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Idi Ott
Das Dorf lag träge in der Nachmittagssonne und der junge Regionalpolizist Wolfgang Ott stand mit Frau Läubli, der Kindergartenleiterin, auf dem Parkplatz vor der Post. Man könne sich heutzutage als Polizist keine Fehler erlauben, sagte er gerade zu ihr, als vorne beim Restaurant Löwen ein alter Mann auf einem Rasenmäher in die Straße einbog.
„Wieder der Lindenmann“, murmelte Ott und blickte dem Rasenmäher entgegen, der sich gemächlich näherte. Wie ein kleiner Traktor sah er aus, mit vier Rädern und einem Auffangbecken hinten für das gemähte Gras. Die Sonne spiegelte auf der polierten Motorhaube.
Hier war sie, dachte er - die Prüfung, die man in jedem neuen Umfeld früher oder später bestehen musste und auf die er seit Eröffnung der Polizeistation vor drei Wochen gewartet hatte. Lindenmann war die Prüfungsaufgabe und Frau Läubli die Expertin, denn sie würde jedes Wort mithören und herumerzählen, und sie würden es ihm nicht leicht machen, auch das wusste er, denn die Regionalpolizei war neu in der Agglomeration und die Ablehnung groß - man bezahle doch keine Steuern, damit die Herren den ganzen Tag umherfahren und Bußen verteilen, so wurde hier gesprochen. Aber es gab keinen Ausweg, er musste jetzt dem sturen alten Bock das Fahren mit dem Rasenmäher verbieten, obschon dieser seit Jahren damit durchs Dorf fuhr und sich niemand daran störte und eigentlich auch keine Gefahr davon ausging, er fuhr ja im Schritttempo.
Entschieden trat Ott hinaus auf die Straße, winkte den Alten auf den Parkplatz und ließ ihn anhalten. „Herr Lindenmann, wir haben letzte Woche miteinander gesprochen und ich habe Ihnen erklärt, dass Sie mit diesem Rasenmäher nicht auf der Straße fahren dürfen.“
Der Alte beugte sich auf dem Sitz umständlich nach vorne zum Zündschlüssel, schaltete den Motor aus und wandte sich dann gereizt an Ott. „Ich musste nur kurz ins Dorf. Ist doch keine Fahrt, die paar Meter.“
Der Kampf hat begonnen, dachte Ott und stellte sich den Alten als bockigen Stier in einer feierlich geschmückten Arena vor. Frau Läubli postierte sich mit ernster Miene auf der Ehrentribüne.
„Herr Lindenmann“, antwortete er langsam und bestimmt, „ich werde diese Diskussion nicht nochmals führen. Sie wissen, der Rasenmäher ist nicht für den Straßenverkehr zugelassen. Ich hoffe, dass ich Sie nie wieder damit auf der Straße sehe.“
„Hoff‘ ich auch“, knurrte der Alte und Frau Läubli kicherte, doch Ott blieb ruhig.
„Ich meine es ernst, Herr Lindenmann. Das gibt wieder eine Buße.“
Jetzt richtete sich der Alte im Sitz auf, holte tief Luft und reckte dabei sein wuchtiges Kinn in die Höhe wie ein Hauptfeldweibel vor dem Appell. „Junger Mann, seit Jahren fahre ich mit diesem Rasenmäher. Seit Jahren!“ Seine Unterlippe zitterte, während er wieder Luft holte. „Jetzt kommen Sie und sagen, das sei verboten. Hauswart war ich hier in der Schule, zweiunddreißig Jahre lang, wissen Sie das eigentlich? Damals stand nur das alte Schulhaus. Da, wo heute die Mehrzweckhalle und der Sportplatz stehen, war früher Rasen. Alles Rasen. All das musste gemäht werden. Glauben Sie eigentlich, man mäht so einen Rasen mit einem kleinen Rasenmäher, wie zuhause den Garten? Aber Sie wissen so etwas nicht, Sie arbeiten ja nicht, Sie stehen herum und verteilen Bußen. Und dann kommen Sie und verbieten mir, den Rasenmäher zu fahren. Ausgerechnet mir, der sein ganzes Leben für das Dorf gearbeitet hat.“
Ott wartete, bis der Monolog beendet war, obwohl sich die Argumente seit ihrem letzten Gespräch keineswegs geändert hatten. Ich-Sätze bilden und Verständnis zeigen, erinnerte er sich, das hatten sie im Kommunikationskurs geübt. "Ich verbiete Ihnen das Fahren mit dem Rasenmäher ja nicht, weil es mir Spaß macht, sondern zu Ihrem Besten. Sie fahren illegal und haben keine Haftpflichtversicherung. Stellen sie sich vor, Sie verursachen einen Unfall und verletzen jemanden. Dann stehen Sie vor Gericht und keine Versicherung wird auch nur das Geringste bezahlen. Ich wünschte ja, ich müsste Ihnen das Fahren nicht verbieten, aber ich muss es tun, so lauten meine Vorschriften.“
