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Ich widme dies der Fliege
WUSCH! Und die Fliege war tot.
Erstarrt auf meiner Fensterbank, nicht mehr am bewegen oder fliegen.
Tot.
Eines der sechs Beine ausgestreckt, ein anderes fehlend.
Die Augen waren nicht geschlossen, wie hätte eine Fliege auch die Augen schließen können. Die Flügel lagen da, halb durchsichtig, so zerbrechlich, als könnten sie sich jeden Moment in Luft auflösen, oder einfach zu Staub zerbröseln. Warum auch nicht? Gebrauchen konnte die Fliege die Flügel ja nicht, sie war ja tot. Ein kleiner, schwarzer Fleck auf meiner Fensterbank, so klein, es hätte ein Klümpchen Dreck sein können.
Aber ich wusste es war mehr als nur Dreck. Es war etwas, was gelebt hatte. Geatmet, wie wir. Ein Leben gehabt, wie wir.
Wer weiß, vielleicht war die Fliege gerade auf dem Weg zu ihrem Tod gewesen, eine alte Fliege, die wusste, dass ihr Leben bald vorbei war.
Aber was, wenn nicht? Was, wenn die Fliege eine Mamafliege war, und hier in der warmen, nicht zu nassen, nicht zu trockenen Küche ein guten Platz für ihre Brut gefunden hatte? Vielleicht hatte die kleine Fliege gerade die Liebe ihres Lebens gefunden, hätte ein vollkommenes Leben begonnen... und ich habe sie gewaltsam ermordet? Vielleicht ist jetzt irgendwo in der Gegend hier eine einsame Fliege, ein einsames Fliegenkind, oder mehrere Kinder, die nicht wissen, dass hier, auf meiner Fensterbank, zwischen Staubkrümeln und normalem Küchendreck, die Fliege, auf die sie warten, liegt, tot, durch einem tollpatschigen Menschen erschlagen? Oh, welch Schandtat ich ergangen habe. Ich Familien-Vernichter, Lebensauslöscher, Kindheitstraumatiker.
Ich erinnere noch genau, was die Fliege in ihren letzten fünf Minuten getan hatte. Gesummt hatte sie, wie eine Irre, sie wollte wahrscheinlich hinaus. Womöglich zu ihren Kindern. Ich weiß noch, wie ich ihr bei ihren verzweifelten Versuchen zugesehen habe. Ich wollte ihr helfen. Ich wollte der kleinen Fliege helfen, verdammt noch mal, nicht verletzen, und schon gar nicht töten!
Wollte sie in meine Hände nehmen, ihr gute Worte zuflüstern und ihr sagen, dass ich sie nun hinaustragen werde. „Kleine Fliege“, wollte ich ihr zu flüstern. „Bald wirst du deine Familie wieder sehen. Bald bist du frei, entlassen aus diesem Haus.“
Aber natürlich ging es schief. Als ich versuchte sie zu greifen, wehrte sie sich. Wie hätte das kleine Ding, mit ihren tierischen Sinnen, auch wissen können, dass ich ihr helfen wollte. Sie versuchte aus meiner Hand freizukommen, und sie hätte es beinahe geschafft, hätte ich nicht besser zu gedrückt.
Das war der Fehler. Ich hatte sie in meinen Fingern eingequetscht, und als ich kein Kitzeln an meinen Fingern mehr spürte, öffnete ich meine Faust.
Die Fliege fiel auf die Fensterbank.
Sie war noch nicht ganz tot. Ich konnte noch immer ein Zucken in den Flügeln erkennen, ein Regen in den Beinen, ja, ich konnte sogar ein quälendes Stöhnen vernehmen! Ich konnte sie nicht mehr ansehen. Der Tod der Fliege war auf seinem Weg. Gerufen durch meine Hände, kroch er langsam in den hilflosen Klumpen und nahm ihm alle Kraft. Ob die Fliege überhaupt noch etwas mitbekam? Oder ob sie, wie man behauptet, ihr Leben noch einmal vor ihren Augen sah? Ihre Geburt, ihre vielen Geschwister, ihr erster Flug, ihr erster Brotkrumen, die Geburt ihrer vielen Kinderfliegen, deren erster Flug, deren erster Brotkrumen, deren letztes Mal zusammen, ihr letzter Flug, die kalte Hand, die sie erdrückte... Ich nahm eines der Morgenmagazine, die sich unter dem Tisch stapelten, und schlug zu.
WUSCH! Und die Fliege war tot.