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Ich träumte

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09.12.2001
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Ich träumte

Immer wenn ich die Glocke vom Hafen hörte, zog ich meine schmale weiße Bettdecke zurück und setzte beide Füße auf den kalten Boden. Anfangs hatte mir dieser Moment Unbehagen bereitet und ich hatte versucht meine Füße durch Tasten mit den Zehen an die Kälte zu gewöhnen, doch mit der Zeit hatte ich die Kälte schätzen gelernt und betrachtete es nun als Muntermacher, so wie andere Leute morgens kalt duschen um den Kreislauf in Schwung zu bringen. Eine Dusche hatte ich nicht. Zum Waschen ging ich auf das Etagenklo zwischen den knarrenden Holztreppen des zweiten und dritten Stockwerkes, wo die Toilette durch eine unverschließbare Tür von dem kleinen grüngekachelten Badezimmer mit der rostigen Badewanne getrennt wurde.

Für die sieben Mietparteien des Hauses wahrhaftig keine vorschriftsmäßige Lösung, aber ich fand bald heraus, dass sich hier niemand um Vorschriften kümmerte und um Körperhygiene noch weniger, ja die meisten Bewohner schienen ihre einzige Bekleidung nie auszuziehen, selbst zum Schlafen nicht, so kalt war der Winter. So hatte ich die Badewanne bei meinem allmorgendlichen Bad zumeist für mich alleine, nur durch das Rauschen der Toilette im Nebenraum und gelegentliche neugierige Blicke von betrunkenen späten Heimkehrern gestört.

Einmal stürzte eine Frau morgens mit wildem Blick und zerzausten Haaren in mein Badezimmer. Sie versuchte vergeblich, den rostigen Türschieber in das dafür vorgesehene Loch im zersplitterten Türrahmen zu schieben. Ich schloss daraus, dass sie das Badezimmer zum ersten Mal von innen sehe. Ich hörte schnelle Schritte von Stiefeln auf der Holztreppe und ein bärtiger Mann mit langen schwarzen Harren stürmte herein, wobei er die Tür, ungeachtet der Tatsache dass sie unverschlossen war, auf der Seite mit den Scharnieren zuerst öffnete. Er ergriff die Frau bei den Haaren und schleifte sie wie ein Bündel dreckiger Wäsche durch den offenen Türrahmen heraus. Die Frau begann zu schreien als ginge es um ihr Leben und schlug mit Händen und Füßen um sich, doch die Schläge prallten am Rücken des Mannes ab wie an einer Wand. Ich werde den Anblick ihrer Augen nie vergessen, weit aufgerissen und verdreht, aber ich blieb wie erstarrt in meiner Wanne sitzen bis meine Zehen blau vor Kälte waren und ich sie nicht mehr spüren konnte. Am nächsten Tag begegnete ich ihr auf der Treppe und ich sah dass sie Blutergüsse auf den Wangen hinter ihren Haaren versteckte, aber sie sah mich nicht an und ging rasch an mir vorbei die Treppe herunter. Es war nicht das letzte Mal, dass ich Zeuge von Gewalt und Verbrechen in diesem Haus wurde, aber ich ahnte dass es besser war nicht darüber zu sprechen.

