absoluten unserer Seelen Liebe näher, das macht mich glücklich. Ich sage es nicht, spreche nichts von alledem aus, halte deine Hand, sehe in deine Augen. Spürst du unseren Schmerz ?
Es ist ein so wunderschöner Tag, an dem wir nebeneinander her gehen, mitten auf der breiten Straße in der Großstadt. Es fahren Autos, nur wenige, sie tun uns nichts, viele Fußgänger, die uns neidisch beäugen. Denn ich habe dich, du hältst für immer meine Hand, nicht wahr? Deine Anwesenheit ist so schön, so selbstverständlich. Du weißt, dass ich dich jetzt brauche, dass du da sein musst, nicht wahr? Du stehst mir bei.
Ich sehe auf den Boden, sehe unsere Füße, die uns im Gleichschritt auf dem warmen, grauen Beton dahin tragen. Deine Nähe tut so gut. Du siehst mich an, lächelst. Du bist auch glücklich. Plötzlich, dieser Schmerz! Mein Bauch! Ich schreie aus voller Kehle. Was ist das? Es tut so schrecklich weh! Dieser brennend heiße Schmerz! Mein Körper verkrampft sich, Blut rinnt an meinen Oberschenkeln herunter. Nein! Bitte! Nein! Deine Hand ist ganz kalt. Wieso ist sie so kalt? Wieso? Hör auf damit! Ich starre dich an. Ich schreie: “Bleib hier!“ – keine Stimme.“Bleib hier! Wieso ist deine Hand so kalt? Sieh mich an!“ Doch du hörst mich nicht. Du lässt mich los, schweigst, gehst weg. Keine Menschen mehr, keine Autos mehr, keine Sonne. Du verschwin- dest in eine dunkle Gasse. Bleib hier!
Plötzlich bin ich nackt. Pechschwarze Wolken haben sich wie kolossale Giganten vor die Sonne geschoben. Das Blut ist getrocknet, klebt an meinen Beinen. Mir ist kalt. Je weiter ich laufe, desto dunkler wird es. Ich habe Angst so allein. Warum drehe ich nicht um? Ich will mich nicht wehren, ich bin erschöpft. Mein Weg scheint bestimmt. Ich laufe geradeaus, immer weiter, immer dunkler. Ich werde nass. Es regnet nicht, aber meine blass- weiße Haut ist nass, so nass. Blau treten meine Adern darunter hervor, meine Lippen laufen violett an, dunkle Augenringe zeichnen sich ab. Meine Haare hängen lustlos in Strähnen, kleben an meinem Nacken. Mir ist kalt, es wird immer dunkler. Keine Hochhäuser mehr, keine Betonstraße und keine Grünstreifen mehr. Ich sehe nach oben: kein Himmel, nur Dunkelheit. Ich sehe nach unten: kein Boden, nur Abgrund. Ich atme nicht, keine Luft, in meinem Kopf: Vakuum.
Ich sehe das Kind, runzliges, winziges Wesen. Jetzt ist es wieder weg. Ich höre es schreien, wie es geschrien hätte.
Ich bin nass, meine Haut ist ganz weich, laufe weiter, der Schwärze ent-gegen; bin bereit in ihr aufzugehen. Dort ist das Kind! Ich renne los. Kleines, faltiges Geschöpf! Ich stürze vor ihm nieder, will es fassen, da zerbricht es in meinen Händen wie kostbares Porzellan, weg! Die hässlich verzerrte Fratze, der verkrüppelte, zu klein geratene Körper. Weg! Nein! NEIN ! NE—IN !!
Ich richte mich auf und gehe der Dunkelheit entgegen,dem absoluten Nichts.
Matt hängen meine weißen Brüste am feuchtkalten Körper, der von innen her verfault, jeder Sanftheit und Güte beraubt.
Ich laufe weiter, bereit in ihr aufzugehen . . .