Idyll
Still. Still war es geworden im Dorf.
Ja, früher. Da traf man sich schon morgens beim Bäcker, ärgerte sich gemeinsam über die vielen Fremden, die auf dem Weg zur Arbeit oder in den Urlaub hier ihr Vesper einkauften. Die, die die wenigen Parkplätze vor der Bäckerei belegten. Die, die die Bäckerei so bevölkerten, dass man nicht einmal in Ruhe die Neuigkeiten bereden konnte. Die vielleicht noch die letzten Kaffeehörnchen kauften, auf die man sich schon selbst so gefreut hatte.
Ja, früher. Da traf man sich im Lebensmittelgeschäft, hielt ein Schwätzchen mit der Besitzerin, holte sich die Zeitung, fragte nach, warum Frau Maier von gegenüber noch immer die Fensterläden geschlossen hielt. Und man wusste Bescheid, was vor sich ging im Dorf und auf der Welt.
Ja, früher. Da saß man abends in der Wirtschaft, ließ den Tag ausklingen und beredete so manches Problem.
Wie damals, als allen der Verkehr zu viel wurde. Als sich täglich Tausende von Autos durch die engen Straßen zwängten.
Ja, damals. Als man gemeinsam vor die Landesregierung zog, Protestaktionen organisierte und land-auf-land-ab bekannt war für den Widerstand.
Damals war noch Leben im Dorf.
Doch heute. Die Umgehungsstraße war gebaut und mit hoher politischer Prominenz eingeweiht worden. Nur noch selten verirrte sich seither ein fremdes Fahrzeug ins Dorf. Man war für sich.
Der Bäcker gab als Erster auf. Seine Brötchen blieben in den Regalen liegen. Niemand wollte seine Kaffeehörnchen mehr haben. Dann folgte das Lebensmittelgeschäft. Die Besitzerin fuhr jetzt jeden Morgen selber in die Stadt und arbeitet in einem großen Supermarkt als Kassiererin. Und zuletzt die Dorfwirtschaft. Der Brauerei war der Umsatz zu gering. Sie stellte die Lieferung ein. Jetzt trank man sein Bier zu Hause.
Tagsüber war es ein Dorf der Alten. Um der Langeweile zu entgehen, traf man sich morgens unter der Linde, bewaffnet mit langen Stöcken. Und dann ging es los. In einer gemütlichem Geschwindigkeit, sodass man sich noch gut unterhalten konnte, ohne außer Puste zu kommen. Und es wurde geredet. Über Frau Maier, dass sie heute noch nicht einmal die Fensterläden geöffnet hatte. Darüber, dass der Sohn von Hilde in die Stadt gezogen war und eine von „drüben“ heiraten wollte. Darüber, dass die Kaffeehörnchen vom Discounter wieder billiger geworden waren und mindestens genauso gut schmeckten wie früher beim Bäcker.
Nach der Runde ging man wieder in die eigenen vier Wände zurück. Jedoch nicht, ohne sich gegenseitig zu versichern, dass man sich nachher per Telefon meldete. Denn das Netz funktionierte. Ausgezeichnet sogar. Über das ganze Dorf verteilt waren die Posten besetzt. Niemand gelangte unbemerkt ins Dorf. Keine Neuigkeit, die nicht schnellstens verbreitet wurde. Nichts, absolut gar nichts blieb verborgen.
So war es denn kein Wunder, dass sie Paulas Ankunft sofort bemerkten.
Paula entstieg mit ihrem Koffer dem Bus. Sie klackerte auf ihren hohen Schuhen die Dorfstraße entlang. Tief sog sie die Luft ein. „Wenn die Kühe in den Ställen muhen und es nach Gülle stinkt, dann sind wir bei der Oma!“ Das war der Standardsatz ihres Vaters, wenn sie nörgelnd auf der Rückbank des Wagens saß und es nicht mehr erwarten konnte, die Oma zu sehen. Paulas Vater war nur selten dazu zu bewegen in das Dorf seiner Kindheit zurückzukehren. Dabei war sein Verhältnis zur Großmutter gut. Sie telefonierten oft miteinander und Oma war auch gerne zu Besuch bei ihnen in der Stadt. Aber Paulas Vater kam nur an Weihnachten und Ostern mit ins Dorf. Paula konnte ihren Vater in diesem Punkt überhaupt nicht verstehen, wusste nicht, was ihn so störte an dem Ort, an dem er aufgewachsen war. Seit Paula denken konnte, verbrachte sie einen Teil der Ferien bei ihrer Oma, ohne Papa, ohne Mama. Sie hatte viele Freunde im Dorf, genoss die Ruhe, das Muhen der Kühe und auch den Geruch nach Gülle. Es war für sie selbstverständlich bei der Oma zu wohnen, in der Zeit, in der sie Praktikum machen musste. Ihr Vater schüttelte den Kopf und Paula konnte sein Unbehagen spüren. Seine Andeutungen, „ein Dorf ist keine Stadt“, „man müsse ein Dorf aushalten können“, „man sieht nicht in die Menschen hinein“ waren für Paula nur Floskeln, mit denen sie nichts anfangen konnte. Aber der Vater hinderte sie nicht zu gehen, er respektierte ihre Entscheidung. Und was sollte ihr schließlich in dieser Idylle, im Dorf passieren?
Einige Wochen waren seit Paulas Ankunft vergangen. Sie hatte sich eingelebt im Dorf, traf sich abends nach dem Job mit den anderen jungen Leuten, fuhr mit ihnen in die Kneipen der Stadt. Dass ihre Großmutter über jeden, wirklich jeden ihrer Schritte informiert war, verwunderte Paula zwar, aber es störte sie nicht. Schließlich hatte sie nichts zu verbergen. Doch dann kam jener Tag, der Paula tief erschütterte.
