Ich weiß es nicht
Morgen ist der 2. November 1991. In Weilhausen freut sich ein kleines Mädchen auf ihren Geburtstag, und fragt sich, ob sie die Rollerblades bekommt, die sie sich schon seit Monaten wünscht. Sie wird es nie erfahren, denn morgen wird sie von ihrem Vater entführt werden. Und übermorgen wird sie tot sein, gestorben auf der Ladefläche eines nagelneuen Ford Transit. Ein Unfall, wird der Vater später sagen, er hätte die Tochter nur vor seiner, wie er sich ausdrückte, durchgeknallten Mutter in Sicherheit bringen wollen. Gut gemacht, Daddy, wirklich gut gemacht. Ich werde nicht nach Weilhausen fahren, um sie zu retten, nicht dieses Mal. Die Frage war nur, werde ich hinfahren, um ihre Mutter zu treffen? Um Sarah zu treffen? Ist das zu riskant? War die Weltgeschichte wirklich so zerbrechlich, dass eine simple Liebesgeschichte sie schon aus dem Angeln heben konnte? Nur ein Mann und eine Frau? Ich weiß es nicht.
Würde sie mich überhaupt noch wollen? Ich war acht Jahre älter als beim ersten Mal, und wahrscheinlich sehe ich noch viel älter aus. Wir sind nicht mehr 28 und 32. Dieses Mal wäre ich 40, und sie immer noch 28. Und wie würde sie den Tod ihrer Tochter verkraften? Könnte sie sich unter den Umständen überhaupt in mich verlieben? In überhaupt irgendjemanden? Ich glaube ja, vielleicht brauchte sie dieses Mal nur mehr Zeit. Ich glaube nicht an Schicksal, aber ich glaube an die Liebe. Ich glaube, dass Blut an Blut appelliert. Ich glaube, dass Verstand mit Verstand korrespondiert, ich glaube, dass ein Herz das andere erkennt. Sarah, die mich küsst und dabei an meinen Lippen knabbert. Sarah, die mich auffordert an ihren Haaren zu ziehen, während wir uns lieben. Sarah, die auf mir sitzt und lacht. Ist das zu viel verlangt? Konnte das alleine eine ganze Welt in den Abgrund ziehen? Ich weiß es nicht.
Seit Wochen sitze ich in diesem kleinen Zimmer, in einer Pension am Waldrand von Augsburg und schreibe, wie ein Besessener, jeden Tag für viele Stunden. Als könnte mir das Schreiben eine Antwort liefern. Meine Hand schmerzt und ich bin noch kein bisschen schlauer. Würden Papier und Stift, die ich hier gekauft habe, schon ernsthafte Auswirkungen auf die Geschichte haben? Dass es Rückstände hinterließ war mir inzwischen klar. Und ein Mann und eine Frau? Wie wäre ein ganzes Leben, wieviel Rückstände hinterlässt das wohl? Und Kinder? Sie würde vielleicht weitere Kinder haben wollen. Kinder, die niemals hätten sein sollen. Würde das ausreichen, um die Welt in den Abgrund zu senken? Ich weiß es nicht.
Aber der Neustart ist jedes Mal perfekt, fast perfekt. Nur geringe Abweichungen, belanglos, nicht geeignet, um eine ganze Welt aus den Fugen zu heben, oder? Ich könnte es versuchen und wenn ich es versaue, einfach durch und das Ganze von vorn. Das hatte ich schon oft getan, warum nicht auch dieses Mal? Weil die Passage instabil ist, flüstert mir eine leise Stimme zu. Das nächste Mal konnte das letzte Mal sein. Durfte ich das riskieren?
Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht.
