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Ich wähle das Leben
Das Heulen einer Sirene riss den Rentner Heinz Müller aus dem Schlaf. Dumpfe Explosionen brachten die Inneneinrichtung zum Beben. Das Porzellangeschirr, das er von seinen Eltern geerbt hatte, klapperte. Ein Teller machte sich selbstständig und stürzte zu Boden. Menschen schrien. Schüsse hallten in der Ferne.
»Was ist da draußen nur los?«, fragte sich Heinz. Er stand auf und zog den Vorhang ein Stück zur Seite, um einen Blick auf die Straße zu werfen.
Der Anblick, der sich ihm bot, entsetzte ihn: Das Haus seines Nachbarn stand in Flammen. Autos waren ineinander verkeilt und bluteten Benzin. Die Menschen hatten sich alle auffindbaren Küchengeräte an Brust, Schultern und Beine geschnallt und gingen mit Gartengeräten aufeinander los. Ein Helikopter kreiste über der Siedlung und feuerte Raketen in die größten Unruheherde.
»Christel«, rief Heinz. »Es hat begonnen! Bei Gott, es hat begonnen!«
Seine Frau war ihm voraus. Die Tür zum Badezimmer flog aus den Angeln und Christel trat vor ihren Mann. Auf ihrem Kopf trug sie das Nudelsieb. Teile der Brotmaschine waren mit Klebeband an ihren Schultern befestigt. Radkappen des Familienwagens dienten als Brustpanzer. Ihr modisches Blümchenkleid wirkte wie das traditionelle Schlachtengewand eines eingeborenen Stammes aus Südafrika. Sie lehnte eine Schrotflinte an ihre Schulter und zog an einer dicken Zigarre.
»In Ordnung, du kleiner Mistkerl!«, rief Christel und warf ihm das Gewehr zu. »Bringen wir es hinter uns!«
Heinz und Christel donnerten in ihrem Dreisitzer die Straßen hinunter. Ihm stand der Schweiß auf der Stirn und er atmete schnappend. Christels Hände verkrampften sich um den Beifahrersitz.
»Nicht so schnell! Nicht so schnell!«, rief Christel, die ihren Blick nicht auf die Straße richten konnte.
»In Momenten wie diesen darfst du keine Angst haben, Liebste!«, sagte Heinz und schaltete in den zweiten Gang. Das Fahrzeug beschleunigte auf beinahe dreißig Kilometer pro Stunde. Passanten, die das Gefährt auf sich zu schießen sahen, konnten in höchster Not beiseite spazieren. Heinz unterschied nicht mehr zwischen Freund und Feind.
»Da! Der Renneke hüpft in seinem Garten herum, als wäre nichts geschehen«, sagte Heinz und zeigte auf seinen Rivalen, der mit einer Heckenschere zugange war. Renneke winkte dem Ehepaar zu. »Ich kann den nicht ausstehen. Der kapiert erst, dass etwas nicht stimmt, wenn alles zu spät ist. Ich hoffe, der geht drauf.«
In einem Anflug von Wahnsinn steuerte Heinz sein Fahrzeug auf den Rasen von Renneke zu. »Renneke!«, schrie er dabei und machte eine hässliche Bremsspur in den Garten seines ungeliebten Siedlungsnachbarn.
»Dem hast du es gezeigt«, sagte Christel, die mit einer Mistgabel potenzielle Autodiebe vom Kleinwagen fernhielt.
»Also wirklich!«, sagte Renneke, der milde empört wirkte.
Leider blieb keine Zeit für ein längeres Streitgespräch, denn um Christel, Heinz und Renneke brachen die Säulen der Zivilisation zusammen. Ein Lastwagen, dessen Fahrer die ganze Zeit das Horn betätigte, zimmerte die Straße entlang und riss jedes Fahrzeug mit, das ihm in die Quere kam. Menschen, die es auf den Transporter abgesehen hatten, hingen an ihm wie Parasiten an einem Wal. Sie schaukelten herum, bis das große Beutetier klein beigab, in einen Graben kippte und in die Luft flog. Ein Mann, der seine Mülltonnen in eine Ganzkörperrüstung umfunktioniert hatte, stolzierte die Straße hinunter und feuerte wahllos auf Passanten. In einem Haus kam es zu einer Explosion. Heinz lenkte das Fahrzeug auf die große Stadt zu, aus der Rauchpilze aufstiegen. Eine Sirene heulte. Jets des Militärs zischten in Formation über ihre Köpfe hinweg.
Sie mussten sich beeilen.
Heinz trat das Gaspedal durch und beschleunigte auf fünfzig. Der Motor heulte auf.
In der Stadtmitte war das Chaos noch viel schlimmer. Anwohner plünderten Geschäfte und schlugen sich mit der Beute gegenseitig die Schädel ein. Gangs warfen Fahrzeuge um. Alle Hydranten hatten sich zurückgezogen und Platz für Wasserfontänen gemacht. Erstaunlich aktuelle Zeitungsartikel, die von der Katastophe berichteten, wurden vom Wind herumgetragen und setzten sich wie Seesterne an diversen Frontscheiben fest.
»Du meine Güte«, flüsterte Christel, als ihr das Ausmaß der Zerstörung klar wurde.
Heinz rollte durch die Straßen, um keine unnötige Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
»Da ist ein Fahrzeug!«, rief ein junger Mann mit grünem Irokese.
