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Ich wusste nicht, was sagen, und ich sagte nichts.
Als der Mann ohne Gesicht die Bar betrat, war es schon spät abends. Ich saß auf einem wackligen Barhocker, stützte meine Ellbogen auf den Tresen und nippte an meinem vierten Drink, vielleicht war es auch der fünfte. Ich hatte ein flaues Gefühl im Magen, von den vielen Oliven, die in den kleinen Schalen auf dem Tresen gelegen hatten. Trotzdem war ich noch hungrig und überlegte gerade, ob ich was essen gehen sollte, als er sich neben mich setzte. Ich sah ihn an und ich erschrak nicht, obwohl er kein Gesicht hatte. Lange, schmale Narben zogen sich von der Stirn über seine Wange, bis zum Kinn. Oder sogar bis zum Hals? Das war das Problem, man konnte nicht erkennen, wo seine Wangen oder sein Mund waren. Oder wo die Stirn begann, die immer noch Wange sein konnte. Alles verschwamm miteinander und dann war da nichts mehr.
„Was trinken Sie da?“ Er drehte sich zu mir um. Warme Aussprache. Südstaaten. Seine Stimme war tief und angenehm und beruhigend.
„Single Malt. Gutes Zeug. Larry hat ‘ne feine Auswahl, dem kann man trauen.“
„Danke, dann genehmige ich mir auch einen.“ Und er ließ es Larry wissen.
Larry brachte den Whiskey und stellte eine neue Schale Oliven vor meinen Drink. Mein Magen knurrte. Ich hörte kichernde Frauenstimmen hinter mir, die Bar hatte sich wieder etwas gefüllt. Larry lief nach hinten und nahm ihre Bestellungen auf.
„Ist ‘n guter Stoff.“ Der Mann ohne Gesicht hob sein Glas. Das Eis klirrte, als wir anstießen. Er trug ein zerknittertes Hemd mit fleckigem Kragen, der breit war und abstand, wie er in den 60ern Mode war.
„Sind Sie öfter hier?“, fragte er.
„Ab und zu mal, ja. Is‘ in der Nähe meines Büros, also ist’s ganz praktisch. Und der Whiskey ist gut.“ Er nickt.
„Und Sie? Das erste Mal hier, nehm‘ ich an?“, sagte ich.
„Mm. Seit ein paar Tagen bin ich hier in der Stadt. Bald geht’s dann wieder weiter.“
„Geschäftsreise?“
„Ne, das is‘ ein Teil meines Jobs. Ich male Bilder und stelle überall aus, wo ich kann.“ Er lächelte stolz. „Ich fahr‘ so mit meiner Frau quer durch die Staaten. Wo’s uns gefällt, machen wir Halt und bleiben ‘ne Weile. Dann versuch ich mein Glück mit den Bildern. Und uns gefällt’s an vielen Orten, nichts hält uns. Das ist schön.“
„Das glaub‘ ich. Würd‘ auch gerne mal wieder n‘ bisschen rumkommen.“
Er musterte meine Kleidung. Ich trug einen schwarzen Anzug und ein hellgraues Hemd, bei dem ich die obersten Knöpfe geöffnet hatte.
„Was tun Sie beruflich?“
„Ich arbeite an der Börse. Investment“, sagte ich.
„Lassen Sie mich raten. An der Stock Exchange?“
„Jep. Sie kennen sich aus?“
„Hab jahrelang an der Börse gearbeitet, bevor ich angefangen hab‘, zu malen. Sie wissen ja, wie das ist, ständig bangt man um seine Stelle. Und dann über Nacht, macht’s zack, und alle müssen gehen.“
Ich nickte. „Da haben Sie verdammt recht.“
Ich drehte mich auf meinem Barhocker um und blickte in Richtung Toilette, der einzigen in der Bar. Niemand stand davor, also ließ ich den Mann ohne Gesicht kurz allein.
Als ich zu meinem Platz zurücklief, sah ich zwei Frauen miteinander tuscheln. Beide stocherten dabei in ihren Martinis herum. Die eine war blond. Sie hörte der anderen zu und versuchte angestrengt ihr Kichern zu unterdrücken, wie ein kleines Mädchen, das während dem Unterricht nicht vom Lehrer erwischt werden möchte. Sie war schön. Ihre Beine waren schlank, aber nicht dürr. Und lang. Sehr lang. Beide schauten immer wieder verstohlen in die Richtung des Mannes, der kein Gesicht hatte.
„Wie gefällt’s Ihnen hier?“, fragte ich ihn und setzte mich wieder auf meinen Hocker.
