Idealistischer Realismus
Notiz:
Die ganze Kraft des Seins liegt in der Verwirklichung unserer selbst. Wir bilden den Gemeinschaftsbrei, den großen Urmulch der Menschheit. Und dennoch: Jeder von uns lebt in seinem eigenem Vakuum im großen Szenario. Der Mensch ist kein Gemeinschaftstier. Er ist ein unilateraler Opportunist, der seinem Umfeld nur einen Teil der wahrhaftigen Tatsachen freigibt. Menschen kommen, Menschen gehen, Menschen sterben. Wir trauern - so scheint es - um andere, erkennen aber letztlich, dass es nicht sie sind, denen wir unser Mitleid schenken, sondern dass nur wir selbst uns selbst bedauern, bedauern, etwas verloren zu haben, das wir als einen Teil unser definiert hatten. Wir ersetzen in unserem Egoismus das fehlende Puzzlestück, sei es durch neue Vertraute, sei es durch Freitod. Im Endeffekt haben wir die Wahl, treffen wir die Entscheidung, welchen Verlauf die Geschichte nehmen wird. In der Einsamkeit sind wir unser eigener Herrscher. Es macht uns souverän. Doch, wissend um die Relativität von gut und schlecht, suchen wir nach Bestätigung unserer Thesen, Einstellungen, unserer Person. Hierin liegt die Zweisamkeit, die manche eingehen, um das zu erfahren, was der Volksmund als Glück bezeichnet.
Ich sitze ihr gegenüber, der Fernseher flimmert tonlos, bunte Schemen in der Zimmerecke. Sie vertieft in Shakespeares gesammelten Werken, ich Russels Theorien auf dem Schoß, neben meinen Aufzeichnungen. Ich mustere sie, während sie ruhig die Verse mit ihrem sanften, strengen Blick überfliegt. Er ist es, der mich manchmal fragen lässt, ob ihre innere Schönheit wirklich so glänzt, oder nur ein Abbild meiner Hoffnung in ihr ist. Doch wenn sie lacht, weil Shakespeares Wortwitz sie entzückt, schwinden alle Zweifel in mir und ich kann für einen Moment die Brille des rationalen Denkers von meinen Augen nehmen, um sie ohne jeglichen Beigeschmack zu betrachten. Wie schön sie ist.
Ich lege das Buch beiseite, stehe auf und gehe zu meinen Schallplatten, überlege, welche ihr heute gefallen könnte, finde einen Jimi-Hendrix-Mitschnitt und lege ihn vorsichtig zwischen gemustertes Gummi und Nadel des Spielers. Sie verdreht die Augen und bemerkt, dass sie sich so nicht konzentrieren kann. Also hebe ich die Nadel wieder von den Rillen und entlasse Jimi in die dritte Ablage, Reihe 25. Ich rekapituliere, wie schwer es manchmal ist, es ihr recht zu machen und verwerfe den Gedanken, eine andere Platte aufzulegen. Warum sollte ich es ihr recht machen? Ob sie etwas zu essen mag, frage ich sie, doch sie hat keinen Hunger. Ich bringe ihr ein Glas Wasser stattdessen. Der Raum ist kalt und leer. Ich setze mich in den Sessel, möchte etwas sagen, weiß aber nicht was.
Manchmal ärgere ich mich über mich, weil ich zuviel nachdenke und zuwenig darüber rede, was mich bewegt. Tatsache ist, dass Shakespeare sich besser auszudrücken vermochte als Russel. Er versteckt seine Reden in Worten, ich verstecke meine Worte im Reden. Ich denke darüber nach, warum ich soviel darüber nachdenke, ob das, was ich denke nicht vielleicht etwas ganz anderes ist, als das, was ich meine. Dann überlege ich, warum man glauben sollte, dass die Erde rund ist und nicht eine Scheibe. Weiter: Ob es mich überzeugen würde, sähe ich sie mit eigenem Augen aus dem Weltall.
Ich klappe das Buch zu, stelle es an seinen Platz in das Regal. Hör mal, sagt sie, als sie merkt, dass ich gehen will und liest mir die drei Verse aus King Lear vor. Ein paar Minuten später diskutieren wir darüber, was gute Literatur ausmacht und die Frage, ob Shakespeare Genie, Wahnsinn oder beides war. Sie bewirft mich mit halbwegs vernünftigen Argumenten und ernsten Blicken, ich annulliere mit der Fraglichkeit von Fakten und der Nichtigkeit der allgemeinen Gültigkeit. Kalte Fusionen der Fronten fressen sich in unsere Gemüter, bis wir beide ein weiteres Mal begreifen, dass es gar nicht mehr darum geht, eine Lösung heraus zu filtern, sondern nur noch darum, nicht unter fremdes Wasser gedrückt zu werden. Sie hat Recht und gibt es nicht her. Ich bin ein indiskutables Himmelfahrtskommando.
Ich beschließe, dass das Gespräch unsinnig ist und stehe auf während ich versuche unsinnig zu definieren. Sie schaut mich vorwurfsvoll an, sagt etwas zu mir, das ich nicht verstehe und das mich zweifeln lässt. An ihr, an der Welt, an Allem, aber ich weiß, dass es bald vorbei sein wird, denn es ist jedes Mal so. Und jedes Mal frage ich mich, ob es wirklich fair ist, wütend aufeinander zu sein, wenn man schon weiß, dass der andere einem wieder verzeihen wird und man ihm seinerseits beteuern wird, dass jetzt wieder alles gut sei.
Ich gehe auf den Dachboden und betrachte die Sterne in der ewigen Leere, frage mich, ob die Erde von dort oben wirklich rund aussieht. Die kühle Abendluft wischt einen Teil der Anspannung aus meinem Gesicht. Ich denke, jedes Mal, wenn wir getrennte Wege gehen, ist es die Aufgabe des einen auf den anderen zuzugehen. Mir kommt es so vor, als ob ich es bin, der in den meisten Fällen den Schritt durch die Wand macht, also warte ich. Warte darauf, dass sie anklopft, die Tür öffnet, mich umarmt und mir sanft in den Nacken küsst, um mir das Gefühl zu geben, dass alles wieder in Ordnung sei. Stattdessen drängt Stille wie Kälte in meine Knochen. Ich werde unruhig, starre die Tür an, verspreche mir, stehen zu bleiben, um auf sie zu warten. Irgendwann kommt mir in den Sinn, dass es doch ein ganz guter Kompromiss wäre, ihr in allem Recht zu geben, es ihr jedoch zu verschweigen.
Später im Bett gebe ich ihr auch so in Allem Recht, sehe die Fehler ein, die sie in mir sieht. Leihe mir ihre Augen um mich selbst zu sehen, hektisch gestikulierend am Wohnzimmertisch. Ich gebe mich selbst auf für eine Berührung. Auch sie gibt einen Teil von sich, als sie ihre Arme um mich schlingt und mir etwas ins Ohr flüstern, dass mich zum Lächeln bringt. An ihrem Kopf vorbei blicke ich an die weiße Wand des Schlafzimmers. Ein Teil in mir beschwert sich, als ein anderer mein irrationales Handeln unkommentiert zulässt. Doch er hakt nicht nach, denn alles was geschieht war zu erwarten und basiert letztendlich auf den Thesen, die irrgläubig abgestritten werden. Wie berechenbar der Mensch doch ist.