Doch die Bemühungen waren vergeblich, wütend stampfte der Alte mit einem Fuß auf die Metallplattform seines Rasenmähers und beugte sich weit vor, eine Hand noch am Lenkrad. „Schauen Sie doch auf die Asylanten, anstatt hier zu schwadronieren.“ Energisch deutete er mit der freien Hand in die entsprechende Richtung. „Seit wir das Asylzentrum haben, gibt’s nur Ärger. Kontrollieren Sie die, nicht rechtschaffene Leute wie mich. Aber ihr Regionalpolizisten habt ja Angst vor denen. Ihr steht lieber an der Straße und verteilt Bußen.“
Jetzt beginnt er zu provozieren, dachte Ott und ahnte, dass er dabei war, die Prüfung zu verhauen. Der Stier drängte ihn langsam in die Ecke, stach in alte Wunden und rüttelte hartnäckig an seiner Beherrschung – auch Ott wechselte jetzt zum Kasernenhofton. „Wir arbeiten eng mit dem Asylzentrum zusammen und da gibt’s überhaupt keine Probleme. Außerdem sind Asylsuchende keine Kriminellen, sondern Menschen wie Sie und ich. Ich will kein einziges Wort mehr hören zu diesem Thema, ist das klar? Außerdem haben Sie nicht in diesem Ton mit mir zu sprechen.“
„Und ob ich in diesem Ton mit Ihnen spreche“, entfuhr es dem Alten. „Ich kenne euch Städter. Die Idioten auf dem Land kann man rumkommandieren, so denkt ihr. Dabei seid einzig und allein ihr die Idioten.“
Ott war sprachlos. Jetzt geht er zu weit, dachte er nur noch. „Wie haben Sie mich gerade genannt?“
Doch der Alte war mittlerweile in Fahrt gekommen und kaum noch zu bremsen. „Ihr Vorname ist doch Idi, oder nicht? Idi Ott, da haben wir’s.“
Frau Läubli prustete laut heraus.
„Lachen Sie nicht so blöd“, herrschte sie Lindenmann sofort an, und seine Stimme wurde noch bissiger. „Sie sind kein bisschen besser. Sogar im Kindergarten saufen Sie, und dann haben Sie was mit dem Heusi. Wäre ich Ihr Mann gewesen, ich hätte Sie auch verlassen.“
Ott sah, wie Frau Läubli hinter ihm erstarrte und bleich wurde. „Hören Sie sofort auf, so über Frau Läubli zu reden“, befahl er, doch der Alte beachtete ihn nicht.
„Das ganze Dorf weiß es“, polterte er ungehalten mit lauter Stimme, „den ganzen Tag saufen Sie und am Abend holt Sie der Heusi mit seinem Mercedes.“
Ott fiel ihm ins Wort und stellte sich schützend vor Frau Läubli, doch es war zu spät. Heulend hastete sie davon, ohne sich umzudrehen.
„Herr Lindenmann, ich will jetzt kein Wort mehr von Ihnen hören, verstanden? Kein Wort.“
Der Alte lehnte sich leicht zurück und blickte dem Polizisten in die Augen wie ein Schulrüpel nach der Pausenschlägerei. „Schicken Sie mir doch noch eine Buße. Die von letzter Woche liegt noch auf dem Küchentisch.“
Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte er sich zurück ans Steuerrad, startete wütend den Motor und fuhr, ohne hinten auf den Verkehr zu achten, mit einem Ruck auf die Straße hinaus.
Ott blickte ihm nach, die Fäuste in die Hüften gestemmt. Die Prüfung war schlecht gelaufen, dachte er, aber wann genau hatte er einen Fehler begangen? Er verhielt sich doch korrekt und sagte das Nötige, was sollte er mehr tun?
Auch Tage später, als er sich langsam der Tragweite dieser Szene vor der Post bewusst wurde und das Gespräch in Gedanken wieder und wieder durchging - Lindenmann fuhr übrigens nie mehr mit dem Rasenmäher durchs Dorf - konnte er keinen Fehler entdecken. Zuerst vermutete er, es könnte mit seiner Unkenntnis der Gemeinde und Leute zu tun haben, denn die sozialen Mechanismen im Dorf waren neu für ihn, doch am Ende kam er zum Schluss, dass es Situationen gab, Prüfungen des Lebens sozusagen, welche einfach nicht zu bestehen waren, auch wenn man alles richtig machte.
„Hast du gesehen, der Idi hat heute wieder Bußen verteilt“, sagte Frau Läubli später an diesem Nachmittag, als sie sich wieder beruhigt hatte, im Laden zu Frau Huber.
„Idi? Welcher Idi?“
„Na, der Ott. Alle nennen ihn jetzt Idi.“
„Ah, der.“ Frau Huber ließ sich nicht anmerken, dass sie den Übernamen noch nie gehört hatte, und verdrehte empört die Augen. „Unglaublich. Kaum stehst du mal im Parkverbot, ist er schon da. Sagt der Förster-Heinz auch.“
Frau Läubli nickte. „Dabei schafft er‘s nicht mal, dem alten Lindenmann den Rasenmäher zu verbieten“, und sie schilderte das Ereignis gekonnt in allen Einzelheiten, ihre eigene Rolle ließ sie natürlich beiseite. Frau Huber nickte entrüstet und die Geschichte sprach sich, wie jedes Gerücht, schnell herum im Dorf, bestätigte, was jetzt alle schon immer gewusst hatten, und zementierte den Ruf der neuen Regionalpolizei. Wolfgang Ott war ein guter Polizist, doch es dauerte fünf Jahre, bis er nicht mehr belächelt wurde. Seinen Übernamen wurde er nie mehr los.