„Gut, mich beeindruckt vor allem die Architektur. Wahnsinnig hohe Gebäude, das ist immer wieder was Neues für mich. Das inspiriert mich, ich male gut hier, denke ich. Nur finde ich die Stadt zu groß. Das ist mir irgendwie zu anonym, verstehen Sie? Und ich hab‘ dabei komischerweise das Gefühl, ich fall hier total auf.“
Ich nickte. „Kann auch ganz schön stressig sein, glauben Sie mir. Und unfreundlich.“
Er lachte. „Is‘ das hier normal, dass einen die Kassierer im Supermarkt nich‘ mal anschauen?“
Ich schmunzelte. „Seien Sie froh, dass Sie nicht im Winter hier sind, ich sag’s Ihnen. In welchem Hotel sind Sie? Vielleicht kann ich Ihnen paar nette Ecken empfehlen. Mit freundlicheren Menschen. Glauben Sie mir, die gibt’s selten, aber es gibt sie.“
„Wir haben ein Apartment, ich und meine Frau. Nicht weit von hier. Das is‘ uns lieber. Kann man mal was selber kochen und man ist für sich, verstehen Sie?“
Ich nickte.
Larry stellte mir neue Oliven hin. „Noch ‘n Schluck? Ich lad‘ Sie ein“, sagte ich zu dem Mann. Larry machte uns die Drinks.
Die blonde Frau lief an die Bar und bestellte zwei neue Drinks. Sie stand neben dem Mann ohne Gesicht und ich lehnte mich etwas zurück und sah mir ihre Beine an. Wahnsinn, dachte ich.
„Wo haben Sie gedient? Vietnam?“, fragte sie den Mann, der kein Gesicht hatte.
Daran hatte ich auch schon gedacht.
Als sie ihn das gefragt hat, hat das etwas mit ihr gemacht. Sie war jetzt anders. Nicht mehr schön.
„Nirgends. Untauglich, Gott sei Dank“, antwortete der Mann. Er sagte es ganz ruhig, nicht verärgert oder verletzt. Wundert er sich nicht, weshalb sie ihn danach fragt?, dachte ich.
Sie nickte und sagte kein Wort, sie schien ihm nicht zu glauben. Dann ging sie mit den Drinks wieder nach hinten.
„Die Frage kenn‘ ich. Da is so ‘ne Ehrfurcht drin in den Menschen. Ich bin im Krieg gewesen, da sind sie sich alle ganz sicher. Dabei hab‘ ich nie gekämpft“, sagte er.
Ich wusste nicht, was sagen, und ich sagte nichts.
„Man muss nicht gekämpft haben, um Narben zu haben.“, sagte der Mann ohne Gesicht.
Er nahm einen Schluck und bestellte zwei neue Whiskey. „Jetzt geb‘ ich einen aus.“
„Danke“, sagte ich. Dann sagte ich: „Darf ich mir ihre Bilder ansehen?“
„Ähm, klar. Die hängen in meinem Apartment, aber Sie können mitkommen. Ich zeige sie gerne“, sagte er.
Wir zahlten die Drinks und gingen. Die blonde Frau war wohl auf der Toilette, ihre Freundin musterte uns ausgiebig, als wir die Bar verließen.
Das Apartment war verdammt klein. Die weiße Farbe an den Wänden war vergilbt und fleckig. In der Wohnung roch es nach Plastik und Erbrochenem. Oder sonst ein übler Gestank, verfaulte Lebensmittel vielleicht. In der Ecke stand ein Bett. Ein kleiner Holztisch, viele leere Whiskeyflaschen, eine Kochnische und das war’s. Eine Bruchbude, es brannten ein paar Kerzen, mehr war da nicht. Dreckige Pfannen und Teller türmten sich auf den zwei Herdplatten. Er zeigte mir die Küche und redete was von einem Induktionsherd, den er in der Wohnung davor hatte, doch ich hörte ihm nicht zu. Dann kamen wir zu den Bildern. Das war nichts. Zu bunt, zu beliebig. Hat man alles schon mal gesehen. Nur ein Bild war da, das ich mir genauer ansah. Es war nicht besser als die andern, aber auf der rechten Seite, in einiger Entfernung war da ein Mann, der dir genau in die Augen sah. Er hatte kein Gesicht. Ein Selbstporträt, wie es viele Künstler nebenbei in ein Bild packen. Und es war gut getroffen. Dann schaute ich auf das Bett, darin lag eine Person. Ein gleichmäßiges Atmen ging von ihr aus, das war beruhigend. Er redete weiter und zeigte mir die Bilder, er war sehr stolz. Dann gingen wir zum Bett und er sagte: „Das ist meine Frau.“ Dabei strich er ihr mit der Hand über die Schulter und sie schlief. An ihr war etwas Anmutiges. Sie hatte geschwungene Lippen und ein ebenmäßiges Gesicht. Ihre Haut sah unecht aus, in dem Licht der Kerzen. Sie war schön, viel schöner als die Frau in der Bar.