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Gestern war ich an der alten Brauerei, die Passage ist noch da, wenn auch instabil. Sie flackert und sie flimmert, so wie Asphaltstraßen an heißen Sommertagen das manchmal tun. Auf dem Rückweg setzte ich mich auf eine Bank. Vor ihr stand auf dem mit Sand mit ausgekleideten Bereich, eine Schaukel, auf dem ein kleines Mädchen langsam vor und zurück pendelte, sie mochte vielleicht vier oder fünf Jahre alt sein. Ein paar Schritte entfernt, das Kind nicht aus den Augen lassend, stand eine hochgewachsene blonde Frau. Als sie sah, dass ich mich hinsetzte, ging sie einige Schritte auf das Kind zu und stellte sich mit dem Rücken zum Rahmen der Schaukel, den Blick in meine Richtung gewandt. Ich fand, sie sah ein wenig wie Sarah aus, ihr Gang allerdings war ein ganz anderer. Sarah machte zwischen jedem Schritt kleine Hopser, legte ihr Gewicht in die Zehenspitzen und drückte sich dann kurz hoch. Eine Angewohnheit, die sie einfach nicht loswurde, egal wie oft sie es auch versuchte. Sie sagte oft, dass sie als Politikerin doch keiner ernst nehmen konnte, nicht mit so einer kindlichen Gangart. Für mich war es eins der ersten Dinge, die ich an ihr liebte. Ein Kontrast zu ihrer sonst so bedachten Art sich zu bewegen.
Die Bank und die Feuchtigkeit, die durch den Hosenboden meiner Jeans drang, erinnerten mich an ein Gespräch auf einer ganz ähnlichen Bank, als ich in etwa fünf Jahre jünger war als heute. Sarah neben mir, den Blick in die Baumwipfel über uns gerichtet.
„Ist Aaron dein richtiger Name“, fragte sie mich, ohne den Blick von den Baumwipfeln abzuwenden.
„Nein, eigentlich heiße ich Alexander.“
„Alexander gefällt mir besser.“
„Ja, wirklich?“
„Er klingt einfach besser, so als… so als würde er eben zu dir gehören.“
Wir schwiegen eine Weile.
„Schatz, wozu der falsche Name? Sagst du mir das?“
„Ich weiß eigentlich nicht so genau, es erschien mir einfach sicherer.“
„Sicherer? Gibt es etwas… oder jemanden vor dem du dich schützen musst?“
„Nein, eigentlich nicht, also nichts Ernsthaftes. Aber wer weiß was beim Reisen alles passieren kann, es erscheint mir einfach sicherer.“
Ich sah sie lange schweigend an, wagte es kaum zu atmen, wagte es überhaupt kaum mich zu rühren. Ich hatte erwartet, dass sie es nach dem letzten Gespräch einfach totschweigen würde. Das war sicher einfacher als zugeben zu müssen, dass man mit einem Verrückten verheiratet war, nicht wahr?
Sie seufzte ein wenig, und drehte den Kopf zur Seite, so dass ich ihr Gesicht nur noch zu einem Viertel sehen konnte.
„Ich weiß, dass du hier aus der Gegend bist, der Dialekt ist unverkennbar. Aber ich weiß nicht, ich meine… von wann bist du?“
Ich schwieg, stieß die verbrauchte Luft aus, die sich in mir angestaut hatte. Wagte es wieder nicht zu atmen.
„Schatz, du muss mit mir sprechen. Ich muss alles wissen, sonst weiß ich nicht wie ich mit dir zusammen sein soll. Ich muss auch den Rest wissen. Bitte…“
Sie zündete sich mit zitternden Händen eine Zigarette an, der blaue Dunst vermischte sich mit dem Nebel. Sie sog den zweiten Zug langsam ein, und stieß den blauen Dunst mit einem harten Stoß aus ihren Lungen.
„Alexander, bitte… Von wann?“
Wie gut es klang, meinen Namen aus ihrem Mund zu hören. Es vertrieb, zumindest für den Augenblick, die Enge aus meiner Brust. Eine Enge, die sich mit jeder Lüge über meine Herkunft und jeder Lüge über meine Vergangenheit nach und nach einstellte.
Ich schwieg. Nicht, weil ich es wollte, sondern weil sich meine Zunge pelzig und trocken anfühlte.
„30 Jahre“, gelang es mir irgendwann zu krächzen, „ich komme aus dem Jahr 2021.
„30 Jahre! Da bin ich fast sechzig. Lebe ich dann noch?“
Überrasch sah ich sie an.
„Ich weiß es nicht, mein Schatz, ich weiß es nicht.“
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Die Passage ist verschwunden. Ich weiß nicht genau wann. Als ich vor zwei Tagen die Schwelle aus dem Land von damals in das Land von Heute übertrat, schien sie, wenn auch flackernd, zumindest für den Augenblick stabil. Meine Haustürschlüssel lagen auf dem Kaffeetisch, im Keller des Buchladens aus dem ich vor acht Jahren gestartet war. Wie immer waren nur wenige Stunden seit meiner Abreise vergangen. Alles schien an seinem Platz, unverändert. Nur an mir war die Zeit nicht spurlos vorübergegangen. Wenn ich heute in den Spiegel sehe, sehe ich einen Mann mittleren Alters, der vom Leben nicht mehr viel zu erwarten hatte.
