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Ich zähle bis drei
Ich zähle bis drei
Man könnte mir die Haare an den Beinen mit Wachs entfernen, ich würde nicht mit der Wimper zucken. Auch wenn jemand auf den Fingernägeln kaut, läßt mich das kalt. Das Einzige, das mich wirklich weich macht, sind Zahnschmerzen. Besonders dann, wenn es meine eigenen Zähne betrifft. Hinten links oder in der Mitte oben ist es am schlimmsten. Vor ein paar Wochen habe ich mich vier Tage lang von Weingummis ernährt, weil meine Schneidezähne nach dem Verzehr eines grobkörnigen Schwarzbrotes so sehr wackelten, daß ich nichts anderes mehr essen konnte. Dummerweise habe ich mir am vierten Tag mit einem schwarzen Exemplar der englischen Gummiteile die Füllung eines Backenzahnes entfernt. Das Loch war groß, ziemlich groß. Das merkte ich, als ich mich an den Rand stellte und einen Stein hinunterfallen ließ: Es dauerte eine ganze Weile, bis ich endlich den Aufprall hörte. Der Gang zum Zahnarzt war unvermeidlich.
Ich muß vielleicht erwähnen, daß meine Angst vor Zahnärzten größer ist als die vor Zahnschmerzen, und das nicht ganz unbegründet. In meiner Jugend war ich oft beim Zahnarzt, hatte aber das Pech, bei einem Sadisten gelandet zu sein. Genauer gesagt: Bei einer Sadistin. "Wenn es weh tut, kurz Laut geben. Dann zähle ich bis drei und höre auf." Ich bin jedesmal darauf reingefallen, jedesmal zählte sie bis zwei und hörte nicht auf. Und ich kann mich noch an ihr Grinsen erinnern, wenn mir die Tränen in die Augen traten, und die Sprechstundenhilfen, die mich an den Armen und Beinen festhielten, grinsten ebenfalls. Wenn ich aus dem Behandlungszimmer kam, dann grinsten mich die Patienten an, weil meine Schmerzensschreie nicht zu überhören gewesen waren. Angeblich versammelte sich während meiner Behandlungstermine regelmäßig vor der Praxis eine grinsende Menge, die sich aber sofort auflöste, wenn ich das Haus verließ. Die gute Frau, die mich damals behandelte, starb unter mysteriösen Umständen: Sie wurde von einer Schreibmaschine erschlagen. Ich selbst hatte ein gutes Alibi, denn mich plagten heftige Zahnschmerzen. Allerdings hätte ich später gern meine Schreibmaschine wiedergehabt.
Wie dem auch sei: Vor ein paar Wochen mußte ich mit diesem gigantischen Loch zum Zahnarzt und ich suchte mir aus den "Gelben Seiten" einen Arzt heraus, dessen Name mir sympathisch erschien, den ich aber jetzt nicht nennen möchte. Es dauerte nicht lange, bis ich einen Termin bekam, genaugenommen saß ich schon zehn Minuten nach meinem Anruf im Wartezimmer. Im selben Moment, in dem ich die Praxis betrat, verschwanden auch die Schmerzen. Und ich fragte mich, warum ich überhaupt hierher gekommen war. Aber um das Haus wieder zu verlassen, mußte ich an der Anmeldung vorbei: Kreativität ist meine Stärke
"Ich habe ganz vergessen, den Herd auszumachen.", erklärte ich der jungen Dame im Vorübergehen, doch sie sah mich nur spöttisch an, und so stürzte ich auf die Tür mit dem Schild "Ausgang" zu. Es war ein hinterhältiger Trick, einer, der nur von Zahnärzten praktiziert wird. Oder von mittelalterlichen Mönchen, von Bartträgern oder Versicherungskaufleuten, denn hinter dem Schild "Ausgang" verbarg sich das Behandlungszimmer. Die Tür schloß sich fast geräuschlos, und ein Mann in weißen Kittel lächelte mich freundlich an. Es gab keinen Weg zurück, das Drama nahm seinen Lauf.
"Sehr gemütlich haben Sie es hier.", stammelte ich und ruckelte an der Tür, die jedoch fest verschlossen war. "Kann ich Ihnen helfen?", fragte der Arzt und zog sich gelassen die Gummihandschuhe an. Wie aus dem Boden gestampft tauchten im selben Moment zwei blonde Frauen auf, die ebenfalls weiße Kittel trugen, und die sich so ähnlich sahen, daß ich mich fragte, ob Zahnärzten das Klonen von Angestellten erlaubt sei. "Nein, ich bin ganz zufrieden.", entgegnete ich und tänzelte wie ein Boxer um den Behandlungsstuhl, versuchte dabei, eine Lücke in der Reihe der drei Weißkittel zu finden, denn hinten, am anderen Ende des Raumes, konnte ich eine Tür ausmachen, die sicher nicht verschlossen war. Ein Sprung aus dem Fenster kam nicht in Frage, denn die waren doppelt verglast und von außen vergittert. Meine Lage war ernst, aber nicht hoffnungslos und so versuchte ich, meine Gegner in die Irre zu führen: "Ich bin gar nicht versichert", rief ich durch den Raum.
Ich hoffte auf einen Moment der Verwirrung, doch der Gegner war auf alles vorbereitet und zeigte keine Anzeichen von Unsicherheit. Im Gegenteil: Die Drei grinsten, und diesen Gesichtsausdruck kannte ich nur zu gut, denn er erinnerte mich an meine alte Schreibmaschine, die ich nun gut hätte gebrauchen können. Der Gegner formierte sich, deckte den hinteren Teil des Raumes geschickt ab und kreiste mich langsam ein. Das Ganze erinnerte mich an American Football, doch leider bin ich sportlich vollkommen unbegabt: Mein verzweifelter Sprung in die Verteidigungslinie des Gegners schlug fehl, die geklonten Sprechstundenhilfen packten mich mit stahlhartem Griff und drückten mich unter den forschen Kommandos des Arztes auf den Behandlungsstuhl. "So, war doch halb so schlimm.", grinste er, "Jetzt gucken wir uns das Desaster mal an, denn ich will Ihnen ja helfen."
Der Haken in seiner rechten Hand wirkte auf mich eher wie ein Utensil aus einem Piratenfilm, als wie ein Mittel, um mir zu helfen: "Waren Sie denn mal kürzlich im Kino?", versuchte ich ihn abzulenken, doch das war ein Fehler: In dem Moment, in dem ich den Mund öffnete, schob er mir einen Keil zwischen die Zähne und stocherte mit diesem spitzen Haken herum, daß mir die Tränen in die Augen schossen. Dabei war es weniger der Schmerz, sondern die Erinnerung an meine Schreibmaschine, die mich weinen machte, weil ich sie schrecklich vermißte. Glaube ich. Aber vielleicht brannte mir auch der unangenehm scharfe Mundgeruch der beiden Geklonten in den Augen. Das Letzte, an das ich mich erinnere, sind ein paar bildhafte Fetzen, das Aufheulen des Bohrers, und die Worte des Arztes: "Wenn es zwickt, dann geben Sie Laut und ich zähle bis drei..."
Man glaubt gar nicht, wozu der menschliche Körper in der Lage ist, welch übermächtige Kräfte in ihm stecken. Der Witwe des Zahnmediziners möchte ich auf diesem Weg noch einmal zu der gelungenen Trauerfeier gratulieren.
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