Am diesem Morgen im Januar, von dem ich erzählen möchte, war es so kalt, dass der Schnee, der in großen weichen Flocken vom Himmel fiel, auf dem Wasser des Hafenbeckens liegen blieb und das gesamte Hafengelände und alle Geräusche verschluckte. Ich konnte nicht anders als einen Augenblick innezuhalten und meinen Blick über die weißen Dächer der Hallen und die Stahlkräne schweifen zu lassen, so friedlich und unberührt, beinahe jungfräulich lag der Hafen vor mir, als hätte er in einem tausendjährigen Dornröschenschlaf gelegen und würde gerade jetzt aufwachen, da ich den Boden mit meinen Füßen wach küsse. Auf der Suche nach Arbeit wanderte ich den großen Kai bis zum Ende entlang, wo die Schiffe aus Übersee entladen wurden. Der Wind kam vom Meer und mit jedem Schritt mischten sich neue unbekannte Gerüche in die salzige Luft. Bald roch es nach Bananen und exotischen Früchten, die ich noch nie gesehen hatte, nach wilden Tieren in Käfigen, nach Kaffee und Tabak. Ich zog meinen rechten Fäustling aus um mir eine Zigarette aus der Tasche zu ziehen und zündete sie an. Während ich rauchte beobachtete ich das geschäftige Treiben um mich herum, wobei ich darauf achtete niemandem im Weg zu stehen. Jeder schien genau zu wissen was er zu tun hatte und wo entlang er zu gehen hatte, oft sah es aus als würden zwei bepackte Menschen beinahe zusammenstoßen, aber nie geschah es wirklich, wie von unsichtbarer Hand gelenkt schien alles seinen Weg zu gehen.
Und wie ich noch staunend da stand, mit der Zigarette im Mund und den Händen in den Manteltaschen, kam mir der Gedanke das Schiff zu betreten, anfangs noch um den Vorarbeiter zu suchen und nach Arbeit zu fragen, doch wie ich meine Füße auf die Planken gesetzt hatte und der Boden zu Schwanken anfing, vergaß ich mein Vorhaben und meine Schritte wurden schneller und sicherer, von etwas Unbekanntem angezogen wurde ich zielsicher durch enge Treppen und Gänge, immer tiefer in das Innere des Schiffes gelenkt, bis zu einer Metalltür, auf der von zitteriger Hand in weißen Lettern eine Aufschrift gemalt war, die ich zu Entziffern begann. „Schlafgemach des Königs – Zutritt Unbefugten verboten!“ Las ich verwundert.

Ich musste mich in der Nähe des Maschinenraums befinden, denn die Temperatur war hier so hoch dass ich unter meinem Mantel und den Handschuhen zu schwitzen anfing, und von allen Seiten kam ein Vibrieren und Wummern, so stark dass man es an den Händen spürte, wenn man die Wände berührte. Für das Schlafgemach eines Königs schien es mir hier unten zu laut und zu warm, auch zu dunkel, die Kajüten für die vornehme Gesellschaft hätte ich an den Längsseiten des Schiffes vermutet, wo durch die runden Fenster Tageslicht hereinfällt. Ich betätigte den Türgriff und fand die Tür unverschlossen, beinahe geräuschlos und ohne mein Zutun öffnete sie sich ganz. Dahinter war es vollkommen dunkel, und ein Schwall warmer und feuchter Luft kam mir entgegen.

