Ich war noch niemals morgens um sieben in Venedig.
Paul saß am Frühstückstisch.
Zwei Scheiben Graubrot, Butter, Himbeermarmelade und zwei Tassen Kaffee. Es war sieben Uhr, ein grauer, regnerischer Septembermorgen.
Heute war der vierte Tag.
Er sah aus dem Fenster, während er sich sein zweites Brot schmierte, er trank einen Schluck des heißen, braunen, merkwürdig nach Seife schmeckenden Gebräus. Paul sah sich in der Küche um, er sah das Geschirr vom Vortag in der Spüle stehen und nahm sich vor, es später zu spülen. Er sah den Radioapparat neben dem Fenster, überlegte kurz, ob er ihn einschalten sollte, konnte sich aber nicht überwinden, lustige Moderatoren zuzuhören, die den Hörern helfen wollten, den neuen Tag fröhlich zu beginnen. Er schlug die Zeitung auf die von der ersten bis zur letzten Seite von irgendwelchen Katastrophen aus aller Welt berichtete, die ihn aber nicht wirklich berührten.
Nach zehn Minuten legte er die Zeitung achtlos neben sich auf den Boden, er hatte nichts von dem behalten, oder gar verstanden, was er gelesen hatte. Paul zündete sich eine Zigarette an, die vierte an diesem Morgen. Seit sechs Uhr war er wach. Erst stand er eine halbe Stunde am Fenster, ging dann unter die Dusche, putzte sich die Zähne, zog sich an und setzte sich kurz vor sieben Uhr an den Frühstückstisch.
Frühstück um sieben, wie immer in den letzten vierzig Jahren. Gewöhnlich beendete er sein Frühstück dann gegen halb acht, manchmal auch erst viertel vor acht, je nachdem, wie interessant er und Marianne sich während des Frühstücks unterhielten. Gegen halb neun begann er dann sein Dienst bei Koch und Co. Die letzten Jahre als Pförtner am Haupteingang, dem Tor eins, wie man es in der Firma nannte. Es war ein sehr verantwortungsvoller Posten, zumindest hatte der Herr Direktor dies bei der Rede zu seiner Pensionierung gesagt.
"Mit Herrn Melchior, unserem Herrn Paul, wie wir ihn alle nennen, verlässt heute ein Mitarbeiter der ersten Stunde unsere Firma. Ein Mitarbeiter, der von all seinen Kollegen geschätzt und geachtet wurde, der als kleiner Stift in unserer Firma begann und sie bis heute begleitete. Auch wenn die Zeiten heutzutage schlecht sind, Koch und Co. in einigen Betriebszweigen Kurzarbeit einführen musste, ja, meine Herren vom Betriebsrat, sehen sie mich nicht so vorwurfsvoll an, es musste einfach sein..." Hier kam der Direktor etwas ins Straucheln, scheinbar hatte er vergessen, dass er keine Rede zur Lage der Firma, sondern nur die Verabschiedung eines Mitarbeiters halten sollte.
"...Ja, also Herr Paul verlässt uns heute, nach mehr als vierzig Jahren, in denen er Koch und Co. zuerst in der Produktion, dann im Vertrieb und als das müde Kreuz nicht mehr mitmachen wollte, als Verantwortlicher an Tor eins wertvolle Dienste leistete!"
Leichter Beifall der etwa 20 Anwesenden klang auf.
Paul war das Ganze damals vor sieben Monaten irgendwie peinlich gewesen. Wenn er jedoch dachte, der Herr Direktor hätte nun endlich ein Einsehen und würde es dabei bewenden lassen, dann hatte er sich getäuscht.
"Unser Herr Paul wird von nun an seinen verdienten Lebensabend mit seiner lieben Gemahlin äh,..."
"Marianne!", flüsterte ihm Herr Brotschneider, der Prokurist der Firma ins Ohr.
"Ja, mit seiner geliebten Gemahlin Marianne genießen. Wir, die Firma Koch und Co. wünschen unserem Herrn Paul alles Gute für seinen wohlverdienten Lebensabend."
Dabei grinste er wie ein Politiker und hob sein Sektglas, alle anderen Anwesenden taten es ihm gleich. Alle Gäste der kleinen Zeremonie stießen mit Paul an, Glückwünsche wurden gemurmelt, mancher sah dabei verstohlen zur Uhr. Der Herr Direktor war plötzlich an Pauls Seite, übergab ihm feierlich einen Umschlag und ein Etui, ein Blitz flammte auf und Paul dachte an die Fernsehsendung mit der versteckten Kamera. Aber die Kamera war nicht versteckt, im Gegenteil, der Fotograf stand direkt vor ihm, der Direktor schüttelte Paul werbewirksam die Hand, wobei er nochmals sein Politikerlächeln aufsetzte.
