Ich und wer ich wirklich bin
Ich weiß genau wie ich alles beschreiben soll, denn dies ist mein Leben und nichts davon habe ich bis zum heutigen Tag vergessen. Es hört sich banal an, für jemanden, der sich nicht auskennt mit dem Gefühl nicht reden, nicht frei sprechen zu können, wenn ich sage, ich wäre Stotterer. Doch für mich ist es jahrelang eine unendliche Qual gewesen, die mich in manchen Stunden in den Wahnsinn und in die Verzweiflung getrieben hat.
Heute weiß ich was los. Zehn Jahre hat es gedauert, bis ich endlich wusste was los ist mit mir, warum ich so eine erbärmliche Angst hatte zu reden, unter Leute zu gehen oder einfach mein tägliches Leben zu meistern.
Heute kann ich reden, ich kann es wenn ich ruhig bin, wenn ich Herr meiner Worte bin, doch verschwunden ist es nicht, dieses Gefühl, das dir die Luft zum Sprechen nimmt. Ein langer und beschwerlicher Weg ist es gewesen, den ich gehen musste, um das erreicht zu haben, was ich heute bin. Selbstbewusst, auch wenn ich ein Stotterer bin.
Den Zeitpunkt an dem ich die Angst zum aller ersten Mal in mir spürte kann ich ganz genau bestimmen. Es war der erste oder zweite Schultag in meiner neuen Schule. Damals bin ich auf das Gymnasium gekommen. Nicht dorthin, wo alle meine Freundinnen und Freunde aus der Grundschule gewechselt haben, sondern in eine Schule in die Stadt. Ein Ganztages-Gymnasium, wo mein Bruder schon ein Jahr vorher den Übertritt gemacht hatte.
Meine Mutter und mein Vater wollten damals das wir dorthin gehen, denn meine Mutter sollte wieder Arbeiten gehen. Nach der Scheidung meiner Eltern wurde eine Abmachung getroffen, die lautete, das mein Vater die gesamte Ausbildung von mir und meinem Bruder übernehmen wird und den Lebensunterhalt von meiner Mutter und uns bis zu dem Zeitpunkt bezahlen wird, bis wir den Übertritt in das Gymnasium schaffen.
Die Wahl für ein Ganztages-Gymnasium ist deswegen gefallen, weil meine Mutter nicht wollte, das wir alleine sind, wenn wir nach Hause kommen und uns dann vielleicht irgendwo herumtreiben anstatt Hausaufgaben zu machen.
Also bin ich, wie mein Bruder auch, auf die Schule in er Stadt gekommen. Ach, vielleicht noch einmal kurz zurück in die Grundschule. Ich war eine sehr gute Schülerin, außer in Mathematik, wo ich bis heute meine Schwierigkeiten habe. Aber in allen anderen Fächern bin ich sehr gut gewesen. Vor allem in Deutsch. Ich bin die erste gewesen, die flüssig lesen und schreiben konnte. Meine Aufsätze begeisterten die Lehrer und auf meinem Übertrittszeugnis für das Gymnasium stand die Note eins im Fach Deutsch. Lesen und schreiben war mein Hobby. Ich konnte meiner Mutter stundenlang Geschichten vorlesen ohne nur ein einziges mal zu stocken.
Doch alles veränderte sich schlagartig, als ich die Schule wechselte. Ich war eine der jüngsten Schülerinnen und ein gutes Stück unreifer als die andern. Ich trug die ausgesuchten Kleider, die mir meine Mutter am Vorabend über meinen Stuhl gelegt hatte, so wie sie es schon mein ganzes Leben lang gemacht hatte. Also warum solle sich etwas daran ändern, nur weil ich jetzt in die fünfte Klasse gehen würde?
Meine Mutter brachte mich am ersten Schultag in die Klasse und ich setzte mich ein wenig schüchtern neben ein blondes, nett aussehendes Mädchen. Sie hieß Denise und kam aus dem Norden von München. Sie war ein oder fast schon zwei Jahre älter als ich. Sie kam nicht direkt von der Grundschule, sondern ist vorher schon ein Jahr auf der Hauptschule gewesen.
