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Ich will töten
Mörder ist nach dem deutschen Strafgesetzbuch, „wer aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln“ einen anderen Menschen tötet. Gott hat Abels Opferlamm akzeptiert, aber Kains Gabe verschmäht. Nachdem Kain seinen Bruder Abel auf dem Feld mit einem Stein erschlagen hatte, könnte man aus verletzter Eitelkeit und vielleicht Eifersucht ein Motiv beschreiben, das unter die Tatbestandsmerkmale des § 211 StGB subsumiert werden könnte.
So glasklar wie im ersten biblischen Mord ist es keineswegs immer.
Seiner Meinung nach war er selbst kein Mörder, denn er hatte einen ihm völlig unbekannten Menschen nach dem Zufallsprinzip ausgewählt und dann die lange Stahlklinge eines Schraubenziehers mit einem Deltaschleifer angespitzt. Am nächsten Abend hatte er ihn mit einem einzigen kräftigen Stich getötet. Er war dadurch war seinem Selbstverständnis nach keineswegs zum Mörder geworden, weil er die Tat nur aus einem Grund begangen hatte, der nach seiner wenig ausgeprägten juristischen Kenntnis nicht über die sogenannten Mordmerkmale des Gesetzes verfügte.
Er wollte prüfen, ob er in der Lage war zu töten. Ein anderes Motiv gab es einfach nicht.
Mordlust? Nein, es war für ihn ein nüchterner, vollkommen lustfreier Selbsttest. Sexuelle Erregung? Nein, absolut nicht. Eine solche Art der Triebabfuhr spielte nicht einmal in seinen dunkelsten Phantasien eine Rolle. Habgier, in welcher Form auch immer? Nein, er wusste beispielsweise gar nicht, ob sein Opfer eine Brieftasche bei sich getragen hatte.
Natürlich hatte er sein Vorhaben geplant und vorbereitet. Sofort tödlich sollte sein senkrechter Stich von hinten in die Schulter hinter das Schlüsselbein bis ins Herz sein. Er hatte im Web eine bildliche Darstellung dazu entdeckt. Seine präparierte Waffe hatte er zuvor niemals berührt, ohne Latexhandschuhe zu tragen. Er hatte den Tatort vorher inspiziert. Heutzutage gab es nur noch wenige Plätze, an denen man nicht befürchten musste in eine Videoüberwachung zu geraten. Als potenzielles Opfer hatte er vor der Tat auch Frauen, Kinder, kräftige Männer und auf Anhieb erkennbare Ausländer ausgeschlossen. Er wollte im Nachhinein keine Diskussion über Fremdenfeindlichkeit entfachen.
Er hatte ihn am Vortag sorgfältig beobachtet. Er kam wieder um dieselbe Zeit nach Hause. In der Mitte des nicht ausgeleuchteten Hofeingangs stand er, beugte sich sichtlich bemüht über den Türgriff und versuchte einen Schlüssel in das Schloß zu schieben. Der ältere gekrümmte Mann litt vielleicht an einer Bechterew-Erkrankung und vielleicht hatte er ihm sogar einen Dienst erwiesen, vielleicht von einem Leiden erlöst. Er hatte nicht abgewartet bis der Mann zusammen gebrochen war. Eine Agonie, ein langer Todeskampf musste ausgeschlossen sein, weil der Stich perfekt von ihm gesetzt worden war. Er wendete sich sofort ab. Ohne Fluchtreflexen nachzugeben, verließ er gemessenen Schrittes den Ort. Während oder gleich nach seiner Tat drängte sich ihm der Gedanke auf, ob er nicht ein guter Chirurg geworden wäre.
Am nahe gelegenen Strom entsorgte er die Tatwaffe mit einem weiten Wurf ins Wasser, die Latexhandschuhe steckte er in einen Gulli.
Am nächsten Tag war es sonnig, und er hatte sich auf die Terrasse eines Cafés in der Fußgängerzone gesetzt. Er trank einen Espresso und blätterte in der Lokalzeitung. Man berichtete von einem bisher rätselhaften Mord in der Altstadt. Jemand sei heimtückisch von hinten erstochen worden. Die Spurensicherung sei bisher noch zu keinen verwertbaren Ergebnissen gelangt.
Heimtückisch also? § 211 Strafgesetzbuch? Wieso denn heimtückisch?
Ein Kind solle man zeugen, einen Baum pflanzen, einen ordentlichen Beruf erlernen, eine gute Ehe führen, die Umwelt sorgsam behandeln. Alles das stand schon länger auf der Habenseite seines Lebens. Und seit gestern fühlte er sich so, als ob jetzt nichts Wesentliches mehr zu tun sei. Er empfand eine für ihn neuartige Genugtuung, so, als habe er alle Punkte einer To do list erfolgreich abgearbeitet. Er war um eine elementare Lebenserfahrung reicher geworden.
An der backsteinernen Hauswand des Cafés rankte ein alter stämmiger Blauregen bis zum Dachfirst hoch und hatte sie in ein hellblaues Blütenmeer getaucht. Darinnen summten und brummten unzählige Bienen und Hummeln. Er beschloss, noch eine Weile auf der Terasse zu verweilen, um den Sommertag zu genießen. Pralles Leben im Hier und Jetzt. Ein perfekter Tag.