Kaum hatte der Fotograf seine Aufnahmen gemacht, verschwand dieses aufgesetzte Lächeln auch schon vom Gesicht des Direktors und er verabschiedete sich hastig von Paul mit dem Hinweis auf wichtige Termine.
"Sie wissen ja, mein lieber Herr Paul, die Konkurrenz schläft nicht. Man muss immer präsent sein! Also, nochmals alles Gute für ihre weitere Zukunft."
Noch ein kurzer Blick zu den anderen Herren, ein kurzes "Wir telefonieren später noch!", zu Herrn Brotschneider und schon war der Herr Direktor im großen Dienstwagen verschwunden. Innerhalb weniger Minuten leerte sich das kleine Konferenzzimmer im Bau eins, direkt neben der Pforte. Alle außer Herrn Brotschneider, zu dem Paul immer ein sehr nettes Verhältnis gehabt hatte, murmelten ein paar Erklärungen und gingen zurück an ihre Arbeit.
"Na Paul, haben Sie schon Pläne für die nächste Zeit?", sagte der und sah Paul lächelnd in die Augen.
"Wir wollen Ende des Sommers erst mal eine zweiwöchige Reise machen, Herr Brotschneider", antwortete Paul.
"Ach lassen Sie doch den Herrn Brotschneider, nennen Sie mich einfach Wolfgang. Wohin soll’s denn gehen?", sagte Brotschneider jovial und prostete Paul erneut zu. Paul war dieses amerikanische Feeling ein wenig peinlich. Fünfzehn Jahre lang hatte er Herr Brotschneider gesagt, wenn er morgens in die Firma kam, warum sollte er jetzt, nur weil er in den Ruhestand ging, plötzlich Wolfgang sagen?
"Wir wollen zwei Wochen nach Venedig fahren. Meine Frau möchte die Sehenswürdigkeiten der Stadt kennen lernen."
"Ende des Sommers? Wäre es nicht besser, Venedig im Frühjahr zu besuchen?", fragte Brotschneider neugierig.
"Zu viele Touristen! Marianne möchte in aller Ruhe alle Museen und Plätze besuchen und das kann man am besten in der Vor-, oder Nachsaison, also wenn der Sommer bereits vorbei ist."
"Und Sie, Paul? Was möchten Sie?", fragte Brotschneider und gab Paul damit das Gefühl, wirklich Interesse an seiner Zukunft zu haben.
"Ich? Ich möchte den Sonnenaufgang in Venedig erleben", sagte Paul verträumt.
"Der Sonnenaufgang in Venedig soll etwas traumhaftes sein."
"Na dann wünsche ich ihnen und Ihrer Frau viel Vergnügen bei ihrer Reise. Wo ist denn eigentlich Ihre Frau? Wollte sie nicht an unserer kleinen Zeremonie teilnehmen?" sagte Brotschneider.
"Meine Frau fühlt sich seit einigen Tagen nicht wohl, sie hätte mich gerne heute Morgen begleitet, musste aber leider im Bett bleiben" erklärte Paul.
"Dann richten Sie ihr bitte meine herzlichsten Genesungswünsche aus, ja?"
Brotschneider schien sichtlich betroffen und verabschiedete sich ebenfalls. Nach einem kurzen Blick rundum räumte Paul seinen Spind leer, verabschiedete sich von seinen Kollegen und fuhr nach Hause.
Paul begann, sein Geschirr vom Tisch zu nehmen, füllte die Spüle mit heißem Wasser und spülte seine Tasse, sein Messer, den Teller und auch gleich das Geschirr vom gestrigen Tag. Er trocknete alles ab, räumte alles in den Schrank und ging zum Fenster. Wieder sah er hinaus, immer noch war es diesig und grau draußen, fast könnte man meinen, es sei November.
Normalerweise würden er und Marianne heute zum ersten Mal in Venedig auf dem Balkon des Hotels sitzen, dass sie kurz vor seiner Pensionierung gebucht hatten.
"Sie haben freie Sicht auf die Bucht. Sie können vom Balkon Ihres Hotels den Sonnenaufgang betrachten. Ist das Ihr erster Besuch in der Stadt der Kanäle?", fragte die junge Frau vom Reisebüro freundlich.
"Ich war beruflich einmal vor vielen Jahren dort", sagte Marianne neben ihm.
"Allerdings wohnte ich damals etwas außerhalb und konnte mir leider in der Kürze der Zeit nicht viele Sehenswürdigkeiten ansehen."
