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Ich sehe sie an
Ich sehe Sophie an, wie sie am Brückengeländer steht, das Gesicht dem Wind zugewandt, die Haare umpeitschen ihr Gesicht, mit ihren Händen an die Steinbrüstung geklammert. Nach Außen hin wirkt sie ruhig, so als würde sie nur den Wind der ihr ins Gesicht weht, geniessen, als würde sie die Sonne auf ihrer Haut geniessen.
Ihre Hände verraten sie: sie sind verkrampft, sie klammert sich an der Brüstung fest, ich sehe ihr an, dass sie innerlich mit sich ringt, darüber nachdenkt, ob sie nicht einfach springen sollte, dem ganzen schrecklichem Dasein ein Ende zu bereiten, dem Leben den Rücken zu kehren.
Ich fasse nach ihrer Hand. „Nicht.“ Sie sieht mich an, lächelt leicht, wenn auch traurig. Sie weiß, dass ich geahnt habe, woran sie gedacht hatte.
„Wieso nicht? Ich meine, außer dir gibt es nichts, was mich hier hält.“ Ich sehe ihr in die Augen, streiche ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht: „Das Leben ist schön. Hat mir mal jemand gesagt.“ Eine Weile sagt niemand etwas. Schließlich breche ich das Schweigen: „Was für ein Schwachkopf.“
Wir müssen beide lachen. Als wir uns wieder beruhigt haben, sieht Sophie wieder zu mir hin: „Ach, Maxi, was würde ich ohne dich machen?“ Mit einem Lächeln legt sie ihren Kopf an meine Schulter, ich lege meinen Arm um sie und sehe sie schief an: „Natürlich von Brücken springen. Du würdest Bungee Jumping machen. Meine Güte, ich halte dich von sportlichen Höchstleistungen ab.“ Scherzhaft boxt sie mich auf den Arm. „Das ist nicht witzig.“ Und trotzdem lacht sie. Und trotzdem wissen wir beide, dass sie recht hat: es ist nicht witzig. Es ist nicht schön, das war es auch nie und das wird es auch nie sein. Wir haben es schließlich schon oft genug versucht, unsere Handgelenke, über der Schlagader sind fast so vernarbt, wie unsere Arme, die wir uns ständig aufritzen. Unsere Körper sind übersäht von Narben, nicht nur von Selbstverletzung, auch von missglückten, abgebrochenen oder verhinderten Selbstmordversuche.
Ja, die Frage, was wir ohne den anderen wären hat bei uns nicht nur rhetorischen Charakter: ohne Sophie wäre ich schon längst tot, sie ohne mich ebenso. Ich war rechtzeitig da, als sie an der Klippe stand und sie hat meine Tür eingetreten, um mich aus der Badewanne zu holen, in der ich mir die Schlagader aufgeschnitten hatte.
Sophie ist magersüchtig. Beide haben wir Borderline. BPKS. Borderlinepersönlichkeitsstörung. So ein schwachsinns Begriff, so eine nichtssagende Umschreibung. Für mich war es immer: „Nimm mich in den Arm, aber halt mich nicht fest.“ Oder auch: „Ich kann nicht bleiben, aber gehen will ich auch nicht.“ Eigentlich geht es darum, dass man keine Grenzen ziehen kann, aber letztendlich bedeutet es für jeden etwas anderes, man kann es nicht allgemein beschreiben. So wie man Liebe ja auch nicht erklären kann-man fühlt sie einfach. Und das ist der springende Punkt: das Fühlen. Wir fühlen…anders. Mal Stärker, mal schwächer. Aber wenn wir uns dann mal verlieben, ist die Liebe bedingungslos, dann gibt es nur noch einen selbst und die geliebte Person, Liebe oder sterben, mit ihr oder gar nicht.
Oft habe ich gar nicht erleben müssen, oft wurde ich abgewiesen, eigentlich immer-bis ich Sophie begegnet bin. Ich hatte schon in den ersten Augenblicken etwas für sie empfunden, was ich nie, auch jetzt noch nicht erklären könnte.