Hier und da gab es kleine Abweichungen, nichts Aufregendes. Das Bild im Flur, auf dem meine Ex-Frau, auf einem Sessel sitzend in die Kamera grinst, sollte eigentlich auch ihre beste Freundin Jenny zeigen. Stattdessen saß neben ihr ein schwarzer Hund mit weißem Felllatz. Kein kleiner Hund, einer von der Riesensorte, der sie um ein Haar überragte. Klara und ich hatten nie Haustiere besessen, trotzdem wusste ich, so sicher wie ich wusste, dass das auf dem Bild Klara war, dass zahlreiche Bilder in unseren Fotoalben genau diesen Hund zeigen würden.
Es stellte sich heraus, dass ich nur das Fernsehen einschalten musste, um über Sarahs Verbleib zu erfahren. Ein eher klein gewachsener Mann hielt einer groß gewachsenen blonden, wenn auch leicht ergrauten Frau ein Mikro entgegen. Sarah, in ihren Fünfzigern, oder eigentlich fast in den Sechzigern, 58 müsste sie jetzt sein. Sie war immer noch wunderschön, meine Sarah, die ich ihre Arme um meinen Hals legt. Sarah, die mir ins Ohr flüstert, dass ich meine Hose ausziehen soll. Sarah, sie lebt, sie lebt, sie lebt!
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Seit knapp einem Jahr lebe ich nun in Berlin, ich habe Augsburg noch in der Woche verlassen, in der ich zurückgekehrt bin, und arbeite als wissenschaftlicher Mitarbeiter an einer Hochschule. Seit ich weiß, dass Sarah lebt, vermeide ich es mehr über sie zu erfahren. Ich will nicht wissen, welche politische Rolle sie spielt, wieviel Einfluss sie hat. Wenn ich an die Welt denke, die sie geschaffen hatte, fühlten sich meine Eingeweide wie etwas an, das jederzeit einfach aus meinem Magen herausplumpsen könnte. Düster, Tod und Zerstörung. Keine Hoffnung. Sicher, war sie nicht alleinverantwortlich, aber ganz sicher war sie es gewesen, die diese schwarze Maschine der Verdammnis ins Laufen gebracht hatte. Die ganze Zeit hatte ich gedacht, dass ich es war, dass meine Einmischung für die späteren Ereignisse gesorgt haben musste. Und warum auch nicht? Schließlich war mein 2021, nicht das 2021, in das ich nach meinen Jahren mit Sarah zurückgekehrt war. In meinem 2021 gab es keine Sarah, keinen Krieg, keine verseuchten Landstriche, kein verwesender Geruch, oh mein Gott dieser Geruch…
Was wäre wenn mein Eingriff in die Geschichte gar nicht der Auslöser für die fürchterliche Schieflage war? Was wäre, wenn die Welt auch ohne meine Einmischung den Bach runtergegangen wäre, nur, sagen wir vier oder fünf Jahre später? Ich erinnere mich an viele Nächte, Haut an Haut, blauer Dunst, der über ihr aufstieg, und an Fragen, viele Fragen, über die Zukunft, über Ereignisse, über Kriege, Anschläge, Politiker, Naturkatastrophen. War meine Anwesenheit im Land von damals, mit meinem Wissen über das Land von heute nur der Brandbeschleuniger, und nicht der Auslöser? Nur Öl im Feuer eines Brandes, der die Welt so oder so dahinraffen sollte? Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht.
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Meine Absicht ist einfach. Ich werde den Artikel aufrufen. Werde sehen, wieviel Parallelen es zu Sarah mit mir und Sarah ohne mich gibt. Werde sehen, ob sie ihre politische Überzeugung weiterverfolgt, ob sie den gleichen Weg einschlägt. Und wenn die Antwort ja ist, ich meine, wenn auch nur die geringste Chance besteht, dass die Antwort ja sein könnte? Was werde ich dann tun? Sie aufhalten? Das musste ich doch, oder? Was könnte dringlicher sein, als diese Welt zu retten, als diese finstere Zukunft aufzuhalten, die uns erwartet?
Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht.