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Ihr Abbild

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03.05.2002
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Ihr Abbild

An einem Ort, an dem es zu dieser Zeit fast immer still war und wo normalerweise keine Menschen, Tiere oder auch nur Maschinen vorbeikamen, spielte ein kleiner Junge auf einem rostigen Metallsteg an dem vor Urzeiten einmal Schiffe angelegt haben mochten. Irgendwann bemerkte er ein geheimnisvolles Glitzern ganz am Ende des Stegs. Noch nie zuvor hatte er es gesehen. Das Kind lief schnell auf es zu, stockte dann aber, als der Steg immer verfallener wurde und unter seinen Schritten zu schwanken begann. So weit hinaus hatte es sich noch nie gewagt, aber das Glitzern hatte seine Neugier geweckt. Vorsichtig ging es weiter, am Ende schlich es, und obwohl ihn das Quietschen und Knirschen etwas Angst machte, näherte der Junge sich dem Objekt. Es war ein kleines Stück Papier, sieben mal zwölf Zentimeter groß, und es leuchtete in der roten Abendsonne. Der Wind hatte es dorthin getragen, und säurehaltiger Regen und trockener Sand hatten seine Oberfläche angegriffen, aber genug übrig gelassen, um das Kind erkennen zu lassen, dass es das uralte Foto eines anderen Menschen war. Es war in schwarzweiß aufgenommen und zeigte eine junge Frau mit schulterlangen schwarzen Haaren und blasser Haut. Trotz großer melancholisch blickender Augen glaubte er ein schwaches Lächeln zu erkennen. Der Junge fand sie hübsch.

In der Ferne donnerte es. Der Junge blickte zum Himmel, der sich zusehends verdunkelte. Er steckte das Foto in eine Jackentasche und ging zu seinem Spielplatz zurück. Es begann zu regnen, einzelne Tropfen trafen sein Gesicht. Schnell verließ er den Steg, ehe das nahende Gewitter ihn in Gefahr bringen konnte.

--

Wieder einmal war es ein verregneter Tag, obwohl seit ein paar Stunden die Sonne zu sehen war. Seit seiner Geburt hatte Karel sie nur selten zu Gesicht bekommen, und auch dann nur für kurze Augenblicke, wenn durch irgendeinen Zufall in der Atmosphäre die Wolken einmal verschwanden und die Strahlen durchließen. Das Glück früherer Generationen, ganze Tage und Wochen oder gar Monate in der Wärme und ihm Licht der Sonne verbringen zu können, hatte er nie kennen gelernt. Die Schatten und Lichtspiele, die an solch besonderen Tagen von den hohen Beton- und Eisenbauten mit ihren Glasflächen erzeugt wurden, waren für Karel Ausdruck größter Schönheit in einer dunklen zerstörten Welt, und er versuchte fast krampfhaft, die Erinnerung daran zu bewahren.

Ungefähr alle sechzig Tage, am ersten Mittwoch des Monats, fand auf einem freien erhöhten Platz im Zentrum der Stadt, dem Forum, ein Theaterstück statt, ein Ereignis, zu dem fast alle der hier lebenden Menschen strömten. Trotz ihrer schlechten Lebenssituation konnten sie nicht auf Kultur und Unterhaltung verzichten. Die Leute brauchten Entspannung vom täglichen Überlebenskampf, und obwohl es stets sehr schlichte Aufführungen waren, zumindest was die Technik betraf, wollte diese Tradition niemand abschaffen.

Eine breite Straße führte zum Forum. Sie war gesäumt von ionischen Säulen, Überbleibsel aus der Hochzeit der Stadt, als man versucht hatte, an die positiven Errungenschaften noch früherer Zeiten anzuknüpfen. Doch die Säulen waren angegriffen, und vor allem hatten sie nichts mehr, was sie tragen konnten. Hier musste einmal ein breites Gebäude gestanden haben, doch davon war nichts mehr übrig.

