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Ich sehe die Giraffen

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08.01.2019
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Ich sehe die Giraffen

Sie schreiten voran auf langen, starken Spinnenbeinen. Die Hälse recken sie bis in die Wolken hinauf. Ihre gierigen Mäuler verschlingen die friedlich dahinschwebende Schäfchenherde. Das Rot der Sonne spiegelt sich in den langen Reißzähnen. Kräftige Zungen wischen die Vogelschwärme vom blassblauen Himmel. Die Schatten reichen bis zu mir heran, und sie scheinen nach mir zu greifen, gleich den Fangarmen eines gigantischen schwarzen Kraken.

Langsam marschieren die Giraffen gen Westen. Sie ziehen gewaltige Rauchwolken hinter sich her, die das Land unter Asche begraben. Das Feuer auf ihren Rücken lodert wild empor, die Flammen schlagen hoch bis zu ihren Ohren. Brütende Hitze strahlt in mein Gesicht, so dass ich es schützend in den Händen verberge. Die Sonne flieht über den Berg, die Giraffen folgen ihr. Gemächlich, aber rastlos stellen die Ungetüme dem glühend roten Feuerball nach. Schließlich verschwinden sie hinter dem Horizont.

Die Hitze der Flammen ist nächtlicher Kälte gewichen. Ich setze meinen Weg fort durch die Dunkelheit, stets geradeaus über die kahle Ebene. Kein Baum. Kein Strauch. Kein Halm. Meine Füße wirbeln kleine Aschewolken in die Nachtluft. Ich blicke nach oben. Kein Mond. Keine Sterne. Das Dunkel des Himmels drückt auf mich herab, lichtlose Leere umfängt die Welt. Immer weiter führt mich der Pfad durch die Finsternis. Jeder Atemzug, jeder Schritt erscheint mir beschwerlicher als der vorherige. Staub bedeckt meine Kleider und mein Gesicht, ich kann ihn auf der Zunge schmecken. Mein Blick schweift trübe und müde umher.

Doch inmitten der Schwärze der Nacht erkenne ich einen fahlen Schein am Fuße des Gebirges. Es kommt mir vor, als wäre es nur ein winziger Funken, der verloren vor sich hin glimmt. Er zieht mich magisch an, mein Gang beschleunigt sich. Das Licht wird mit jedem Schritt heller, die Müdigkeit weicht aus meinen Gliedern, ich achte nicht auf den Boden zu meinen Füßen, fühle ihn nicht mehr, fliege, rasend durch die finstere Nacht, immer auf das Licht zu, kühle Luft im Gesicht, Asche auf der Zunge, Staub in den Lungen, immer weiter treiben mich meine Flügel voran, mein Gefieder flattert im Wind, das Licht kommt näher, gleich habe ich es, da ist es, gleich bin ich da...

Licht! Ich verschwinde im Licht, fühle Licht, schmecke Licht, atme Licht, werde Licht, bin Licht. Das Dunkel der Nacht ist vergangen, es liegt weit im Gestern, ich erinnere mich schon nicht mehr daran. Wie zerflossen erscheint mir alle Zeit.

Mitten im Licht erkenne ich einen Mann. Sein markanter Schnurrbart scheint mir vertraut. Er sitzt auf einem Hocker, den Blick starr auf die Leinwand vor ihm gerichtet. Ihr Schein spiegelt sich in seinen Augen, sie scheint die Quelle des Lichtes zu sein. Ich trete an ihn heran und mustere das Gemälde, doch muss ich die Lider zusammenkneifen. Das Licht schmerzt in meinen Augen, der Schein ist kaum zu ertragen. Ich halte die Hände vors Gesicht. Durch einen Fingerspalt erkenne ich lange Spinnenbeine, himmelhohe Hälse, rote Reißzähne, kräftige Zungen. Das Feuer auf der Leinwand lodert wild und hypnotisch. Wie von Geisterhand weiten sich meine Augenlider, ich lasse die Hände sinken.

Da schießt eine Flammensäule aus dem Bild empor, ein heißer Strom trifft meine Augen, das Feuer brennt sich tief in meinen Kopf hinein. Mein Körper entgleitet meiner Kontrolle, gelähmt sinke ich auf die Knie. Die Glut strömt meinen Hals hinab, füllt meine Lunge, tropft mir aus Ohren, Nase und Mund. Ich kauere am Grund eines Ozeans aus Feuer und Licht. Weit über mir erkenne ich das Gesicht des Mannes. Er blickt mit tiefschwarzen Augen auf mich herab, der Wahnsinn zuckt still durch seine Mundwinkel, doch sind seine Züge von unendlicher Milde. Seine Hand hält einen Pinsel, die Borsten schlagen flammend umher. Er senkt ihn auf meine Stirn. Ich richte den Blick hinauf zu der Lichtgestalt, meine glutüberströmten Lippen lassen mich kaum hörbar stammeln: „Erlöser...“

Dann schrecke ich auf. Gedankenverloren lenke ich meinen Schritt durch das Dämmerlicht der staubigen Ausstellungsräume. Ich friere.