Was mir aufgefallen ist, das es fast nur Jungen gewesen sind, die sich im Klassenzimmer eingefunden hatten. Damit hatte ich eigentlich keine Probleme, denn ich bin mit drei Jungen aufgewachsen und konnte mich schon immer gut durchsetzten.
Ich weiß nicht was, oder wer es gewesen ist, der in mir die Angst auslöste zu reden, aber seit dem Zeitpunkt als ich dieses Klassenzimmer betreten hatte, konnte ich nicht mehr reden.
Wir hatten eine nette Klassenleiterin, die ich sehr gerne mochte. Vor ihr hatte ich keine Angst, doch reden konnte ich vor ihr auch nicht. Meine aller größte Furcht galt zu dieser Zeit meiner Englischlehrerin.
Ich mochte Englisch. Meine aller erste Fremdsprache. In der Grundschule hatte ich mich schon wahnsinnig darauf gefreut endlich englisch zu lernen. Doch dann als es endlich so weit gewesen ist, brachte ich kein Wort heraus.
Eine Situation werde ich wohl nie in meinem Leben vergessen. Sie hat mich bis heute sehr geprägt. Wir mussten mit verteilten Rollen einen Text aus unserem Englischbuch vorlesen. Ich hatte es geschafft mich erfolgreich die ganze Stunde darum zu drücken, das ich auch vorlesen musste. Ich dachte ich hatte es auch diesmal geschafft, doch Frau Kalden, meine derzeitige Lehrerin rief mich auf und teilte mich einer Rolle zu. Diese bestand nur aus zwei kleinen Sätzen mit maximal zehn Wörtern. Doch für mich sind es die längsten und die schwierigsten meines Lebens gewesen. Ich sprach mir diesen Satz in meinem Inneren schon immer wieder vor, und hoffte so das ich ihn auch aussprechen konnte. Je näher mein Einsatz rückte, desto nervöser wurde ich. Meine Hände waren schweiß nass und ich begann auch am übrigen Körper zu schwitzen. Als es dann soweit war, brachte ich natürlich kein einziges Wort heraus. Ich saß vollkommen verkrampft auf meinem Stuhl, den Blick starr auf den Satz vor mir gerichtet, holte Luft, doch es kam nicht aus meinem Mund außer ein leises, gedrücktes stöhnen. Jeder wartete darauf das ich nun endlich mal was sagen würde, doch sie warteten vergeblich. Es kam mir vor, als würde ich schon seit Stunden hier so sitzen und versuchen etwas zu sagen, doch in Wirklichkeit waren es nur Minuten gewesen. Meine Englischlehrerin sagte andauernd, das ich doch nun endlich meinen Mund öffnen solle und diesen einfachen Satz vorlesen solle. Ob ich nicht lesen könne, schrie sie mich an. Und die ganze Klasse werde so lange im Zimmer bleiben, bis ich diesen einen Satz vorgelesen habe. Die Pausenglocke läutete und auf die Gänge strömten die Schüler aus den anderen Klassen, nur meine Klasse saß immer noch im Zimmer und wartete darauf, bis ich etwas sagte. Doch geschehen ist nichts. Nach ungefähr fünf Minuten schickte uns Frau Kalden mit den Worten: „Bis die etwas herausbekommt, da würden wir ja noch bis Morgen hier sitzen“, in die Pause. Alle meine Mitschüler waren böse auf mich, da sie wegen mir die ersten Minuten der Pause versäumt hatten. Ich ging erst einmal auf die Toilette und blieb dort auch bis zum Ende der Pause.
Diese Situation ist nicht die einzige in meiner Schullaufbahn gewesen, die mich erniedrigt hatte, nein, es sind unzählige kleinere Hänseleien nicht nur von den Schülern, sondern meistens von den Lehrern gewesen.
noch nicht fertig