Igel und Hase
Igel und Hase
Sie schaute mir direkt in die Augen. Endlich. Auf diesen Moment hatte ich nun mindestens vier Stunden hingearbeitet. Es war kurz vor neun, und der Leiter des Verkehrskundekurses machte keine Anstalten den letzten Teil der neuen “3-Phasen-Ausbildung“ in die Zielgerade zu lenken. Aber ihr Blick liess mich sämtliche Bremswege für sicheres Fahrverhalten vergessen. Ich hatte schon den ganzen Kurstag versucht Blickkontakt mit dem wunderschönen Wesen mit dem Namenstäfelchen “Andrea“ aufzunehmen. Und nun, als ich die Hoffnung schon fast aufgegeben hatte, war sie doch noch auf mein Spielchen eingegangen. Wir sahen uns sicher fünf Sekunden einfach so an. Phase 1 in meinem persönlichen Projekt war damit abgeschlossen. Mein Herz klopfte Phase 2 ein.
“So, das wäre es von meiner Seite gewesen. Zum Schluss erhalten Sie noch ein Zertifikat. Damit sind sie offiziell zur praktischen Autoprüfung zugelassen. Herr Hasler, könnten Sie bitte nochmals die wichtigsten drei Punkte des letzten Abends zusammenfassen?“ “Klar“, antwortete ich auf die Frage des Fahrlehrers „wenn man so schnell fährt, dass man das Temposchild nicht mehr lesen kann, hat man auch die praktische Prüfung schneller im Sack.“ Lacher und “Geile Siech“-Rufe aus der 3er-BMW-Fraktion neben mir. Auch Andrea lächelte. Aber mehr aus Anstand. Lustige Sprüche auf Kommando waren noch nie meine Stärke.
Beim Rausgehen machte ich mich auf Andrea’s Fersen. Sie ging in forschen Schritten auf die Tramstation zu. Ich musste fast schon Joggen, um sie einzuholen. Eigentlich hätte ich den ganze Tag lang Zeit gehabt um mir einen guten Einstiegssatz auszudenken. Aber mehr als ein “Und, auch froh, dass das Ganze vorbei ist?“ brachte ich nicht über meine Lippen. Sie drehte sich zu mir um und fragte nur ob ich auch auf die Drei müsse. “Ja natürlich...die Drei“, antwortete ich und stieg mit ihr ein. “Wo musst du hin?“ “Ans Igeltreff.“ Ich musste lachen. “Da gibt’s nichts zu lachen.“ Ihre feinen Gesichteszüge verzogen sich zu einer ernsten Miene. Ihre braunen Rehaugen schauten mich angriffslustig an. Immerhin wusste ich jetzt schon mal, wie Andrea nach Phase 3, in einem Beziehungsstreit aussehen würde. Noch heisser.
Als Abkühlung folgte ein Vortrag über die Bedrohung der Igelpopulation in der Schweiz. Während wir dicht nebeneinander immer weiter Weg von meinem eigentlichen Ziel rollten, erfuhr ich so allerhand über die stacheligen Viecher. Zum Beispiel, dass der Igel zu den ältesten Säugetieren auf unserem Planeten gehört, wenn wir so weitermachen, sich das aber ganz schnell ändern kann. Besonders gross sei die Gefahr am Schweizer Nationalfeiertag. “Igel suchen nämlich besonders gerne in Holzhaufen Unterschlupf. Und sobald wir diese Holzhaufen am 1. August anzünden sterben die Igel an einem schrecklichen Feuertod. Deshalb muss man die Haufen einzäunen, und zwar igelsicher.“ Bei der Hagnauerstrasse musste Andrea aussteigen. Ich demzufolge auch. “Willst du mir helfen morgen Abend Präventions-Plakate aufzuhängen?“, fragte sie mich während wir aus dem Tram ausstiegen. Jetzt hatte ich das Zepter völlig aus der Hand gegeben. Nicht ich entschied wann Phase 3 eingeläutet wurde sondern Andrea. Aber das war ich mir ja gewohnt.
Am nächsten Abend trafen wir uns am Stützpunkt von Pro Igel. Andrea trug ein weisses, hautenges Top und sehr kurze, dunkelblaue Shorts. Ihre Haare waren mit einem Haargummi nach hinten gebunden. Es fehlte eigentlich nur noch der Lehrer, der mit der Trillerpfeife zur Turnstunde blies. Ich hatte für ein Mal auf den Rat meines Kumpels verzichtet, und mir keine Igelfrisur gemacht. Andrea reichte mir zur Begrüssung einen Stapel mit Plakaten. “Todesfeier. Damit der 1. August nicht zum letzten für die Igel wird“ stand in gelben Lettern auf schwarzem Hintergrund, darunter eine Fotomontage von einem brennenden Igel im Holzhaufen und Anweisungen zum Schutz der Kleintiere am Nationalfeiertag. “Ich würde sagen wir legen gleich los. Es gibt noch viele Säulen zu bestacheln“, sagte sie mit einem Lächeln im Gesicht, das den Stolz über ihren eigenen Wortwitz nicht verbergen konnte. Ich lächelte mit und log: “Der war gut.“ Vielleicht hatten wir nicht den gleichen Humor, aber sie war wunderschön. Und Ihren Blicken nach zu urteilen, war sie mir ja auch nicht abgeneigt.
Im Verlaufe des Abends fingen auch Andrea’s Sportkleider an Sinn zu ergeben. Ich hatte noch nie zuvor plakatiert. Es war anstrengender als ich mir das vorgestellt hatte. Als nach Mitternacht das letzte Plakat klebte, stiessen wir ein gemeinsames „Geschafft!“ in den Nachthimmel und Andrea fiel mir spontan in die Arme. “Danke, dass du mir geholfen hast. Auch wenn du noch ein bisschen langsam bist beim aufkleben“ Der Stachel traf. „Pass auf was du sagst, sonst zünde ich dich auch an“ erwiderte ich. “Dafür bist du doch gar nicht heiss genug.“ Und weil wir uns immer noch im Arm lagen und ich zu lange brauchte um mir eine schlagfertige Antwort auszudenken küsste sie mich.
Zu unserem zweiten Treffen kam ich mit dem Auto meines Vaters. Ich hatte die 3-Phasen-Ausbildung unterdessen mit dem Bestehen der Autoprüfung hinter mich gebracht. Natürlich wollte ich Andrea damit beeindrucken. Am Steuer konnte ich ihr endlich mal zeigen wie der Hase läuft und nicht umgekehrt. „Wo fahren wir hin?“ fragte sie mich erwartungsfroh, noch vor dem innigen Begrüssungskuss. “Lass dich überraschen.“ Ich genoss ihr ungeduldiges Hibbeln auf dem Beifahrersitz, während ich mit der Selbstüberschätzung eines frischverliebten Neulenkers die engen Kurven des Hausbergs hinauffuhr. „Ich weiss was du vorhast“, brach Andrea das gespannte Schweigen. Ich wandte den Blick kurz von der Strasse ab, drehte meinen Kopf zu ihr hinüber, als es unter uns plötzlich heftig rumpelte. Zuerst am rechten Vorderrad, Sekundenbruchteile später am rechten Hinterrad. Schockartig riss ich das Lenkrad nach rechts, als das Auto die Leitblanke touchierte wieder nach links und drückte gleichzeitig auf die Bremse, bis das Auto quer über beide Fahrstreifen zum Stehen kam. Es war ein Glück, dass ausgerechnet in diesem Moment kein Auto auf der Gegenfahrbahn unterwegs war. “Schnell, du musst irgendwo auf die Seite fahren!“, brüllte mich Andrea an. Wir hielten beim nächsten Parkplatz an wo ich besorgt das Auto meines Vaters begutachtete. Bis auf ein paar Kratzer war der Wagen verschont geblieben. Während ich noch mit zitternder Hand über das Auto fuhr, war Andrea bereits zurück auf der Strasse. „Wo gehst du hin?“, rief ich ihr nach. Keine Antwort. Ich folgte ihr. Schweigend gingen wir entlang der Strasse hinunter zur Unfallstelle. Und da lag er. Aus seinen tiefen Wunden floss Blut, welches in einer Lache vor seinem Körper mündete. Der Igel sah ziemlich tot aus. „Ich hab ihn nicht gesehen“, war das einzige was mir dazu einfiel. “Du bist auch viel zu schnell gefahren.“ Damit war alles gesagt. Andrea hatte keinen Appetit mehr auf mein romantisches Sommerpicknick. So fuhren wir den ganzen Berg wieder hinunter. Und diesmal war es eine lange Fahrt. Mindestens drei Autos überholten unseren verkratzten Subaru. Ich rechnete nach: Wenn jedes zehnte der fünfzig Plakate, die ich aufgehängt hatte, einen Igel rettete, wäre ich immerhin noch bei einer plus 4 Bilanz. Gerne hätte ich Andrea mein Resultat präsentiert, überlegte es mir dann aber anders. Sie war sauer auf mich. Nicht ein Mal ein Abschiedskuss gab’s.
“Diese verdammten Igel, mit ihren krummen Beinen! Sollen sie doch alle für unser Vaterland verbrennen.“ Zu Hause angekommen entlud sich meine ganze Wut. Der Igel hatte mich weit gebracht. Genau genommen bis in Phase 3. Aber dann war er einfach zu langsam. Ein Hase wäre in diesem Moment mit einem Satz von der Fahrbahn gesprungen und wir wären jetzt glücklich am Picknicken.
Zwei Tage nach dem verunglückten Date bekam ich endlich eine Antwort auf mein dreiteiliges Entschuldigungs-SMS. Es ging ihr alles zu schnell mit mir. Es sei besser wenn wir uns eine Zeit lang nicht sehen würden. Liebe Grüsse. PS. Es hat nichts mit dem toten Igel zu tun. Ich legte mein Handy zur Seite und erinnerte mich an das Märchen vom Igel und vom Hasen: Der überhebliche Hase fordert den kleinen Igel zum Rennen auf. Weil der Igel weiss, dass er gegen den schnellen Hasen keine Chance hat, lässt er sich etwas einfallen. Beim Rennstart wartet die Frau des Igels schon im Ziel. Weil die Igelfrau fast gleich aussieht wie der Igel am Start, hat der Hase das Gefühl, er habe das Rennen verloren. Bei aller Liebe für die Schwachen, der Igel hat den Hasen betrogen.