 
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Hola @PleasureToGrill,

der Titel ist ungewöhnlich – nicht, dass ich ihn unwiderstehlich fände, doch er könnte ‚eine etwas andere Geschichte’ versprechen. Dann schau ich noch flugs in Dein Profil – sehr sympathisch; dann woll’n wir mal.

Ich hatte den Text schon heute Mittag gelesen. Klarer Fall, der Mann kann mit Wörtern jonglieren – nur fehlte mir zum Ende hin das Eigentliche einer Kurzgeschichte: der Plot.

Jetzt hab ich den Text nochmals gelesen, tja, es bleibt dabei: Mir fehlt die Hauptsache.

Bald hat man genug Feuerwirbelei und pomfortionöse Bilder vor Augen; ich hab auch ein Bild vor Augen: Im goldenen Oktober steht ein Mann auf dem Markt und zaubert riesige schillernde Seifenblasen aus seinem Zuber, alle staunen und sind verzückt – und dann gehen sie.

Ein Dauerspektakel ersetzt keine Spannung / Handlung, es gibt dem Leser nichts, er wird zum Konsumenten, zum Zuschauer gemacht.

Deine KG würde ich in die Kladde der Traumsequenzen stecken. Leider stehen die nicht sehr hoch im Kurs, denn der Leser fühlt sich oft auf den Arm genommen, wenn zum Schluss lapidar herüberkommt: Ätsch, war ja nur ein (Wach)-Traum (oder eine Fantasie, oder Delirium, war bekifft, was weiß ich).

Dein nächster Text braucht einen roten Faden. Das Hauptaugenmerk solltest Du auf die Handlung richten. Das ist zwar das Schwierigste, aber wenn Du die einmal hast, ist das Schreiben für Dich eine Kleinigkeit.

In diesem Sinne: Frohes Schaffen und Willkommen bei uns!
José

PS:

Licht! Ich verschwinde im Licht, fühle Licht, schmecke Licht, atme Licht, werde Licht, bin Licht.
Viel Licht, aber passt schon, macht Tempo.
Das Dunkel der Nacht ist vergangen, es scheint Lichtjahre hinter mir zu liegen, ...

Die Lichtjahre sind mir dann allerdings zu viel.

 
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Hallo @PleasureToGrill ,

deinen Profilbeitrag finde ich auch sehr nett, und ich habe den Text in der Hoffnung angeclickt, keine Humorgeschichte um Zootiere zu lesen. Und zum Glück wurde es das auch nicht.

Ich sehe die Giraffen. Sie schreiten voran auf langen, starken Spinnenbeinen.
Da der Titel so direkt da drüber steht, fände ich den direkten Anschluß besser, also ohne Doppelung. Zumal der zweite Satz hübsch geheimnisvoll ist.
doch sind seine Züge von unendlicher Milde
Das ist doch mal nett, ich hatte immer nur gelesen, dass er ziemlich gemein und harsch sein konnte. Vielleicht aber eben nur zu Leuten, nicht zu seinen eigenen Kreationen.
Dann schrecke ich auf. Gedankenverloren lenke ich meinen Schritt durch das Dämmerlicht der staubigen Ausstellungsräume. Ich friere.
Weißt du, was ich klasse gefunden hätte? Wenn dein Prot (deine Prota?) etwas in seinen verschiedenen Hosentaschen (ich denke da an sowas wie Cargo/Arbeitshosen) suchen würde. Dann wäre es die Frau mit den Schubladen im Bein gewesen, die aus dem Bild stieg.

Doch inmitten der Schwärze der Nacht erkenne ich einen fahlen Schein am Fuße des Gebirges. (...) Er scheint mich magisch anzuziehen, mein Gang beschleunigt sich unwillkürlich. Das Licht wird mit jedem Schritt heller, die Müdigkeit scheint aus meinen Gliedern zu weichen, ich achte nicht auf den Boden zu meinen Füßen, fühle ihn nicht mehr, scheine zu fliegen, rasend durch die finstere Nacht, immer auf das Licht zu, kühle Luft im Gesicht, Asche auf der Zunge, Staub in den Lungen, immer weiter treiben mich meine Flügel voran, mein Gefieder flattert im Wind, das Licht kommt näher, gleich habe ich es, da ist es, gleich bin ich da!
Das erste ist ein konkretes Wort, aber betont nur die weiteren Wortwiederholungen (im Folgenden kommen mehr davon). Es heißt immer so schön: 'Nur die Sonne scheint'. Wenn es nur so scheint, aber nicht so ist, sag besser (dein Erzähler hat doch ansonsten eine sehr präzise Beobachtungsgabe!), wie es tatsächlich ist. Fast alle dieser 'scheinen's sind tatsächlich 'ists'. Bzw. scheint überhaupt alles mehr zu sein, als es ist, das merkt man doch auch ohne dass der Erzähler einen mit der Nase draufstößt. Damit machst du die Phantastik im Text kaputt, ich würde raten, alle 'scheinen's zu streichen, und alles einfach so sein lassen, wie du es beschreibst. Schon klar, dass das traumähnliche Zustände sind, bei dem, was sich da abspielt.

Bis zum letzten Satz dachte ich, soweit so gut. Offene Enden sind auch okay, aber ich kapiere die Implikation des letzten Satzes nicht, also, den Ausblick. Ist ihm kalt, weil eben alles Feuer war? Weil er in die Welt außerhalb der Kunst wechselt? Oder soll das irgendeine Gefühlssituation symbolisieren? Dein Plot ist doch gar nicht so unkonkret, und könnte einen Abschluß vertragen, der irgendeine Konsequenz oder zumindest einen Ausblick zeigt. (Ich meine das jetzt nicht als 'Moral von der Geschicht' - aber du wirst dir doch mehr als eine Bildbeschreibung + Übertritt in die Realität gedacht haben.) Also, da stehe ich auf dem Schlauch, und das schwächt den Text, die Geschichte um diese Wanderung und wortwörtliche Feuergeburt durch die Hand des Malers - so ich das richtig verstanden habe.

In der Gesamtstimmung finde ich diese hehre, dramatische Sprache sehr angenehm zu lesen, an vielen Stellen aber auch etwas zu dick aufgetragen, bissl viel Pathos. Wenig mehr, und es wäre für mich gekippt. Interessant ist, dass in den meisten Büchern des klassischen Surrealismus die Sprache sehr klar, unprätentiös und schnörkellos ist, dabei die Handlung und die Charaktere unkonventionell, assoziativ. Bei dir ist der Plot sehr stringent, dafür schlägt die Sprache Kapriolen. Ginge ich vom Prinzip form follows function (i.e. in diesem Falle, Genre) aus, passt es nicht ganz. Ist aber nur eine Anmerkung, keine Kritik.

Interessant, und ich wünschte, mir hätte das Ende was gesagt, was allem davor eine stärkere Relevanz gibt (über die für den Prot hinaus). Ich würde mich sehr über eine Aufkärung freuen - kannst ja die Spoiler-Funktion nutzen, wenn du die anderen Leser weiterrästseln lassen willst. (Spoiler findest du oben in der Icon-Leiste als Dropdown bei den drei ... Punkten.)

Herzliche Grüße,
Katla

 

Hallo @PleasureToGrill
nur ganz kurz, weil unterwegs, aber zu neugierig, um zu warten:
Wir reden hier von der Betrachtung der "brennenden Giraffe" von Dalí, oder?

Gruß
Huxley

 

Wuhu, direkt drei Antworten! Vielen Dank! :)

@josefelipe

Ein Dauerspektakel ersetzt keine Spannung / Handlung, es gibt dem Leser nichts, er wird zum Konsumenten, zum Zuschauer gemacht.

Da hast du völlig Recht. Ich muss an dieser Stelle aber dazu sagen, dass ich diesen Text bereits 2012 geschrieben habe, als ich kurz vor dem Examen stand, und extrem für die expressionistische und v.a. symbolistische Literatur der Jahrhundertwende geschwärmt habe (Stichwort L'art pour l'art). Nachdem ich den Text vor kurzem wieder ausgekramt und etwas überarbeitet hatte, wollte ich ihn einfach mal hier präsentieren - wohlwissend, dass er eigentlich nicht so recht ins Kurzgeschichten-Schema des Forums passt.
Da der Protagonist ja selbst ein Gemälde betrachtet - @Huxley hat es korrekt benannt - finde ich es gar nicht schlecht, wenn der Leser hier auch ein wenig aus seiner gewohnten Rolle gerückt wird. Vielleicht müsste ich den Text hierfür jedoch in einen bestimmten Kontext stellen (Geschichtensammlung "Bilder einer Ausstellung", oder so was...), damit man den Leser ein Stück weit auf den Bruch des künstlerischen Mediums vorbereitet.
Denn klar: Wer eine klassische Kurzgeschichte mit entsprechendem Plot erwartet, ist vermutlich enttäuscht.