Hinter den Säulen liefen rostige Schienen entlang. Vor nicht allzu langer Zeit war hier noch ein einzelner Zug entlang gefahren, doch vor ein paar Jahren war ein wichtiges Teil an ihm ausgefallen, und die Menschen hatten keine Möglichkeit gefunden, es zu ersetzen.
Jedes Mal, wenn Karel diesen Weg entlang ging, überkam ihn ein seltsames Gefühl. Es war ein Schaudern, es war Ehrfurcht vor der Vergangenheit, vor dem unbekannten, das hier einst stattgefunden hatte und durch Nachlässigkeit oder Angst vergessen worden war.

Eine silberne Katze mit unregelmäßigen weißen Streifen saß auf dem Kapitell einer umgestürzten Säule und sah Karel in die Augen. Er blickte zurück und lächelte. Das Tier miaute und rollte sich dann zum Schlafen zusammen.

Im Forum waren so viele Leute zusammen gekommen wie nirgendwo sonst. Sie saßen oder standen herum, unterhielten sich und warteten auf den Beginn des Stückes. Niemand wusste, was heute aufgeführt werden sollte; wie immer stellte das Stück eine Überraschung dar. Manchmal waren die Leute hinterher begeistert, manchmal waren die Kritiker lauter als diejenigen, denen es gefallen hatte, aber immer hatte man Achtung vor der Aufführung und Respekt vor den Versuchen der Schauspieler, den Leuten Freude zu bringen. Trotz der Umstände hatten die Menschen sich die in der Vergangenheit mühsam erworbene Toleranz und Vernunft bewahrt.

Ein in eine weiße Robe gekleideter Mann schlug einen Gong. Die Menschen kamen zur Ruhe, die Stehenden setzten sich auf den Boden oder verwendeten umgekippte Steinpfeiler als Sitzbänke. Es wurde still und die Schauspieler traten durch eine schmale Gasse in die Mitte des Forums. Als die Leute applaudierten, verneigten sie sich kurz, und nachdem der Beifall verebbt war, begannen sie zu spielen.

Es war ein Stück von Unterdrückung und Auflehnung. In einer zunächst utopisch erscheinenden Gesellschaft, in der jeder genug zu Essen hatte, in der sich die Arbeit von selbst erledigte und in der die Menschen den ganzen Tag mit Spielen, Theater und Liebe beschäftigt waren, fand eine einzelne Frau, die ihren Bruder suchte, heraus, dass es unter der Erde, in alten Bergwerksstollen, eine Klasse von Dienern gab, die sich um die Belange der über der Erde lebenden kümmerten. Sie glaubten, es wäre ihre Pflicht, denn die Sklavenhalter hatten über lange Zeit eine Religion gesät, in der sie im doppelten Sinn als überirdisch angesehen wurden.

"Es gibt einen Ort, dort leben sie. Und sie sagen euch, haltet euch an eure Gebote, dann werdet auch ihr zu dem Ort kommen, der da über euch liegt. Über diesen dunklen Wänden, unter freiem Himmel. Ihr werdet nicht länger hungern, und eure Kinder werden keine Krankheit mehr kennen."

So stand es in den "alten" Texten, und die Frau, die angesichts der Zustände und überhaupt der Tatsache, dass es so etwas wie Sklaven gab, entsetzt war, beschloss, etwas zu ändern. Sie las die Texte der Sklaven genauer und machte sich zu der darin dummerweise angekündigten Prophetin und brachte die Sklaven dazu, sich gegen ihre Herren aufzulehnen.

Dieses Stück, nach zwei Stunden war es mit glücklichem Ausgang vorbei, umfasste insoweit eine ganz typische Ausgangssituation und Handlung. Und obwohl es in Karels Welt keine Sklaven gab, waren viele andere Missstände vorhanden, vor allem materieller Art. Das war sowieso das paradoxe. Die Menschen waren von Armut und Krankheit verfolgt, aber trotzdem befand sich ihre Kultur immer noch in ihrer Blütezeit. Sie äußerte sich in Schriften, Liedern oder eben Theaterstücken, aber nicht in Bauwerken oder Denkmälern. Im Gegensatz zu den Staaten der Frühzeit war es den Menschen möglich, mit wenig zu überleben. Früher hatte es viel gegeben und jeder hätte überleben können, wenn alle damit einverstanden gewesen wären, dass der Reichtum geteilt wird.