"Meine Frau hatte damals als Lektorin für ein Verlagshaus gearbeitet und hatte einen Schriftsteller aufgesucht, um noch einige Details abzuklären, bevor dessen Buch endgültig in Druck ging, wissen Sie?", erklärte Paul stolz.
"Meinem Mann und mir geht es bei der Reise in erster Linie um die Sonnenaufgänge. Mein Mann liebt Sonnenaufgänge", sagte Marianne liebevoll, nahm seine Hand und lächelte ihn glücklich an.
"Seit vielen Jahren nehmen wir uns vor, einmal im Leben nach Venedig zu fahren. Und wenn mein Mann in Rente ist, möchten wir uns diesen Wunsch endlich erfüllen. Wir freuen uns auf die Reise schon wie die kleinen Kinder."
Die junge Dame sah Paul an.
"Sie kennen Venedig noch gar nicht, Herr Melchior?"
"Man kennt eine Stadt erst, wenn man dort einen Sonnenaufgang erlebt hat. Und ich war noch nie morgens um sieben in Venedig", erklärte ihr Paul nachsichtig und mit einem weisen Lächeln.
Die junge Dame nickte verstehend.
Kurz darauf, wenige Tage vor Pauls Pensionierung kränkelte Marianne. Erst glaubte sie an eine normale Art von Unwohlsein, nach drei Tagen hatte sie hohes Fieber und Schüttelfrost. Als Paul von seiner Zeremonie nach Hause kam und seine Frau im Bett vorfand, rief er sofort Dr. Wesener an, ihren Hausarzt seit vielen Jahren. Nach der Untersuchung verabschiedete sich Dr. Wesener von Marianne und machte Paul Zeichen, mit ihm alleine sprechen zu wollen.
"Paul, ich hätte gerne, dass sie Marianne ins Krankenhaus bringen. Ich denke, ein Spezialist sollte sie sich genauer ansehen", sagte er mit ernster Miene. Paul sah ihn an.
"Haben Sie einen bestimmten Verdacht, Herr Doktor?" Dr. Wesener druckste herum.
"Keinen Verdacht, eher eine Vermutung, aber Sie sollten sich erst mal keine Sorgen machen."
Bis zu diesem Satz hatte sich Paul eigentlich keine Sorgen gemacht. Marianne war etwas jünger als er, gerade mal 59 Jahre alt, das ist doch noch kein Alter, in dem man sich Sorgen machen müsste.
Oder doch?
Der Doktor im Krankenhaus machte ein ebenso ernstes Gesicht wie Dr. Wesener am Tag zuvor. Paul hörte ihn, verstand aber nicht einmal die Hälfte von dem, was er ihnen erzählte. Pauls Gehirn schaltete ab, als der Arzt von Krebs sprach, von sechs Monaten, die Marianne noch zu leben habe, plus/minus einem Monat.
Es kann nicht sein, dachte Paul, wir wollen doch nach Venedig.
Marianne war in den Tagen nach dem Besuch im Krankenhaus der starke Fels, den Paul brauchte. Man konnte als Außenstehender den Eindruck gewinnen, Paul sei der unheilbar Erkrankte. Marianne nahm die Nachricht im Gegensatz zu Paul sehr gefasst auf, während dieser förmlich litt wie ein Hund. Jede Nacht wachte er auf, vor Angst Marianne könne ihn verlassen haben getrieben, schweißgebadet und zitternd am ganzen Körper. Marianne nahm ihn dann in den Arm und tröstete ihn. Nie vergoss sie dabei eine Träne, während Paul oft hemmungslos schluchzte.
"Ich bin doch bei dir, mein Liebling", sagte sie ihm ruhig, während sie ihn in ihren Armen wiegte.
"Du darfst nicht fortgehen, hörst du? Du darfst mich noch nicht verlassen. Unser Leben beginnt doch erst", sagte er und sah sie aus tränennassen Augen an. Fast jede Nacht wiederholte sich dieses Ritual, bist Paul entkräftet in den frühen Morgenstunden in einen kurzen, unruhigen Schlaf fiel.
Dann kamen die Schmerzen.
Dr. Wesener hatte in weiser Voraussicht verschiedene Medikamente verschrieben, er gab Marianne genaue Anweisungen, wann sie welche Mittel nehmen konnte.
"Am Ende wird ihnen nur noch Morphium gegen die stärksten Schmerzen helfen, Frau Melchior, so leid mir das tut"
"Wird der Tod langsam und quälend vor sich gehen, Herr Doktor?"