Ausnahmsweise kam sie früher von ihrer Arbeitsstelle zurück ins Dorf. Sie ging die Dorfstraße entlang und war gerade auf der Höhe des Hauses von Omas bester Freundin, Elsa, angelangt. Lautes Geschrei, Weinen und Poltern drang aus dem Haus und schallte Paula entgegen. Paula wusste, dass im Haus außer Elsa auch deren Sohn, die Schwiegertochter und die Enkelkinder wohnten. Die Schreie, das dumpfe Aufschlagen von Fäusten auf einen Körper waren unmissverständlich. Hier wurde jemand aufs Übelste verprügelt. Paula konnte es nicht ertragen, wenn jemand in ihrer Umgebung Gewalt erleiden musste. Sie schaute nicht weg. Sie ergriff Partei. Sie mischte sich ein. Immer. Energisch öffnete sie das Gartentor, beeilte sich zum Gebäude zu kommen und klingelte stürmisch an der Haustüre. Das Geschrei verstummte augenblicklich, aber nicht das Weinen und Wimmern. Jemand polterte zur Türe, riss sie förmlich auf. Vor Paula stand der Sohn von Omas Freundin, Hans. Groß, kräftig, das Gesicht hochrot und von Wut verzerrt. „Was willst du? Hau bloß ab von hier. Und halt dein Maul! Sonst geht’s dir gleich!“ Damit warf er die Türe wieder zu. Paula wusste, mit jähzornigen Menschen war nicht zu spaßen. Sie wusste, dass sie dem Opfer dort drinnen nicht helfen konnte, wenn sie selbst in Gefahr war. Notgedrungen zog sie sich zurück. Sie hatte genug gesehen. Omas Freundin Elsa stand auf der Wohnungstreppe, dahinter auf der Schwelle zur Küche lag die Schwiegertochter, die versuchte, sich zu verbergen. Paula musste schnell handeln. Sie drehte sich auf dem Absatz um, holte noch auf dem Rückweg zum Gartentor ihr Handy heraus und alarmierte die Polizei. Dann rannte sie auf direktem Weg zu ihrer Großmutter. Sie musste die alte Dame darüber aufklären, was im Haus ihrer Freundin vor sich ging. Doch wie überrascht war Paula, als sie von der Oma schon erwartet wurde. „Komm rein,“ herrschte sie die Großmutter an. Paula wollte gerade ansetzen und von dem Vorfall berichten. Aber die Oma fiel ihr ins Wort. „Wie konntest du? Das geht dich gar nichts an! Misch dich nicht ein!“ Paula traute ihren Ohren nicht. „Aber Oma. Der Hans hat seine Frau verprügelt. Die schrie um Hilfe! Da musste ich doch helfen!“ „Nichts musst du! Die Ilse wird schon wissen, weshalb sie Prügel kriegt. Hat den Hans wohl wieder gereizt. Das geht vorbei und uns geht’s nichts an!“ „Aber Oma, wir können doch nicht tun, als sei nichts passiert.“ „Doch genau das tun wir! Der Hans ist wichtig im Dorf. Er hat den Protest organisiert. Und er ist der einzige Sohn von Elsa. Du hast nichts gesehen. Ist das klar!“ Damit schob sie Paula durch die offene Tür in die Wohnung hinein. Und als ob man einen Schalter umgedreht hätte, lächelte die Oma, war die Freundlichkeit in Person und bot Paula Tee und Kaffeehörnchen vom Discounter an. Paula konnte die Verwandlung der Oma nicht verstehen. Immer wieder wollte sie ansetzen und mit ihr über den Vorfall reden. Aber es war nichts zu machen. Für Oma war das Thema erledigt. Auch in den folgenden Tagen. Oma traf sich mit ihrer Walking-Truppe, ging zum Kaffeekränzchen zu ihrer Freundin Elsa und telefonierte mit den anderen Dorfbewohnern. Sie unterhielten sich über Neuigkeiten aus der Welt. Aber kein einziges Mal wurde über die arme Ilse gesprochen, oder über Hans, den Sohn der Freundin. Die Polizei verfolgte den Fall nicht weiter, da Ilse versicherte, sie sei die Treppe hinunter gefallen und ihr lieber Ehemann Hans habe sie bestens versorgt. Paula versuchte mit den Freunden aus dem Dorf zu reden. Doch auch hier traf sie auf eine Mauer der Gleichgültigkeit. Nur einmal bemerkte einer der Kumpel: „ Ach, hör doch auf! Was ist schon passiert? Das geht vorbei. Und du, du bist in ein paar Wochen wieder weg!“ Damit war auch für Paulas Freunde die Angelegenheit erledigt. Aber für Paula war nichts erledigt. Einige Male versuchte sie mit Ilse ins Gespräch zu kommen, doch die Frau wich ihr aus, redete nicht mit ihr. Paula konnte dieses kollektive Wegsehen im Dorf, dieses Fehlen von Solidarität mit Opfern nicht begreifen. Die Menschen, die ihr so vertraut schienen, wurden zu Fremden. Sie wollte weg, nur noch weg aus dieser verlogenen Idylle. Enttäuscht packte sie ihre Koffer und verließ das Dorf..
Zu Hause angekommen redete sie stundenlang mit ihrem Vater über das Verhalten der Großmutter, der Freunde und der anderen Dorfbewohner. Sie wollte begreifen. Der Vater hörte Paula geduldig zu dann antwortete er: “Verstehst du mich jetzt? Kannst du jetzt begreifen, weshalb ich dir oft gesagt habe: Stadtluft macht frei! Ich habe Ähnliches erlebt. Aber das ist eine andere Geschichte.“