- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 16
Igelüberfahrer des Jahres
„Hallo meine Damen und Herren. Wir senden live von der großen Benefizgalaveranstaltung anlässlich der alljährlichen Bundesverdienstkreuzvergabe aus dem Schloss Bellevue in Berlin. Mein Name ist Ariane Mayer und ich werde Sie heute durch den Abend führen. … Die Veranstaltung hat so eben begonnen. Es wird bereits allerorts geschwatzt und gelacht. Auch diesmal ist wieder viel Prominenz aus Politik, Wirtschaft und …
Oh, dort drüben sehe ich gerade Herrn Heino Schmidtler, meine Damen und Herren, einen der diesjährigen Preisträger und Ihnen zu Hause sicher bestens bekannt als ein Vorreiter auf dem Gebiet der faunistischen Suizidsubvention. … Herr Schmidtler, dürfte ich Ihnen ein paar kurze Fragen stellen?“
„Sicher doch.“
„Herr Schmidtler, zuerst natürlich: Herzlichen Glückwunsch. Wie fühlt man sich als frischgebackener Bundesverdienstkreuzträger?“
„Tja, … in erster Linie stolz selbstverständlich. Das ist eine unheimlich Ehre für mich. Ich hätte nie zu hoffen gewagt, dass meine ehrenamtliche Tätigkeit als Tierüberfahrer jemals in diesem Ausmaß gewürdigt werden würde.“
„So ganz überraschend kam die Auszeichnung dann doch nicht: Sie sind erst letzte Woche vom Verein der ‚Nationalen Automobilen Suizidsubventionierer’ zum ‚Igelüberfahrer des Jahres’ gewählt worden, und das bereits zum 5. Mal in Folge! Herzlichen Glückwunsch nachträglich dazu.“
„Danke.“
„Aber es war ein knapper Sieg. Wie ich hörte, trennten Sie nur 3 Stimmen von ihrem Verfolger Klausi Müller.“
„Klausi und mich verbindet unsere langjährige gemeinsame Arbeit auf diesem Gebiet. Früher teilten wir uns sogar ein Auto. Wir sehen es daher nicht als beinharten Konkurrenzkampf, sondern freuen uns über jeden Igel, dem geholfen werden konnte – egal durch wen.“
„Nun, Sie brachten es in diesem Jahr auf unglaubliche 692 überfahrene Igel …“
„Ja, aber die 700 hätte ich gern noch vollgemacht.“
„… eine Zahl, die schon jetzt einen nahezu uneinholbaren Rekord darstellt.“
„Danke.“
„Sagen Sie, wie überfährt man durchschnittlich fast 2 Igel pro Tag?“
„Nun, in den Wintermonaten ist glücklicherweise wenig zu tun. Da schlafen die Kleinen und denken nicht an Selbstmord. Auch im Frühling fällt traditionell nur wenig Arbeit an. Für die Tiere und uns wird es dann aber ab dem Spätsommer deutlich härter. Da kann es schon mal vorkommen, dass ich 5 Mal die Nacht raus muss, um einem vom Leben enttäuschten Igel Sterbehilfe zu leisten.“
„Ist die Selbstmordrate unter Igeln so hoch?“
„Ja, und sie steigt sogar noch, wie die Statistik zeigt. Dabei muss man anmerken, dass darin noch nicht einmal diejenigen erfasst sind, die sich in Seen ertränken, von Felsklippen springen oder als Hirsche verkleidet von Jägern erschossen werden. Die Dunkelziffer ist vielleicht sogar doppelt so hoch, wie Experten vermuten.“
„Was treibt denn Ihres Erachtens die possierlichen Stachelhäuter in den Suizid?“
„Darüber kann ich leider keine genaue Aussage machen. Sicherlich werden es ähnliche Probleme sein, wie wir Menschen sie haben: nestliche Streitereien, Waldarbeits- und Perspektivlosigkeit – ich meine, so ein durchschnittliches Igelleben ist wirklich äußerst trist, das muss man ja mal zugeben – und damit einhergehende Winterschlaf-Depressionen und Angstzustände.“
„Das klingt alles nach viel Arbeit.“
„Ist es auch. Aber wir werden dabei maßgeblich durch die Bevölkerung unterstützt.“
„Sie sprechen von der Igel-in-Not-Hotline?“
„Richtig. Passanten oder Spaziergänger, die einem Igel begegnen, der offensichtlich gerade den Tod auf der Straße sucht, die sollten unverzüglich dort anrufen – die genaue Nummer für ihre Region finden Sie im örtlichen Telefonbuch unter ‚Automobile Suizidsubventionierer e.V.’. Eine rund um die Uhr besetzte Annahmestelle leitet den Notruf dann augenblicklich weiter und alarmiert den zuständigen Überfahrer vom Dienst, der sich dann unverzüglich ins Auto schwingt.
In den meisten Fällen schaffen wir es, rechtzeitig an Ort und Stelle zu sein und uns um die lieben Tierchen entsprechend zu kümmern, bevor sie Gefahr laufen, durch unaufmerksame Autofahrer nicht-tödlich verletzt zu werden. Lebenslange Behinderungen und unermessliche Qualen wären dann nur 2 der möglichen Folgen.“
„Wie stellen Sie sich jetzt ihr weiteres Schaffen vor, Herr Schmidtler?“
„Selbstverständlich gebe ich die Arbeit als Igelüberfahrer nicht auf. Dort wird noch immer jeder Breitreifen gebraucht, der zur Verfügung steht.
Aber mittelfristig habe ich mir schon überlegt, auch in anderen Bereichen tätig zu werden. Die Krötenproblematik ist bereits flächendeckend unter Kontrolle, nicht zuletzt dank umfangreicher Freiwilligenarbeit in der Bevölkerung. Aber bei Selbstmorden von größeren Säugetieren muss noch viel getan werden. Trotz zunehmenden Transitverkehrs auf bundesdeutschen Straßen, ist der durchschnittliche PKW einfach viel zu leicht gebaut, um einen sauberen Tod dieser Tiere zu gewährleisten. Die Folge sind querschnittsgelähmte Rehe oder Wildschweine mit amputierten Gliedmaßen – zusätzliches Leid, das einfach nicht sein muss.“
„Herr Schmidtler, der ‚Igelüberfahrer des Jahres’-Preis ist mit einem nicht gerade geringen Betrag dotiert gewesen. Was werden Sie mit dem Preisgeld machen, wenn ich fragen darf?“
„Nun, zu aller erst einen größeren Wagen kaufen. Einen Pickup oder Minivan möglicherweise.
Ich arbeite da grad mit einigen Ingenieuren aus dem Verein zusammen an einem neuen Projekt, wofür wir ein Fahrzeug mit Kühlergrill in der entsprechenden Gewichtsklasse benötigen.“
„Können Sie uns da vielleicht schon Näheres zu sagen?“
„Eigentlich will ich nichts verraten. Nur soviel: Wir werden uns intensiver mit dem Problem der selbstmordgefährdeten Kinder im Vorschulalter befassen.“
„Dann wünsche ich Ihnen viel Erfolg dabei. Ich danke für das Gespräch und gebe vorerst zurück ins Studio.“