„Weißt du noch?“, fragt Sophie, ihren Kopf an meiner Schulter angelehnt, während sie verträumt in den Himmel blickt. „Damals, als wir genau hier an dieser Brücke standen. Wir waren einfach da und haben hinuntergeblickt, in die reißende Strömung.“
Ich streiche ihr über die Haare, lasse meine Finger sich in den Strähnen verfangen. „Du hattest diese geflochtene Haarsträhne damals. Du hast mir erzählt, deine Schwester hätte sie gemacht, aber du fändest sowas eigentlich gar nicht so hübsch.“ Verwundert sieht sie mich an, dann lacht sie. „Das weißt du noch? Sag mal, du merkst dir aber auch alles.“
Leicht verlegen blicke ich zur Seite: „Naja, so was behalte ich mir eben. Außerdem sah das wunderschön aus.“ Jetzt sehe ich sie wieder an, dann, einer Eingebung folgend, nehme ich eine ihrer Haarsträhnen in die Hand und beginne sie zu flechten. Zuerst ist sie überrascht, hebt die Hand, als wollte sie mich davon abhalten, aber dann lässt sie mich gewähren, und schmiegt sich mit ihrem Kopf wieder an mich.
„Und du, du hattest damals noch diesen Irokesen, den du nie hochgegelt hast. Und ich hab es geliebt, durch diese kurzen, versstruppelten Haare zu fahren.“
Ich muss unwillkürlich lächeln. Den Irokesen hatte ich zwar mal gegelt gehabt, aber auch irgendwann wurde mir das zu aufwendig und ich habe ihn einfach zur Seite gekämmt. Ja, sie hatte es wirklich geliebt, hindurchzustreichen, sie zu verstruppeln, konnte gar nicht damit aufhören, mit den Fingern durchzufahren.
„Eigentlich waren die gar nicht mal so verstruppelt, du hast sie nur immer durcheinandergebracht“, erwidere ich lächelnd. „Meine Güte, das sah jedesmal furchtbar aus.“ Sie verdreht die Augen und grinst. „Hey, du eitler Kerl. Du bist ja schlimmer als ich. Ständig machst du dir Gedanken, ob du auch gut aussiehst. Hab selten jemanden erlebt, der sich so Gedanken um seinen Körper macht, wie du.“
Ich lache auf, zieh eine Augenbraue hoch: „So, was bitte machst du dann den ganzen Tag.“
Ein Anflug eines Lächelns zeigt sich auf ihrem Gesicht, aber dann bekommt ihr Blick plötzlich etwas trauriges, verwundbares und sie blickt zu Boden.
Ich zucke zusammen, schuldbewusst, mal wieder alles mit meiner Unüberlegtheit kaputtgemacht zu haben: „Scheiße, sorry. Ich hab gar nicht darüber nachgedacht, dass…naja, du weißt schon“
Ich will es nicht aussprechen, Sophie aber schon: „Was? Meine Magersucht? Ja, kannst du ruhig aussprechen, besser, wenn ich daran erinnert werde, es finden ja alle ganz furchtbar. Außerdem muss es ja schließlich eine Schande sein, mit einer Magersüchtigen rumzulaufen, mit mir, mit meinem widerlichen Körper.“ Sie reißt sich von mir los und klammert sich an die Brüstung. Tränen rollen über ihr Gesicht, sie beginnt stumm zu weinen. Sanft lege ich meinen Arm um sie, halte sie fest, als könnte ich sie so schützen, sie beschützen, vor der Welt um uns herum, vor ihrer Grausamkeit und Schlechtheit.
Sophie beginnt zu schluchzen, sie vergräbt ihr Gesicht in ihren Händen, Haarsträhnen fallen wie zu einem Wasserfall nach unten, meine unfertig geflochtene Strähne löst sich auf, geht unter im Wasserfall ihrer Haare, wird verschluckt und ertrinkt schließlich.