Deine KG würde ich in die Kladde der Traumsequenzen stecken. Leider stehen die nicht sehr hoch im Kurs, denn der Leser fühlt sich oft auf den Arm genommen
Hast du völlig Recht. Wie gesagt, da bräuchte es wohl im Vorfeld eine Art Kontextualisierung.

Dein nächster Text braucht einen roten Faden. Das Hauptaugenmerk solltest Du auf die Handlung richten. Das ist zwar das Schwierigste, aber wenn Du die einmal hast, ist das Schreiben für Dich eine Kleinigkeit.
Vielen Dank! Leider ist das mit der Kleinigkeit auch 7 Jahre später noch nicht so ganz eingetreten... :rolleyes:

Viel Licht, aber passt schon, macht Tempo.
Jau, das war der Sinn.

Die Lichtjahre sind mir dann allerdings zu viel.
Hast du Recht. War nur ein selbstgefälliger Kunstgriff. Raus damit.

Danke vielmals für dein Feedback! Der Text ist eben damals einer ganz bestimmten Stimmung entsprungen, welche ich einzufangen versucht habe, und in die ich mich Jahre später immer noch einfühlen kann. Die Wortwahl ist definitiv etwas prätentiös, geb ich komplett zu. So war ich damals wohl leider... :Pfeif:

LG

 

Hallo @Katla! Vielen Dank für das ausführliche Feedback! :)

Da der Titel so direkt da drüber steht, fände ich den direkten Anschluß besser, also ohne Doppelung. Zumal der zweite Satz hübsch geheimnisvoll ist.
Gibt da ja so ein Sprichwort mit Augen und Schuppen... Trifft auch auf dreiäugige Fischlein zu. Genial!
Das ist doch mal nett, ich hatte immer nur gelesen, dass er ziemlich gemein und harsch sein konnte.
Künstler halt. Aber ich wollte einfach auch noch irgendetwas Positives in seine Beschreibung packen.
Weißt du, was ich klasse gefunden hätte? Wenn dein Prot (deine Prota?) etwas in seinen verschiedenen Hosentaschen (ich denke da an sowas wie Cargo/Arbeitshosen) suchen würde. Dann wäre es die Frau mit den Schubladen im Bein gewesen, die aus dem Bild stieg.
Wow, da spricht der/die wahre Kenner(in)! :huldig: Wäre eine schöne Ergänzung, aber ich wollte mich eben auf die Brennenden Giraffen als eines seiner bekanntesten Motive konzentrieren. Ich hatte auch nicht das Bild mit besagter Frau + Giraffe im Hintergrund vor Augen, sondern eines, auf dem man quasi nur Giraffen sieht.
ich würde raten, alle 'scheinen's zu streichen, und alles einfach so sein lassen, wie du es beschreibst.
Guter Hinweis, vielen Dank! Werd ich so berücksichtigen!
aber ich kapiere die Implikation des letzten Satzes nicht, also, den Ausblick.
Ich muss dir sagen: Ich weiß es auch nicht. Der Satz hat sich während des Schreibens einfach richtig angefühlt.
Vielleicht (und das ist jetzt nur meine Interpretation und keine AUTORisierte Festlegung) friert er tatsächlich, weil er zuvor so in seinen heißen (haha) Traum vertieft war. Generell erkenne ich die Oppositionen Licht-Dunkelheit und Hitze-Kälte in dem Text, wobei die Kälte mit Leblosigkeit (auf der Ebene, in den Ausstellungsräumen), die Hitze mit überbordender, auch verzehrender Energie (die Giraffen, das Feuergemälde) assoziiert werden können. Daran anschließen könnte man auch das Gegensatzpaar Kunst-Realität, wobei Erstere für ihn/sie "heißer", rauschhafter, lebendiger erscheint als Letztere. Klingt das schlüssig? Würde ja zumindest auch irgendwie zur L'art-pour-l'art-Philosophie der symbolistischen Literatur der Jahrhundertwende passen.
Wie gesagt, ich hab diese "Pointe" nicht bewusst gesetzt, es ist einfach passiert. :rolleyes:
Interessant ist, dass in den meisten Büchern des klassischen Surrealismus die Sprache sehr klar, unprätentiös und schnörkellos ist, dabei die Handlung und die Charaktere unkonventionell, assoziativ.
Da hast du Recht. Ich denke da spontan z.B. an die "Reitergeschichte" von Hofmannsthal. Aber ich stand damals (der Text ist von 2012) eben nicht nur unter dem starken Einfluss des Symbolismus, sondern auch des Expressionismus, und der suhlt sich ja nur so im Pathos. Daher wohl dieser Widerspruch. :lol:

LG

 

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