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Ich sehe die Giraffen
Sie schreiten voran auf langen, starken Spinnenbeinen. Die Hälse recken sie bis in die Wolken hinauf. Ihre gierigen Mäuler verschlingen die friedlich dahinschwebende Schäfchenherde. Das Rot der Sonne spiegelt sich in den langen Reißzähnen. Kräftige Zungen wischen die Vogelschwärme vom blassblauen Himmel. Die Schatten reichen bis zu mir heran, und sie scheinen nach mir zu greifen, gleich den Fangarmen eines gigantischen schwarzen Kraken.
Langsam marschieren die Giraffen gen Westen. Sie ziehen gewaltige Rauchwolken hinter sich her, die das Land unter Asche begraben. Das Feuer auf ihren Rücken lodert wild empor, die Flammen schlagen hoch bis zu ihren Ohren. Brütende Hitze strahlt in mein Gesicht, so dass ich es schützend in den Händen verberge. Die Sonne flieht über den Berg, die Giraffen folgen ihr. Gemächlich, aber rastlos stellen die Ungetüme dem glühend roten Feuerball nach. Schließlich verschwinden sie hinter dem Horizont.
Die Hitze der Flammen ist nächtlicher Kälte gewichen. Ich setze meinen Weg fort durch die Dunkelheit, stets geradeaus über die kahle Ebene. Kein Baum. Kein Strauch. Kein Halm. Meine Füße wirbeln kleine Aschewolken in die Nachtluft. Ich blicke nach oben. Kein Mond. Keine Sterne. Das Dunkel des Himmels drückt auf mich herab, lichtlose Leere umfängt die Welt. Immer weiter führt mich der Pfad durch die Finsternis. Jeder Atemzug, jeder Schritt erscheint mir beschwerlicher als der vorherige. Staub bedeckt meine Kleider und mein Gesicht, ich kann ihn auf der Zunge schmecken. Mein Blick schweift trübe und müde umher.
Doch inmitten der Schwärze der Nacht erkenne ich einen fahlen Schein am Fuße des Gebirges. Es kommt mir vor, als wäre es nur ein winziger Funken, der verloren vor sich hin glimmt. Er zieht mich magisch an, mein Gang beschleunigt sich. Das Licht wird mit jedem Schritt heller, die Müdigkeit weicht aus meinen Gliedern, ich achte nicht auf den Boden zu meinen Füßen, fühle ihn nicht mehr, fliege, rasend durch die finstere Nacht, immer auf das Licht zu, kühle Luft im Gesicht, Asche auf der Zunge, Staub in den Lungen, immer weiter treiben mich meine Flügel voran, mein Gefieder flattert im Wind, das Licht kommt näher, gleich habe ich es, da ist es, gleich bin ich da...
Licht! Ich verschwinde im Licht, fühle Licht, schmecke Licht, atme Licht, werde Licht, bin Licht. Das Dunkel der Nacht ist vergangen, es liegt weit im Gestern, ich erinnere mich schon nicht mehr daran. Wie zerflossen erscheint mir alle Zeit.
Mitten im Licht erkenne ich einen Mann. Sein markanter Schnurrbart scheint mir vertraut. Er sitzt auf einem Hocker, den Blick starr auf die Leinwand vor ihm gerichtet. Ihr Schein spiegelt sich in seinen Augen, sie scheint die Quelle des Lichtes zu sein. Ich trete an ihn heran und mustere das Gemälde, doch muss ich die Lider zusammenkneifen. Das Licht schmerzt in meinen Augen, der Schein ist kaum zu ertragen. Ich halte die Hände vors Gesicht. Durch einen Fingerspalt erkenne ich lange Spinnenbeine, himmelhohe Hälse, rote Reißzähne, kräftige Zungen. Das Feuer auf der Leinwand lodert wild und hypnotisch. Wie von Geisterhand weiten sich meine Augenlider, ich lasse die Hände sinken.
Da schießt eine Flammensäule aus dem Bild empor, ein heißer Strom trifft meine Augen, das Feuer brennt sich tief in meinen Kopf hinein. Mein Körper entgleitet meiner Kontrolle, gelähmt sinke ich auf die Knie. Die Glut strömt meinen Hals hinab, füllt meine Lunge, tropft mir aus Ohren, Nase und Mund. Ich kauere am Grund eines Ozeans aus Feuer und Licht. Weit über mir erkenne ich das Gesicht des Mannes. Er blickt mit tiefschwarzen Augen auf mich herab, der Wahnsinn zuckt still durch seine Mundwinkel, doch sind seine Züge von unendlicher Milde. Seine Hand hält einen Pinsel, die Borsten schlagen flammend umher. Er senkt ihn auf meine Stirn. Ich richte den Blick hinauf zu der Lichtgestalt, meine glutüberströmten Lippen lassen mich kaum hörbar stammeln: „Erlöser...“
Dann schrecke ich auf. Gedankenverloren lenke ich meinen Schritt durch das Dämmerlicht der staubigen Ausstellungsräume. Ich friere.