„hey“, flüstere ich leise und küsse ihren Scheitel: „was stören dich denn die Leute, die über dich reden. Du hast mir mal gesagt, es käme ohnehin nur auf die Person an, die einen liebt und mir ist das völlig egal. Ich liebe dich so wie du bist, das habe ich immer getan.“
„Aber…“Sie muss heftig schluchzen, fährt aber fort: „Aber ich bin hässlich. Ich bin viel zu dünn, mein ganzer Körper ist übersät mit narben.“ Ich fahre mit meiner rechten Hand über ihren Rücken, streichle ihre Schulter. „Nein. Du bist nicht hässlich. Du bist wunderschön. Für mich bist du das schönste Wesen, das mit je begegnet ist, wenn ich könnte würde ich dich den ganzen Tag ansehen. Sophie ich liebe dich, so wie du bist und nicht, wie irgendwelche Idioten das perfekte Schönheitsideal definieren.“ Mittlerweile hat sich ihr Heulkrampf gelegt, sie schluchzt nur noch ab und zu, leise rollen Tränen über ihr Gesicht, wie Regentropfen die über eine Scheibe kullern. Bei jedem Schluchzer fühle ich ihren Körper unter meiner Hand erbeben, ich will sie festhalten und nie mehr loslassen, sie beschützen vor einer Welt, die ihr so viel angetan hat, aber ich weiß, dass ich dazu zu schwach bin. Es ist nur ich gegen das Schlicksal, nur ich gegen die ganze Welt, die uns kaputtmachen will, die uns zum Aufgeben bringen will. Aber wir lassen uns nicht kleinkriegen, wir haben immer weitergelebt. Aber irgendwann, irgendwann werden wir einknicken, werden wir aufgeben müssen. Manchmal muss man einsehen, dass man einen Kampf verloren hat. Wenn man ein Heer in die Schlacht schickt und irgendwann ein Scheitern scheint unabbringbar. Und dann muss man seine Soldaten aus dem Feld retten, man muss aufgeben, um die letzten zu retten. Und so müssen wir uns vielleicht acuh geschlagen geben, um es nur nicht noch schlimmer zu machen, um nicht noch mehr Leute hineinzuziehen. Aber noch leben wir, noch haben wir uns und ich würde alles tun, damit es so bleibt. Ganz nahe komme ich ihrem Gesicht, flüstere in ihr linkes Ohr. „Weißt du, was Schön sein eigentlich bedeutet? Es bedeutet, dass man für ganz bestimmte Menschen schön ist, dass nur die Menschen, die einen wirklich lieben einen Schön finden, nicht wegen seinem perfektem Aussehen, sondern wegen allem was man tut, allem, was man sagt, wie man etwas tut. Man liebt jemanden nicht mit seinen Fehlern, seinen Narben, seiner Vergangenheit, man liebt ihn für seine Fehler.“ Ich sehe ihr in die Augen, versuche ihr zu zeigen, wie sehr ich sie liebe. „Und das tue ich, ich liebe dich dafür, dass du so bist, wie du bist, dass du deine Magersucht auslebst, weil du dich so am schönsten findest, egal wie es die anderen finden und ich liebe dich für deine Narben, für deine ewigen Erinnerungen, an das, was einmal war und nie wieder sein soll. Ich liebe dich dafür, dass du so bist, wie du bist, ich liebe dich, nur dich, genauso, wie du bist egal was irgendwelche Idioten sagen.“
Bei den letzten Sätzen hat sie mir ihr Gesicht zugewandt und war mir ganz nahe gekommen. Sanft drückt sie ihre Lippen gegen meine, küsst mich mit geschlossenen Augen. Und in diesem Moment, mit diesem Kuss hat sie mir gesagt, dass sie mich liebt, nur mit der einfachen Berührung unserer Lippen haben wir uns gesagt, dass wir uns lieben und niemals trennen werden. Dass wir auf ewig zusammenbleiben würden, nie aufhören würden, den anderen zu lieben.
Als sich unsere Lippen wieder voneinander lösen, sieht sie mich an, und ich blicke in die unendliche Tiefe ihrer grünen Augen, versinke in diesem unergründlichen Ozean der Gefühle, der sich in ihnen widerspiegelt. Und ganz klein und unscharf kann ich mein eigenes Gesicht erkennen und in diesem Moment wird mir zum ersten Mal klar, dass Sophie für mich ebenso empfindet, wie ich für sie. Die ganze Zeit hatte ich es zwar, gewusst, sie hatte es mir immer wieder gesagt, aber ich hatteb es nie verstanden, nie richtig aufgenommen. Doch jetzt sehe ich es und in diesem Moment wird mir bewusst, dass ich sie nie vergessen werde, dass ich nie aufhören werde, sie zu lieben, ganz egal, was uns trennen wird, in Gedanken werde ich immer bei ihr sein.