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Idealistischer Realismus

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15.01.2002
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Idealistischer Realismus

Notiz:
Die ganze Kraft des Seins liegt in der Verwirklichung unserer selbst. Wir bilden den Gemeinschaftsbrei, den großen Urmulch der Menschheit. Und dennoch: Jeder von uns lebt in seinem eigenem Vakuum im großen Szenario. Der Mensch ist kein Gemeinschaftstier. Er ist ein unilateraler Opportunist, der seinem Umfeld nur einen Teil der wahrhaftigen Tatsachen freigibt. Menschen kommen, Menschen gehen, Menschen sterben. Wir trauern - so scheint es - um andere, erkennen aber letztlich, dass es nicht sie sind, denen wir unser Mitleid schenken, sondern dass nur wir selbst uns selbst bedauern, bedauern, etwas verloren zu haben, das wir als einen Teil unser definiert hatten. Wir ersetzen in unserem Egoismus das fehlende Puzzlestück, sei es durch neue Vertraute, sei es durch Freitod. Im Endeffekt haben wir die Wahl, treffen wir die Entscheidung, welchen Verlauf die Geschichte nehmen wird. In der Einsamkeit sind wir unser eigener Herrscher. Es macht uns souverän. Doch, wissend um die Relativität von gut und schlecht, suchen wir nach Bestätigung unserer Thesen, Einstellungen, unserer Person. Hierin liegt die Zweisamkeit, die manche eingehen, um das zu erfahren, was der Volksmund als Glück bezeichnet.

Ich sitze ihr gegenüber, der Fernseher flimmert tonlos, bunte Schemen in der Zimmerecke. Sie vertieft in Shakespeares gesammelten Werken, ich Russels Theorien auf dem Schoß, neben meinen Aufzeichnungen. Ich mustere sie, während sie ruhig die Verse mit ihrem sanften, strengen Blick überfliegt. Er ist es, der mich manchmal fragen lässt, ob ihre innere Schönheit wirklich so glänzt, oder nur ein Abbild meiner Hoffnung in ihr ist. Doch wenn sie lacht, weil Shakespeares Wortwitz sie entzückt, schwinden alle Zweifel in mir und ich kann für einen Moment die Brille des rationalen Denkers von meinen Augen nehmen, um sie ohne jeglichen Beigeschmack zu betrachten. Wie schön sie ist.
Ich lege das Buch beiseite, stehe auf und gehe zu meinen Schallplatten, überlege, welche ihr heute gefallen könnte, finde einen Jimi-Hendrix-Mitschnitt und lege ihn vorsichtig zwischen gemustertes Gummi und Nadel des Spielers. Sie verdreht die Augen und bemerkt, dass sie sich so nicht konzentrieren kann. Also hebe ich die Nadel wieder von den Rillen und entlasse Jimi in die dritte Ablage, Reihe 25. Ich rekapituliere, wie schwer es manchmal ist, es ihr recht zu machen und verwerfe den Gedanken, eine andere Platte aufzulegen. Warum sollte ich es ihr recht machen? Ob sie etwas zu essen mag, frage ich sie, doch sie hat keinen Hunger. Ich bringe ihr ein Glas Wasser stattdessen. Der Raum ist kalt und leer. Ich setze mich in den Sessel, möchte etwas sagen, weiß aber nicht was.
Manchmal ärgere ich mich über mich, weil ich zuviel nachdenke und zuwenig darüber rede, was mich bewegt. Tatsache ist, dass Shakespeare sich besser auszudrücken vermochte als Russel. Er versteckt seine Reden in Worten, ich verstecke meine Worte im Reden. Ich denke darüber nach, warum ich soviel darüber nachdenke, ob das, was ich denke nicht vielleicht etwas ganz anderes ist, als das, was ich meine. Dann überlege ich, warum man glauben sollte, dass die Erde rund ist und nicht eine Scheibe. Weiter: Ob es mich überzeugen würde, sähe ich sie mit eigenem Augen aus dem Weltall.
Ich klappe das Buch zu, stelle es an seinen Platz in das Regal. Hör mal, sagt sie, als sie merkt, dass ich gehen will und liest mir die drei Verse aus King Lear vor. Ein paar Minuten später diskutieren wir darüber, was gute Literatur ausmacht und die Frage, ob Shakespeare Genie, Wahnsinn oder beides war. Sie bewirft mich mit halbwegs vernünftigen Argumenten und ernsten Blicken, ich annulliere mit der Fraglichkeit von Fakten und der Nichtigkeit der allgemeinen Gültigkeit. Kalte Fusionen der Fronten fressen sich in unsere Gemüter, bis wir beide ein weiteres Mal begreifen, dass es gar nicht mehr darum geht, eine Lösung heraus zu filtern, sondern nur noch darum, nicht unter fremdes Wasser gedrückt zu werden. Sie hat Recht und gibt es nicht her. Ich bin ein indiskutables Himmelfahrtskommando.
Ich beschließe, dass das Gespräch unsinnig ist und stehe auf während ich versuche unsinnig zu definieren. Sie schaut mich vorwurfsvoll an, sagt etwas zu mir, das ich nicht verstehe und das mich zweifeln lässt. An ihr, an der Welt, an Allem, aber ich weiß, dass es bald vorbei sein wird, denn es ist jedes Mal so. Und jedes Mal frage ich mich, ob es wirklich fair ist, wütend aufeinander zu sein, wenn man schon weiß, dass der andere einem wieder verzeihen wird und man ihm seinerseits beteuern wird, dass jetzt wieder alles gut sei.
Ich gehe auf den Dachboden und betrachte die Sterne in der ewigen Leere, frage mich, ob die Erde von dort oben wirklich rund aussieht. Die kühle Abendluft wischt einen Teil der Anspannung aus meinem Gesicht. Ich denke, jedes Mal, wenn wir getrennte Wege gehen, ist es die Aufgabe des einen auf den anderen zuzugehen. Mir kommt es so vor, als ob ich es bin, der in den meisten Fällen den Schritt durch die Wand macht, also warte ich. Warte darauf, dass sie anklopft, die Tür öffnet, mich umarmt und mir sanft in den Nacken küsst, um mir das Gefühl zu geben, dass alles wieder in Ordnung sei. Stattdessen drängt Stille wie Kälte in meine Knochen. Ich werde unruhig, starre die Tür an, verspreche mir, stehen zu bleiben, um auf sie zu warten. Irgendwann kommt mir in den Sinn, dass es doch ein ganz guter Kompromiss wäre, ihr in allem Recht zu geben, es ihr jedoch zu verschweigen.
Später im Bett gebe ich ihr auch so in Allem Recht, sehe die Fehler ein, die sie in mir sieht. Leihe mir ihre Augen um mich selbst zu sehen, hektisch gestikulierend am Wohnzimmertisch. Ich gebe mich selbst auf für eine Berührung. Auch sie gibt einen Teil von sich, als sie ihre Arme um mich schlingt und mir etwas ins Ohr flüstern, dass mich zum Lächeln bringt. An ihrem Kopf vorbei blicke ich an die weiße Wand des Schlafzimmers. Ein Teil in mir beschwert sich, als ein anderer mein irrationales Handeln unkommentiert zulässt. Doch er hakt nicht nach, denn alles was geschieht war zu erwarten und basiert letztendlich auf den Thesen, die irrgläubig abgestritten werden. Wie berechenbar der Mensch doch ist.