»Es fährt langsam, um keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Offenbar hat es nichts zu verbergen. Lasst sie passieren!«, rief der Anführer der Bande, der von seinen Schergen auf einem Holzthron durch die Straßen getragen wurde.
»Wir sind gleich da«, murmelte Heinz. »Lade unsere Waffen. Hoffentlich ist noch etwas übrig.«
Auf dem Parkplatz des Supermarktes stand eine riesige Menschentraube. Die Leute riefen durcheinander und schoben schwenkten die Fäuste in der Luft herum. Der Marktleiter stand auf dem Dach des Geschäfts und feuerte mit einer Pistole in die aufgebrachte Menge, die daraufhin zurückwich.
»Langsam! Langsam! Einer nach dem anderen!«, rief er in ein Megaphon.
Heinz hatte sich einen Wagen geholt und beobachtete die Menschen.
»In Situationen wie diesen sieht man, dass der Mensch ein Tier ist«, kommentierte er kritisch und befestigte Mistgabel-, Sensen- und Rechenköpfe an seinem Einkaufswagen. »Sie denken alle nur an das eigene Überleben. Aus Freunden werden Fremde. Aus Verbündeten Feinde. Die Werte, die unsere Eltern uns gelehrt haben, sind überhaupt nichts mehr wert. Gut, dass wir einen Unterschied machen und anders sind, als die Anderen! Bist du bereit, Christel?«
Christel saß im Wagen und entsicherte die Flinte. »Bereit.«
»Ich werde überleben!«, peitschte Heinz und schob den Wagen auf die Menge zu. »Ich wähle das Leben!«
Seine Frau stimmte in den Schlachtruf ein und feuerte einige Salven auf ihre Mitbürger.
In den Gängen des Supermarktes ging es drunter und drüber. Leute rannten wie Hennen durcheinander, schrien und ruderten mit den Armen in der Luft herum. Ein Mann missbrauchte seinen Hund als Morgenstern und wirbelte ihn herum. Das Tier, loyal wie es sich für einen Hund gehört, schnappte nach Angreifern, die sich der Erbsendose nähern wollten, die sein Herrchen erobert hatte.
Heinz schnaufte und spannte sich an. »Schnapp dir alles, was nicht niet- und nagelfest ist, Christel. Los geht’s!«
Er schrie wie am Spieß und schob den Wagen an. Christel schaufelte alles, was sie in die Hände bekam, in den Wagen. Eine alte Frau, die sich gerade ein Paket Backpulver nehmen wollte, wurde von Heinz mit nach vorne gestreckten Beinen beiseite getreten.
»Ich brauch das!«, schrie er, warf seiner Frau das Pulver zu und begrub die Dame unter einem Regal. Eine Konkurrentin weniger.
In der MoPro-Abteilung lieferte sich Christel ein Feuergefecht mit einer alleinerziehenden Mutter, das das Vorrecht auf eine Palette Butter entscheiden sollte. Bei den Kühlregalen prügelte Heinz einige Männer mit einer gefrorenen Ente tot. Christel erstickte einen älteren Herren mit einer geöffneten Chipstüte, um eine Dose Erdnüsse zu erbeuten. Derweil lieferte sich Heinz eine Stecherei mit Glasscherben um einen Kasten Bier.
Völlig ausgelaugt und am Ende ihrer Kräfte erreichten die beiden schließlich die Kasse. Heinz hatte drei Finger verloren und tiefe Schnitte an Hals, Bauch und den Beinen. Christel war auf dem rechten Auge blind, ihre Haare waren versengt und ein Schraubenzieher steckte in ihrem Nacken. Der Kassierer sah beide an, während er die Waren über die Kasse zog und schüttelte mit dem Kopf.
»38,50«, sagte er.
»Ist Karte okay?«, fragte Heinz.
» Mhm.« Der Verkäufer nickte.
Heinz reichte ihm die Karte. In den Gängen stieg Rauch auf. Jemand kreischte. Gewehrfeuer trommelte. Glas zerbarst.
»Hier unterschreiben.«
Das musste Christel übernehmen. Heinz' Schreibhand war nicht mehr funktionsfähig.
Während die ältere Dame ihren Namen auf den Zettel setzte, sah sich der Verkäufer im Geschäft um. Ein Mann rannte jodelnd auf eine Gruppe anderer zu und schwang einen Sack Kartoffeln über seinem Kopf. Zwei Frauen würgten sich gegenseitig wegen eines Glases Spargel. Der Geruch von Blut, Verwesung und verbranntem Fleisch überdeckte den sonst so angenehmen Geruch aus der Parfümabteilung.
»Danke, dass Sie Ihren Einkauf in einem unserer Märkte erledigt haben. Bitte beehren Sie uns bald wieder«, sagte er monoton und reichte Christel die Karte. »Ich hoffe, Sie haben einen schönen Feiertag. Wir sind übermorgen wieder für Sie da.«
»Übermorgen.« Heinz lachte verächtlich. »Bis dahin sind die Meisten verhungert.«
Der Verkäufer seufzte. Eine freundliche Ansage verkündete Folgendes: »Gang 6. Kampf aus purer Existenzangst in Gang 6.«
»Ich brauch einen neuen Job«, sagte der Kassierer, nahm sein Betäubungsgewehr und stand auf.