Ich weiß um dein raues Grau
Ganz vorsichtig streiche ich mit meinen Händen über seine schmalen Schultern und erschrecke wie jedes Mal aufs Neue, wenn ich seine Knochen so überdeutlich wahrnehme. Ich will ihn ganz fest umarmen, doch ich traue mich noch immer nicht, obwohl ich weiß, dass ich ihn nicht zerbrechen kann. Er löst sich von mir und dann stehen wir voreinander und mustern uns. Die Zeiten, in denen ich ihn nicht richtig ansehen konnte, sind vorbei, trotzdem kann ich nichts dagegen tun, dass ich bei seinem Anblick zusammenzucke und innerlich einen Schritt von ihm wegtrete. Es sind nicht seine eingefallenen Wangen oder das heraustretende Schlüsselbein, die meinen Blick kaum zulassen, sondern seine Augen. Fabian schaut nicht weg, als ich ihn ansehe und auf diese Weise erzählt er mir mehr, als er vielleicht möchte. Seine Freude über unser Treffen teilt er mir ebenso mit wie sein Heimweh und die Tatsache, dass er denkt, nicht stark genug zu sein, auch wenn ich an ihn glaube.
Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als mit ihm an meiner Seite diese weißen Wände und den Geruch nach Desinfektionsmittel hinter uns zu lassen und hinaus auf die Straße zu treten, wo uns das Rauschen der Blätter empfängt und zurück ins Leben holt. In meiner Vorstellung dreht er sich zu mir um und lacht, bevor er vorwärts geht und sich seine Krankheit wie einen Mantel von den Schultern streift. Die Fahlheit, die seine trockene Haut wie einen Schleier überzieht, fällt zu Boden und mit jedem Meter, den er zurücklegt, verwandelt er sich in den Bruder zurück, den ich so sehr vermisse. Er lässt mich vergessen, wie groß Augen in einem ausgehungerten Gesicht wirken können.
„Wie machen wir es heute?“, fragt Fabian mich mit zittriger Stimme. „Wir haben zwei Stunden.“
Ein mildes Lächeln huscht über mein Gesicht, um zu überdecken, dass ich deshalb nervös bin. Ich weiß, dass er es ebenfalls ist und fühle mich mit ihm verbunden, auch wenn mir mit jedem Atemzug erneut bewusst wird, dass er im Gegensatz zu mir eine Schlacht wird schlagen müssen.
„Lass uns erstmal eine kleine Runde drehen.“, sage ich zu ihm und spüre seine Erleichterung noch, als er sich längst auf den Weg in sein Zimmer gemacht hat, um seine Jacke zu holen.
Auf ihn wartend beobachte ich die anderen auf der Station, deren Namen ich alle immer vergesse. Wie ein Eindringling in ihre Welt fühle ich mich, während ich ihnen dabei zusehe, wie sie Karten spielen und mit ihren langen dünnen Fingern auf den Tisch trommeln, wenn sie nicht am Zug sind. Der Anblick dieser kranken jungen Menschen hält mich gefangen und untergräbt nicht selten meinen Willen zu akzeptieren, Fabian wäre einer von ihnen.
Dann machen wir uns auf den Weg und treten tatsächlich hinaus auf die Straße, doch er dreht sich nicht zu mir um und lacht mich auch nicht an und er verwandelt sich nicht in den Bruder zurück, den ich vermisse, sondern er bleibt der, der er jetzt ist. Ich besitze ein Verständnis für ihn und für das, was in seinem Kopf vor sich geht, doch in diesem Moment, in welchem er vor mir läuft und mir deutlicher denn je zeigt, wie wenig noch von ihm übrig ist, will ich ihn packen und so lange schütteln, bis er frei ist von der Stimme, wie er sie nennt. Jedes Buch und jeder Arzt hat mir klar gemacht, dass diese Stimme nicht eines Nachts durch seine Ohren in seinen Kopf gekrochen ist und sich dort alles zu eigen gemacht hat, sondern dass er selbst die Stimme ist. Ich verstehe das, sehe sie aber trotzdem wie einen dunklen Schatten neben ihm laufen und immer zum Stolpern bringen, wenn er sich in die richtige Richtung aufmachen will.
Fabian sagt wie ich kein Wort. Unser Schweigen hüllt uns ein und macht sein Leid irgendwie gewaltlos, da keine Mütter Vätern Schuldzuweisungen an den Kopf werfen und kein Mediziner etwas von Überlebenschancen und Gehirnschäden erzählt. Keiner von uns hat es je ausgesprochen, doch uns beiden ist klar, dass wir umgeben sind von herzlosen Steinen, die sich bei keinem Fortschritt mitfreuen und bei keinem Tiefschlag mitleiden können. Ich bin der einzige, der es kann und tut. Es gibt damals wie jetzt nur uns zwei, gerade eben umgeben von Freiheit und losgelöst von weißen Wänden und anderen kranken Menschen. Fabian öffnet sich mir, indem er nicht darüber redet, welches Buch er gerade liest oder wie lustig der Film von gestern war, wie er es vor Mum und Dad tut, damit sie nicken und wieder nach Hause fahren können, ohne dazu gezwungen worden zu sein, ein wahres Wort mit ihm zu wechseln und sich mit ihm auseinanderzusetzen. Stattdessen zeigt er mir die Wahrheit, die zwar nicht schön ist, aber dafür eine Chance, ihn nachzuvollziehen.
Er bleibt stehen. „Theo?“
An der Art, wie er meinen Namen sagt, erkenne ich, dass mir der Verlauf des Gesprächs nicht gefallen wird. „Ja?“
„Darf ich einen Vorschlag machen?“
„Kommt darauf an.“, antworte ich langsam und wünsche mir die Stille zwischen uns zurück.
Fabian beißt sich auf seine bläulich verfärbte Unterlippe. „Ich sage, wir verlängern unsere Runde und machen das mit dem Café erst nächste Woche oder so."
Die Stimme legt ihre knochigen Finger um seinen Hals. „Schlechte Idee, du frierst.“
„Ich will da nichts essen.“
In mir tobt ein Sturm, als ich meinen Mund auf seine graue Stirn presse und dann seine rauen Hände fest umfasse. „Ich weiß.“
Wir verlängern unsere Runde nicht, weil ich keiner dieser Steine um uns herum bin.