Ich erinnerte mich an das Affenhaus im Zoologischen Garten, meine Eltern hatten mich als Kind manchen Sonntag dorthin mitgenommen, aber dieser Geruch war nicht der vom Urin der Affen, es war etwas angenehm warmes, salziges, mehr ein Gefühlszustand der in der Luft liegt als ein wirklicher Geruch, es hatte etwas vertrauenserweckendes und beruhigendes. Irgendetwas sagte mir, dass ich keine Angst zu haben brauchte. Ich streifte meinen Mantel ab und legte ihn zusammen mit den Handschuhen in den Türspalt, damit sie vom Schlingern des Schiffes nicht zuschlagen konnte und betrat die Dunkelheit. Ich tastete mich voran und gelangte einige Meter in das Innere der Kajüte ohne auf ein Hindernis zu stoßen. Ich blickte zurück um mich der Tür zu vergewissern, das rötliche Licht der Deckenbeleuchtung aus dem Flur schimmerte sanft durch den offenen Spalt, da spürte ich etwas an mein Schienenbein stoßen. Ich suchte die Konturen mit den Handflächen und erfühlte einen stoffbezogenen Kasten, ich schritt ihn der Länge nach ab und erkannte, dass er die Maße eines französischen Bettes hatte. Darauf lag eine Steppdecke von ungewöhnlich weicher Beschaffenheit, sie fühlte sich zwischen den Fingern ganz sanft und leicht und doch sehr warm an. Die Decke war auf einer Seite zurückgezogen, als sei das Bett für jemanden vorbereitet, eine innere Stimme sagte mir, dass dieser Jemand niemand anderes sei als ich selbst.
Ich bemerkte, dass ich das Vibrieren der Maschinen kaum noch wahrnahm, die Wände der Kajüte schienen das Geräusch gänzlich zu verschlucken und nur durch den Spalt der Tür drang es noch sehr leise. Das Bett lag vor mir in der Dunkelheit so warm und weich, das Laken duftete so frisch und luftig, dass ich nicht anders konnte, als sämtliche Kleidung abzustreifen und unter die Decke stieg. Ganz kurz nur sagte ich mir, lag auf dem Rücken und spürte das Laken auf meiner Haut und die warme Dunkelheit die mich umgab. Ich strich mit der Hand über die Decke, es war wirklich ein außergewöhnlich leichter Stoff. Wie lange ich da gelegen habe, weiß ich nicht mehr, in völliger Dunkelheit ist es schwer die Zeit vergehen zu spüren, aber irgendwann muss ich eingeschlafen sein. Ich schlief einen festen und tiefen Schlaf, ich träumte nichts von nichts konkretem, ich träumte konturenlose Farben und Töne ohne Harmonien oder Melodien, ich träumte warm und süß und ich wollte nie mehr erwachen.

[Beitrag editiert von: Nikomana am 13.03.2002 um 23:41]

 

Hi Niko.
Dein Text liest sich wie ein russisches Märchen. Wortwahl, Story, die Winteratmosphäre... nur dass das Märchen im Russland von heute spielt.
Hat mir sehr gut gefallen. Ich mag Märchen :) , weiter so.

Gruss, b2d

[Beitrag editiert von: b2d am 24.02.2002 um 18:06]

 

b2d: Danke für Deine Kritik!

An Russland hatte ich beim Schreiben eigentlich nicht gedacht, aber jetzt wo Du es erwähnst fällt es mir auch auf ;)

Gruss Niko

 

Auch ich finde deine Geschichte gut. Zu meckern habe ich jedoch, dass einige deiner Sätze vielleicht ein kleines bisschen zu lang sind - Beispiel:

Und wie ich noch staunend da stand, mit der Zigarette im Mund und den Händen in den Manteltaschen, kam mir der Gedanke das Schiff zu betreten, anfangs noch um den Vorarbeiter zu suchen und nach Arbeit zu fragen, doch wie ich meine Füße auf die Planken gesetzt hatte und der Boden zu Schwanken anfing, vergaß ich mein Vorhaben und meine Schritte wurden schneller und sicherer, von etwas Unbekanntem angezogen wurde ich zielsicher durch enge Treppen und Gänge, immer tiefer in das Innere des Schiffes gelenkt, bis zu einer Metalltür, auf der von zitteriger Hand in weißen Lettern eine Aufschrift gemalt war, die ich zu Entziffern begann.

- vielleicht überlegst du`s dir ja nochmal...

... vielleicht gibt`s ja auch eine Fortsetzung :-)

ciao

[Beitrag editiert von: nohome am 01.03.2002 um 15:03]

 

Hi nohome, danke für Deine Meinung.

Mit den langen Sätzen könntest Du recht haben. Manchmal mache ich mir eine Art Sport daraus möglichst lange Sätze zu schreiben. Es macht den Text mit Sicherheit nicht lesbarer. Ob es eine Fortsetzung geben wird, weiss ich noch nicht. Die Geschichte entstand aus einem Gefühl dass ich manchmal habe, wenn ich morgens früh aufstehen muss und mir die Welt um mich herum so kalt und grausam vorkommt. Einen richtigen Plot gibt es darum auch nicht. Für mich ist die Geschichte aber trotzdem rund und abgeschlossen, weil sie dieses Gefühl beschreibt. Es würde mich mal interessieren, was andere Leser darin sehen.

Gruss Niko

 

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