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Ich stand im Regen
Ich stand im Regen. Seit über einer halben Stunde stand ich hier und starrte in die Nacht. Mein Mantel war aus Baumwolle, blau und am Hals nicht dicht. Eine Haarsträhne hing mir ins Gesicht. Ich strich sie weg und starrte weiter in die Dunkelheit. Ein Auto, das erste seitdem ich hier stand, fuhr an mir vorbei. In dieser Gegend fahren nachts nicht viele Autos. Jeder Haushalt hat zwar mindestens eins eher zwei, die Sammler sogar noch mehr. Aufgrund der niedrigen Bevölkerungsdichte wirken die Straßen trotzdem leer. Tagsüber flanieren Mercedes-Benz, BMW und Audi um nur die Einstiegsmodele zu nennen. Gerne auch neonblonde Gattinnen in Range Rovern die zum Shoppen fahren. Wohlgemerkt shoppen nicht einkaufen. Einkaufen ist Arbeit und Pflicht. Das erledigt das Personal. Shoppen ist Event, Happening und Lifestyle. Oft kann man an dem neuen Auto die neue Gattin erkennen. Steht statt dem fünf Jahre alten Geländewagen plötzlich ein neuer Boxster in der Garagenauffahrt dann deutet dies nicht nur auf einen fahrzeugtechnischen Generationenwechsel hin. Doch wer weiß. Man kann nur mutmaßen und spekulieren. Gemeinsam tuscheln. Im Kaffee, Golfclub oder der privaten Teerunde Details austauschen. Denn nichts ist lästerwilliger und spekulationsfreudiger als gelangweilte Hausfrauen denen es an Problemen mangelt.
Ich gehe über die Straße auf das Haus zu, erreiche das schmiedeeiserne Tor und bleibe wieder stehen. Ein Wasserspeier, über den Dachrand gelehnt, lässt einen dicken Strahl auf den Weg vor der Eingangstür. Nur in dem Fenster der Bibliothek ist Licht. Niemand ist zu erkennen. Bestimmt sitzt er in seinem Biedermeier Ohrensessel und liest seinen geliebten Machiavelli. Trinkt dazu ein Glas Rotwein.
Der Rest war von Nacht und Regen verhüllt. Weder das frisch geziegelte Dach, die Videokameras an den Hausecken oder die goldenen Jugendstilgriffe an der schweren Haustür waren zu sehen. Obwohl nutzlos schlug ich den Kragen meines Mantels hoch und vergrub meine Hände tief in den Taschen. Meine linke Hand griff ins Leere doch die Rechte umschloß trockenen Stahl. Schwerer Stahl der kalt in meiner Hand lag und mir Angst machte. Er lag gut in der Hand und er würde seinen Zweck erfüllen. Heute Nacht würde ich es tun. Die Sache musste ein Ende finden. Ich sah keine andere Möglichkeit.
Das Tor schwang tonlos auf, der Schlüssel passte noch. Das Auto auf der Auffahrt war mal wieder neu, das dritte in sechs Jahren. Langsam, beinahe behäbig ging ich über den mit Kieselsteinen angelegten Weg. Meine Hand begann zu zittern. Komischerweise die Linke. Vor der ersten Stufe blieb ich stehen. Zögerte kurz bevor ich die Treppenstufen zu der großen Eingangstür hinaufschritt. Ich klingelte und wartete. Keine Schritte waren zu hören doch im Flur ging das Licht an.
Langsam schwang die Türe auf. Ich sah nur die Umrisse eines Mannes. Meine Hand krampft sich stärker um den Revolver. Ich spüre einen kühlen Luftzug an meinem Hals. Der Hauch des Todes? Der Umriss macht einen Schritt vorwärts auf mich zu. Ich möchte meine Hand aus der Tasche ziehen. Zögere. Der Umriss tritt in das Licht der Eingangsbeleuchtung, hält selbst kurz inne und streckt mir eine Hand entgegen.
„Guten Abend Sohn. Ich hatte Dich nicht erwartet.“
„Ich hatte nicht angerufen.“
„Was machst Du in der Stadt? Solltest Du nicht zu Hause sein?“
„Ist nicht dies mein zu Hause?“
Stirnrunzeln.
„Komm rein. Ich werde das Hausmädchen wecken. Sie soll Dir das Gästezimmer für eine Nacht herrichten.“
Ich betrete das Haus in der Nacht in der ich Schluss machen wollte. Ich hatte es nicht geschafft.
Diesen wirren Erinnerungen aus der Vergangenheit nachhängend hole ich mir an einem nahegelegenen Laden zwei Dosen Bier. Wie soll ein vernünftiger Mensch einschlafen können bei solchen Horrorbildern. Der Inder an der Kasse gibt mir freundlich lächelnd Wechselgeld.
„Merci monsieur. Au revoir monsieur.“
Ich nicke nur. Ich möchte antworten, freundlich sein. Doch ich kann es nicht. Wortlos verlasse ich den Supermarkt und mache mich auf den Weg zurück. Nach Hause. Zurück ins Hotel du Nord.