Dr. Wesener tat sich schwer, man sah ihm an, wie er versuchte, Marianne nicht mit seinen Worten zu schockieren.
"Das kann man so genau nicht sagen, es kann auch ganz schnell gehen", erklärte er ausweichend.
Marianne entnahm dieser wohldosierten Mitteilung, dass das Ende in der Regel eben nicht einfach und schnell ging. Allerdings vermied sie es, den Arzt weiterhin in Verlegenheit zu bringen.
"Es ist schon gut, Herr Doktor, es ist schon gut", erwiderte sie und brachte es sogar noch fertig, den Arzt anzulächeln, als habe er ihr ein nettes Kompliment über ihre Kohlrouladen gemacht.
"Manchmal hasse ich meinen Beruf", sagte er, mehr zu sich, als zu ihr, bevor er zur Haustür hinausging.
Paul hatte sich zwei Eier gebraten. Er aß eine Scheibe Brot dazu und trank ein Glas Mineralwasser. Er räumte seinen Teller weg, sein Besteck und das Glas, verschloss den Brotkasten und stellte das Mineralwasser zurück in den Schrank. Paul war schon immer ein ordentlicher Mensch gewesen.
Schlimm waren die letzten vier Wochen. Wie die Ärzte vorausgesagt hatten, konnte Marianne die Schmerzen nur noch mit Morphium ertragen, sie erhöhte die Dosis fast täglich. Marianne hatte sich standhaft geweigert, im Krankenhaus zu bleiben, wo sie Dr. Wesener kurzfristig eingeliefert hatte.
"Wie lange noch, Herr Doktor?", hatte sie ihn gefragt.
"Eine, zwei Wochen noch, höchstens."
"Paul, bring mich sofort nach Hause, ich will zu Hause sterben."
Paul versuchte zu protestieren.
"Aber hier kann man dir doch viel schneller helfen, Liebes."
Marianne ließ allerdings keine Widerrede zu.
"Bring mich nach Hause, bitte."
Die letzten beiden Tage erkannte sie Paul nicht mehr. Trotz ihrem Wunsch, in gewohnter Umgebung zu sterben, brachte Paul sie noch einmal zurück ins Krankenhaus, wo ihr Ende dann doch gnädig und innerhalb weniger Stunden kam. Paul saß bei ihr am Bett, hielt ihre Hand, bis ihn die Schwester mit sanftem Druck von seiner toten Frau wegführte.
Paul hatte sich in ihren letzten sechs Monaten vorgestellt, wie er nach ihrem Tod wohl reagieren würde, ob er schließlich völlig zusammenbrechen, tagelang Tränen des Leids vergießen würde.
Nichts davon geschah. Zwei Tage nach ihrem Tod wurde sie zu Grabe getragen, gemeinsam mit Paul hatte sie sich einen schlichten Eichensarg ausgesucht, einen Platz auf dem örtlichen Friedhof gefunden, auf dem auch schon seine Eltern lagen. Nur wenige Trauergäste hatten den Weg zum Friedhof gefunden, darunter auch, zu Pauls Überraschung, Herr Brotschneider mit einem großen Kranz.
"Wolfgang Brotschneider. In tiefer Trauer", stand darauf.
Nichts von Koch und Co., nur der Name des Prokuristen.
"Mein allertiefstes Mitgefühl, Paul. Wenn ich irgendetwas für sie tun kann, so lassen Sie es mich bitte wissen", sagte er, als er sich im Zug der Kondolierenden eingereiht hatte. Er nahm Pauls Hand in beide Hände und drückte sie fest und lange.
Paul blieb noch zwei Stunden lang am frischen Grab stehen.
Es hatte angefangen zu regnen, es war kalt. Paul spürte die Kälte und die Nässe nicht. Er stand nur da und verabschiedete sich stumm und ohne Tränen von Marianne.
Das war vorgestern gewesen. Seither saß Paul hier tagsüber in der Küche und wartete darauf, dass ein weiterer Tag zu Ende ging. Völlig mechanisch ging er Abends zu Bett, um sechs Uhr stand er wieder auf.
Aber irgendwo tief drinnen war Paul nicht hier in seiner Wohnung. Es war auch nicht regnerisch und kalt draußen.
Und, er war nicht allein.
Paul saß in Wirklichkeit mit Marianne auf dem Balkon eines kleinen Hotels, irgendwo in Venedig. Gemeinsam sahen sie zum Horizont und erwarteten den Sonnenaufgang. Er nahm ihre Hand, sah ihr verliebt in die Augen und sagte: "Ich liebe dich!"
Marianne lächelte und sagte:
"Ich dich auch, mein Schatz!"
Und Paul weinte.