Als Karel sich auf den Weg nach Hause machte, kam er an einer Straße vorbei, die ihm vorher nie besonders ins Auge gestochen war, sah sie doch aus wie alle anderen Straßen seiner Stadt. Doch heute brachte ihn irgendetwas dazu, anzuhalten und einige Schritte in die Straße hineinzugehen. Er verspürte den Wunsch, einen Umweg machen, spazieren zu gehen, und dabei über das Theaterstück nachdenken.

Hier gab es keine Menschen, er war ganz allein. Nach einer Weile endete die Gasse in einer T-Kreuzung, und in dreißig, vierzig Metern Entfernung war das Meer zu sehen. Nach links und rechts breitete sich ein Hafenanlieger aus. Alte Container mit den Logos längst untergegangener Firmen und metallene oder hölzerne Stege, die auf das Wasser führten, waren die einzigen Objekte.

Auf einmal begann es wieder zu regnen. Die Sonne wurde von grauen Gewitterwolken verdeckt. Über dem Ozean donnerte es, erst leise, aber schnell würde es lauter werden, zu einem ohrenbetäubenden Krachen. Die Gewitter hier waren immer sehr kurz und sehr heftig.
Karel wandte sich um und wollte wieder in Richtung Hauptstraße gehen, als er auf einem der Stege eine Bewegung wahrnahm. Er hielt inne und fragte sich, wer das sein könnte. Die Person war klein und schien zu rennen.

"Ein Kind?" fragte er sich leise. "Was machst du hier?"
Karel stand eine Weile da und beobachtete es. Anscheinend wollte es den Steg verlassen, bevor das Gewitter hierher kam. Doch plötzlich konnte Karel es nicht mehr sehen. Dafür glaubte er, einen leisen Schrei zu hören.
'Was? Ist da was passiert?'
Karel wandte sich zum Steg und lief schnell vorwärts. Und ja, es war etwas passiert. Das Kind war über eine Lücke in den Gitterrosten gestolpert und gefallen. Mit dem Fuß hatte es sich in der Lücke verkantet und kam nicht mehr heraus.
Karel wurde langsamer und ging auf das Kind zu. Er lächelte. Das Kind sah ihn an.
"Ich bin hingefallen... ich komm hier nicht mehr raus!" sagte es.
"Keine Angst, ich helfe dir."
Er kniete sich hin und zog den Fuß vorsichtig heraus.
"Wie heißt du?"
"Alex. Und ich muss jetzt nach Hause. Das Wetter wird schlechter. Du solltest auch gehen!"
Das Kind schaute für sein Alter viel zu ernsthaft drein. Es lief schon wieder los, blieb nach ein paar Metern aber stehen und blickte sich um.
"Komm her, Karel! Ich habe was für dich. Dafür, dass du mir geholfen hast."
Alex griff in eine Jackentasche und zog ein Stück Papier hervor. Dann rannte er davon.
Karel sah sich das Papier an. Es war ein Foto. Und als er es betrachtete, kam ihm eine Erkenntnis, die ihn zusammenzucken ließ. Aus Überraschung, aus Erschrecken. Ein klein wenig aus Freude. Und vor allem aus Ungläubigkeit.
"Alissa..."
Das Foto, die Person auf dem Bild, stellte seine Verlobte dar, die er seit drei Jahren für tot gehalten hatte. Und nichts sprach dagegen, dass sie es nicht war. Dennoch... ein Bild von ihr zu finden, an diesem Tag, an diesem Ort, ganz unerwartet... Als ob seine Entscheidung, die Seitenstraße entlangzugehen, doch nicht vom Zufall oder einer Laune bestimmt worden war... Alle anderen Bilder Alissas, ob nun die wenigen gezeichneten oder das eine, das sie einmal anlässlich der Verlobung fotografieren haben lassen, waren bei einem Brand vernichtet worden. Das Bild, das der Junge ihm geschenkt hatte, stellte also die einzige greifbare Erinnerung dar.

Noch viele Minuten sah er in das Gesicht, das in seinen Erinnerungen schon zu verblassen begonnen hatte. Doch schließlich seufzte er, runzelte die Stirn und steckte das Foto ein. Dann setzte seinen Weg nach Hause fort.

In dieser Nacht träumte er von ihr. Er träumte von ihrer ersten Begegnung vor sieben Jahren. Es war bei einer der Theateraufführungen gewesen. Sie saßen nebeneinander, es war ein lustiges Stück, eine Komödie, und Karel und Alissa unterhielten sich hinterher über seine Qualität. Dann begannen sie ein wenig zu philosophieren. Über viele Dinge. Den Staat, seinen Aufbau, seine Struktur. Die Art, wie die Regierung ihn führte und versuchte, den Menschen so viele Freiheiten wie möglich zu geben und gleichzeitig dafür zu sorgen, für alle genügend Nahrung, akzeptablen Wohnraum und allgemeinen Lebensstandard zu sichern - was in Notsituationen ja eher zu Einschränkungen für den einzelnen führt.
Sie waren in ein Café gegangen. Musik hatte gespielt, sie hatten getanzt. Dann hatten sie den Abend beendet und waren nach Hause gegangen. Aber es war nicht das einzige Treffen geblieben. Ihre Sympathie wurde zu Freundschaft und die irgendwann zu Liebe.
Nach einigen Jahren beschlossen sie, zu heiraten. Doch es kam nur zur Verlobung. Wenige Monate danach war Karel gerade damit beschäftigt gewesen, den Bauern in den Gewächshäusern der Stadt Kartoffeln und Getreide ernten zu helfen, als ein Feuer ausbrach, das viele Gebäude bis auf die Grundmauern nieder brannte. So etwas kam häufig vor und wurde durch Blitzeinschläge ausgelöst. Alissa hatte geschlafen. Bevor die Feuerwehr sie herausholen konnte, war sie erstickt.
Karel träumte von den Flammen, die er nie gesehen hatte. Er träumte, wie er sie hätte retten können, wäre er zugegen gewesen. Er träumte auch von ihrer weichen Haut, die sich in der Nacht an seine schmiegte. Er träumte von Lachen und von Weinen. Er träumte davon, dass sie wieder da wäre, dass sie das Bild für ihn als Hinweis platziert hatte, ihn zu finden. Es war ein schöner Traum, ein Alptraum und dann wieder wundervoll.

Am Morgen des nächsten Tages war Karel damit beschäftigt gewesen, Kindern die Grundlagen von Mathematik zu erklären. Jetzt, am Nachmittag, hatte er frei und die Traurigkeit, mit der er aus den Träumen erwacht war, packte ihn mit ihrer ganzen Kraft. Sie war fast noch stärker als direkt nach Alissas Tod. Mit einem Mal hatte ihn das Bild aus seinem geregelten Leben gerissen, aus seiner Sicherheit und seinem relativen Glück, um ihn in einen Abgrund zu werfen, auf dessen Grund ihn Leere erwartete.

Er vermisste sie. Mit den Stunden kamen ihm immer mehr schöne und auch weniger schöne Erlebnisse mit ihr in den Sinn, und auch für die letzteren würde er alles geben, um sie erneut erleben zu können.
Er blickte aus dem Fenster herunter auf die Straße, und wieder regnete es. Er hatte plötzlich das Bedürfnis, hinaus und irgendwohin zu gehen, nass zu werden und nachzudenken.
"Die Tränen der Engel... der Himmel weint...' dachte er. Und gleich darauf, als ihm sein Gedanke klar wurde, sagte er leise:
"Was sind wir heute wieder pathetisch, Karel..."
Trotzdem kam er seinem Wunsch nach. Er nahm seinen CDC.

Der "Crystal Data Cube" war ein kleines würfelförmiges Gerät, das zum Abspielen von Datenkristallen (DC) verwendet wurde. Nach der Katastrophe gab es noch einige tausend intakte CDCs, die von ihren Besitzern der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt wurden. Heute konnte sich jeder einen CDC für einen Monat ausleihen, obwohl die Zahl der funktionstüchtigen Geräte auf nur noch 450 geschrumpft und zu befürchten war, dass diese Form der Weiterbildung und Unterhaltung bald nicht mehr zur Verfügung stehen würde, weil niemand in der Lage war, die CDCs zu reparieren.

Karel legte einen DC ein, hoffte, dass die Solarzellen genug Strom liefern würden und trat vor die Tür. Er schmeckte und roch das Wasser und beschloss, zum Hafen zu gehen, zu dem Anlegesteg, an dem er gestern den Jungen getroffen hatte.

Niemand wusste, wann und von wem dieses bei fast allen Einwohnern der Stadt beliebte Lied aufgenommen wurde. Es musste einmal auf frühere Datenträger gespeichert und irgendwann auf einen DC überspielt worden sein. Karel war froh darüber. So hatten die Menschen ihre Musik nicht verloren.
"See the storms broken in the middle of the night..." flüsterte es aus dem CDC. "The sky turns black - the sky..."
Langsam setzte Karel einen Schritt vor den anderen. Das Rauschen des Wassers und die Klavier- und Gitarrenklänge, die ihn aus Implantaten hinter seinem Ohr erreichten, versetzten ihn in eine leichte Trance, machten ihn noch trauriger, als er es schon war.
"Hear the rain fall... see the wind come to my eyes..."
Als er wieder an den Säulen vorbeikam, setzten Streichinstrumente zu spielen ein. Karel blieb stehen, hob den Kopf zum Himmel empor. Die Wolken schimmerten goldrot. Er fühlte sich, als würde er gleich zu heulen beginnen.
"Speak to me, baby - in the middle of the night..."
"Ja... rede mit mir... wo bist du nur, Alissa...?'
Er senkte den Kopf wieder, sah über seine Schulter. Dann ging er weiter. Bei "There's nothing left here for me..." hatte er das Hafenbecken erreicht. Das Wasser schlug dagegen. Gischt spritzte hoch.
"And then I die..."
Das Lied neigte sich seinem Ende entgegen. Karel setzte sich auf den Rand des Beckens und ließ die Beine nach unten hängen.

Ein anderes Lied begann, und es war nicht weniger deprimierend als das erste. Karel zog das Bild aus der Tasche und schaute Alissa in ihre schönen Augen. Sein Zeigefinger strich über ihre fotografierten Wangen.
Ihm war kalt. Der Herbstabend begann. Es wurde dunkler. Bald hatten die Solarzellen nicht mehr genug Kraft. Stille setzte ein und ließ Karel mit seinem Schmerz allein. Und endlich brachen sich seine Tränen ihren Weg nach draußen.

"Hey. Du solltest nicht hier sein." hörte er auf einmal eine Kinderstimme neben sich. Es war der Junge von gestern.
"Alex, richtig?" fragte er leise und hoffte, dass seine Stimme nicht zu sehr zitterte und das Kind sein Gesicht nicht genau erkennen konnte. Seine nach außen gekehrte Trauer war ihm peinlich.
"Ja, so heiße ich..."
"Du solltest nicht hier sein. Sondern längst im Bett. Wissen deine Eltern, wo du bist?"
Alex ging nicht auf seine Frage ein. Statt dessen stellte er eine andere.
"Bin ich schuld?"
Karel verstand nicht.
"Was, woran Schuld?"
"Daran, wie du dich jetzt fühlst. Hätte ich dir das Bild vorenthalten sollen?"
Karel antwortete nicht gleich. Er überlegte, und wieder kam ihm die Ernsthaftigkeit des Kindes fremd vor.
"Du redest nicht wie jemand deines Alters. Hätte ich dir das Bild vorenthalten sollen? Warum sprichst du so gestelzt? Solltest du nicht irgendwas sagen wie... Nein, warte! Du solltest überhaupt nichts in dieser Richtung von dir geben. Du solltest naiv sein, dich höchstens freuen oder ärgern, dass wir uns schon wieder hier treffen. So tiefsinniges Nachdenken erwarte ich von keinem Kind..."
Dann fiel ihm noch etwas ein.
"Aber... woher weißt du, dass das Bild diese Erinnerungen geweckt hat, die mich jetzt so... quälen?"
Alex setzte sich neben Karel und baumelte ebenfalls mit den Beinen.
"Du hältst es in der Hand. Du weinst."
"Was..." Er hatte sein Gesicht gesehen.
"Das ist doch Hinweis genug..."
Alex gab sich ganz unschuldig, aber Karel hatte den Eindruck, das Kind wusste mehr, als es zugeben wollte. Oder war mehr.
"Wo wohnst du, Alex?" wollte er wissen.
"Wo wohnst du, Karel?" fragte Alex zurück.
Da fiel Karel etwas auf, das er bei ihrer letzten Begegnung gar nicht bewusst mitbekommen hatte. Das Kind kannte seinen Namen, obwohl er ihm den nie gesagt hatte.
"Woher weißt du überhaupt, wie ich heiße?"
"Wollen wir uns weiterhin nur Fragen stellen, oder möchten wir uns auch mal Antworten geben?"
Karel seufzte. Schon wieder so ein erwachsener Spruch. Dann sagte er:
"Ich wohne dort hinten. Siehst du den alten Turm, dort, zwischen den Hochhäusern? Daneben liegt meine Wohnung. Und jetzt du!"
"Ich komme nicht von hier. Ich bin bloß zu Besuch, um etwas zu erledigen."
"Du allein?"
Alex stand auf und sah Karel lächelnd an.
"Mach's gut, Karel. Ich muss jetzt gehen." sagte er, dann rannte er genau wie gestern fort. Er hielt wieder auf den Metallsteg zu, und Karel rief ihm nach, bei dem Wetter wäre das Spielen dort viel zu gefährlich, aber Alex hörte nicht auf ihn.
Karel neigte den Kopf, schüttelte ihn verständnislos. Und sah dann wieder auf. Alex war verschwunden. Irgendetwas sagte Karel, dass er nicht verunglückt war sondern einfach nicht mehr da.

Der Regen hatte aufgehört. Die Wolken lichteten sich. Glitzernde Punkte am Himmel. Die Sterne waren zu sehen... ein Anblick noch seltener als die Sonne am Tage. Karel spürte, wie eine eigenartige Kraft in ihm aufstieg. Seine Tränen waren schon vor vielen Minuten versiegt, das entsprechende Gefühl wurde jetzt ebenfalls schwächer. Er ging nach Hause, und auf seinem Weg sah er mehrere Menschen, die sich am Anblick des Himmels erfreuten. Manche der Kinder sahen ihn so zum ersten Mal. Karel war froh darüber, dass ungeachtet aller Ereignisse auf der Erde, so wichtig sie für die Menschen auch erscheinen mochten, es bestimmte Dinge gab, die auch nach ihnen allen weiterbestehen würden. Die Sterne waren schon immer da gewesen. Heute sah man sie kaum noch - aber sie waren da. Insofern hatte sich gar nicht so viel geändert.
Seine Lippen formten ein Lächeln. Er sah ein letztes Mal nach oben, dann ging er in sein Haus, betrat seine Wohnung. Er stellte das Foto aufs Fensterbrett, damit Alissa die Sterne ebenfalls genießen konnte, dann öffnete er das Fenster und legte sich schlafen.

Als Karel am nächsten Morgen zum Fensterbrett schaute, war das Bild verschwunden. Er wusste nicht, wie das geschehen war, vielleicht durch den Wind, der es fortgeweht hatte, aber er wusste, dass es so richtig war.
Am Himmel hingen wieder Wolken. Doch jetzt brachten sie Karel nicht zum Weinen.
"Irgendwo dahinter steckst du. Und wir sehen uns wieder." flüsterte er ihnen zu.

 

Hallo Mario,

deine Geschichte ist eine der eher leisen Töne. Du hast sie sprachlich gut verpackt und mir ein angenehmes Lesen beschert. Und ich hab sie gerne gelesen.

Ganz verstanden habe ich die Geschichte allerdings nicht.

Mir ist nicht ganz klar, wer Alex ist. Auf die Fragen, die Karel ihm stellt, und die unbeantwortet bleiben, hätte ich auch gerne ein paar Antworten.

Ich denke, dass Alex Karel das Bild gibt, weil er ihm was Gutes tun will ("einzig greifbare Erinnerung"). Wieso er aber das Bild hat, war mir nicht klar.

Insgesamt denke ich, dass es in deiner Geschichte auch um Hoffnung geht, die verloren war und wieder zurückkehrt bzw. zurückgebracht wird. Aber so ganz kann ich das Puzzle nicht zusammensetzen. Vielleicht könntest du noch ein paar Hinweise in deine Geschichte einbauen (möglicherweise hab ich auch ein paar wichtige Hinweise überlesen?).

Zwei Anmerkungen noch:

Das Kind lief schnell auf es zu, stockte dann aber, als der Steg immer verfallener wurde
Ich weiß zwar, was du meinst, aber ich finde die Formulierung nicht ganz geglückt. Der Steg verfällt ja nicht während des Laufens, sondern er ist in immer schlechterem Zustand, je weiter es nach draußen geht.

und die Frau, die angesichts der Zustände und überhaupt der Tatsache
Das "überhaupt" würde ich streichen. Wenn du die "Tatsache" betonen oder hervorheben willst, könnte man das vielleicht anders formulieren.

Vielleicht sind meine Anregungen hilfreich für dich.

Viele Grüße

Christian

 

Hallo Christian,

danke fürs Lesen dieser m.E. recht langen und evt. ermüdenden Geschichte (wie ich erst befürchtet hatte.) Ebenso hatte ich befürchtet, dass sie als kitschig bezeichnet wird, daher ist deine Kritik recht angenehm für meine geschundene Seele... Äh...

Manche Leute (die die Geschichte im "Real Life" und nicht bei KG.DE) gelesen haben, halten Alex für eine Art Engel oder gar für Alissa selbst. Du hast keine Hinweise überlesen. Ich lasse manche Dinge gerne offen, und wenn ich erklären würde, wer Alex ist, würde das glaube ich den Zauber etwas wegnehmen...

Deine sprachlichen Anmerkungen finde ichnachvollziehbar und werde sie, sobald ich mehr Zeit habe, einbauen.

Gruß,
Mario

 

hallo mario d.,
an sich gefällt mir das thema deiner geschichte. die atmosphäre ist sehr eindrucksvoll beschrieben. das szenario kann der leser sich gut vorstellen, da du viele nebeneindrücke beschreibst, die nicht direkt zur handlung gehören...

leider ist die sprache, so meine ich, zu intellektuell bestückt - ein wenig zu konstruiert. mir fehlt mehr sprachliche eigenständigkeit. (tz tz tz, diese germanisten... :-) aber ich war ja auch mal einer in r.)

also mehr charakter im sprechen! ansonsten hast du die fähigkeit, den leser in den strudel deiner erzählten welt hineinzuziehen! weiter so!

gruss,
nikto

 

Welch interessanter Zufall... Übrigens, "Ihr Abbild" hab ich geschrieben, da war ich noch kein Student. Da war ich grad bei der glorreichen Bundeswehr. *fg*

cu
Mario

 

ich habe auf deiner internetsite nachgeschaut...
und musste schmunzeln.

gruss,
nikto

 

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