 

Uii die Geschichte ist schön! Ich kenne auch einen Frederic, der könnte das genausogut geschrieben haben, vor allem wegen des Plattenspielers und Hendrix! ;)
Jedenfalls drückt die Geschichte, Sinfälligkeit und Rührung über Kunst sehr gut aus! Sie gefällt mir sehr gut!

 

In der Geschichte geht es weder um Sinfälligkeit (was ist das?) und Rührung. Würde mich über detailliertere Kritiken freuen.
Frederik

 

Naja, die Geschichte hat für mich etwas vom Umherfliegen zwischen verschiedenen Künsten, Eindrücken und Sinnwahrnehmungen. Solch eine Geschichte kann man praktisch nur stilistisch und nicht inhaltlich bewerten, denn der Inhalt beschreibt deine persönlichen Lebenseindrücke. Man kann sagen, dass die Geschichte in einem sehr guten Stil geschrieben ist, aber inhaltlich kann man eben keine Kritik üben, da der Inhalt deine persönliche Sache ist. Außerdem finde ich diesen philosophischen Gedanken, dass man nicht um andere trauert, sondern um sich selbst, weil man durch den Tod eines Mitmenschen etwas verloren hat, sehr interessant, ich glaube das trifft zu! Also sehr gut, viel mehr kann ich nicht sagen ;)

 

Ich würde an dieser Stelle gerne ganz deutlich betonen, dass es nicht um meine persönlichen Lebenseindrücke geht. Trotzdem danke für die Kritik.

 

Ok, Fred! Du wolltest es so...

Den ersten Teil finde ich langweilig. Er wirkt vom Rest des Textes viel zu getrennt. Ich würde den Aufbau komplett ändern, denn ich denke nicht, dass Du die "Abhandlung" am Anfang irgendwie umschreiben kannst, dass es passt. Handlung früher beginnen lassen und Gedanken einflechten. Es wäre sicherlich auch nicht uninteressant zu lesen, wie Du den Perspektivwechsel bewerkstelligst.

Der zweite Teil dagegen ist gut. Genau die richtige Mischung aus Beobachtungen und interessanter Gedanken. Hat mich richtig in den Text gezogen.

Das ist zumindest der erste Eindruck...

 

Danke für die Kritik und Lektorarbeit. Werde mich in Zukunft länger damit beschäftigen, Grammatik und Rechtschreibung weniger fehlerhaft hier abzuliefern. Lasse die Kritiken gerade auf mich wirken und bin daher leider noch nicht dazu fähig Feedback zu geben, aber in den nächsten Tagen kommt dann der Dank, also die Retourkutsche.

Liebe Grüße Frederik

 

Ich melde mich zurück mit ein paar Änderungen am Text.

Der erste Abschnitt soll seinen theretisch, allgemein gültigen Charakter behalten. Wichtig ist, dass er und der Rext des Textes keine zu große Lücke bilden. Es sollte herausgehen, dass es letztlich die Worte des Protagonisten, nicht die des Autoren sind. Falls dem nicht so ist scheitert dieser Part.

Was ist wahrhaftig? Was ist wahr?
Meinst Du seine subjektive Sicht der Dinge?
Sein Wissen um den eigenen Zustand?
Das würde ich nicht als wahrhaftig bezeichnen. Gibt es überhaupt etwas, das wahrhaftig ist? Ist nicht alles aus einer anderen Perspektive betrachtet plötzlich ganz anders?

Was ich meine ist z.B.: Der Mensch aknn lügen, ohne dass andere es merken. Nur er selbst weiß dann, dass es eine Lüge ist. Nur er selbst kann sagen, was an seinem Verhalten wahr oder vorgespielt ist.

Das klingt, als seien beides gleich stark favorisierte "Methoden". ME kommt der Selbstmord aber seltener vor als das "Ersetzen".
Ich wollte an dieser Stelle ein negatives Bild erstellen. Die Einstellung soll sein, dass der Mensch ohne äußere Bestätigung nicht auskommt. Ohne sie ist alles an ihm nichtig, was sein Leben sinnlos macht. Die Konsequenz: Freitod.

Zitat:
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In der Einsamkeit sind wir unser eigener Herrscher. Es macht uns souverän.
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Was ist "es"?


Hm, bin mir nicht sicher, aber im Prinzip müsste es funktionieren. "Es" bezieht sich dann auf das Herscher-dasein

"meiner Hoffnung in ihr"? Meinst Du der von ihm in sie gesetzten Hoffnung? Warum Hoffnung? Welche Hoffnung? Was hofft er?
Text:
ob ihre innere Schönheit wirklich so glänzt, oder nur ein Abbild meiner Hoffnung in ihr ist.

Der Protagonist fragt sich, ob er sich nur einbildet, dass seine Frau innere Schönheit besitzt, oder ob sie tatsächlich welche besitzt, was er hofft.

Ich werde mal versuchen, den ersten Teil mehr in Bindung zu dem zweiten zu stellen. Bevor ich den Text umschmeiße, brauche ich meist etwas Zeit.

Liebe Grüße
Frederik

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Frederik,

Deine Geschichte hat einen ansprechenden, der Thematik angepassten, distanziert wirkenden Sprachstil. Die Erwähnung von Russel sehe ich als Hinweis darauf, das der Protagonist, ein erkenntnisskeptischer Rationalist, auch der Logik nicht traut (schon gar nicht seinen Augen, selbst wenn er die Erde vom All aus beurteilen könnte).
Seine Vorbehalte wirken sich auch auf seine zwischenmenschlichen Beziehungen aus, doch letztendlich ergibt er sich den Dingen so, wie sie sind (oder erscheinen?).
Das Große (Rationalität vs. Emotionalität) ist im Kleinen (Verhalten in einer Beziehung) gekonnt dargestellt.
Würde ihn der Anblick der Erdkugel aus dem All überzeugen? Einen wahren Skeptiker wohl nicht, ähnlich den Theologen, die sich weigerten durch Galilei`s Teleskop zu schauen.
„der in den meisten Fällen den Schritt durch die Wand macht“ - hier hört man doch ein wenig Beleidigung und Trotz heraus, der Rationalist hat doch Emotionen. Hat mir gut gefallen.
Natürlich haben nicht nur Rationalisten mit philosophischen Problemen zu kämpfen, und die meisten Menschen bleiben bei ihrem Bemühen um Anerkennung nicht bei der Zweisamkeit stehen - doch das wäre dann wahrscheinlich schon die nächste Story...

Noch einige Änderungsvorschläge:
„der wahrhaftigen Tatsachen“ offenbart. „dass nur wir selbst uns selbst bedauern“ - sondern, dass wir uns nur selbst bedauern. „als einen Teil unser definiert“ - als einen Teil von uns definiert.
„welcher Verlauf die Geschichte“ - unsere Geschichte?
Bei Shakespeare und dem Wahnsinn finde ich es so günstiger: Shakespeare ein Genie, ein Wahnsinniger, oder beides war.
„Sie bewirft mich“ - sie konfrontiert mich.
„eine Lösung“ aus unserem Disput „heraus zu filtern“.
„die Erde von dort oben wirklich“ kugelförmig „aussieht“ - `rund´ kann auch eine Scheibe sein.
„ich denke etwas anderes, als (was) ich meine“ - sind Meinungen nicht Gedanken?

Alles Gute,

tschüß... Woltochinon

 

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