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"Ich schäme mich für dieses Land"

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31.07.2003
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"Ich schäme mich für dieses Land"

Julian war 16 und damit das jüngste Kind einer Düsseldorfer Familie. Sein Vater war niedergelassener Arzt und seine Mutter engagierte sich für Frieden und Gerechtigkeit in diversen kirchennahen Initiativen. Bei seiner Erziehung achteten die Eltern darauf, ihm Moral und christliche Werte zu vermitteln. Er lernte, Konflikte gewaltfrei zu lösen und Kompromisse zu finden. Er verachtete Gewalt und er konnte Menschen nicht verstehen, die grundlos hassten und ihre Aggressionen an Mitmenschen ausließen. Fremdenhass verabscheute er.

So kam es, dass er zusammen mit seinem Freund Tobias zu einer Demonstration gegen den geplanten NPD-Aufmarsch in Düsseldorf gehen wollte. Seine Eltern ermutigten ihn, seine Meinung ruhig und friedlich zu artikulieren – schließlich hatte auch der Bundeskanzler den „Aufstand der Anständigen“ gefordert. Morgens gegen halb 9 sollte die Demonstration beginnen. Julian und Tobias beobachteten während ihrer Fahrt mit der S-Bahn Polizisten in Kampfuniformen, gepanzerte Räumfahrzeuge und Wasserwerfer. Das Szenario wirkte bizarr, es war beängstigend. Julian erinnerte sich an die TV-Bilder aus dem Kosovo-Krieg. Seine Familie hatte Flüchtlinge aufgenommen. Auch ihre Erzählungen kamen Julian in den Sinn. „Das hier ist ja fast wie im Krieg“, sagte er zu seinem Freund. Dieser nickte. Eine unheimliche Spannung lag in der Stadt. Auf dem Grabbeplatz sammelten sich die Gegendemonstranten – Musik schallte über den Platz. Es mochten gut 2000 Menschen sein, die meisten sahen alternativ aus. Einige waren schwarz gekleidet und wirkten irgendwie entschlossen. Julian wusste nicht, wie er es anders beschreiben sollte. Er und Tobias standen etwas im Abseits, am Rande des Platzes und beobachteten die Menge. Campino, der Frontman der Toten Hosen wollte auch zur Demo kommen, erinnerte sich Julian. Wenn Nazis durch seine Heimatstadt marschieren, sehe er sich gezwungen auf die Straße zu gehen, hatte er im WDR gesagt. Julian mochte Campino – weniger die Musik, sondern den Menschen. Er hatte ihn einmal kurz getroffen, mit ihm gesprochen. Dies war auf einer Veranstaltung, die seine Mutter organisiert hatte und die einem Flüchtlingshilfswerk zu Gute kommen sollte. Doch es blieb keine Zeit für Erinnerungen.

In die bunte Menschenmenge kam Bewegung. Menschen bildeten Ketten, hielten sich an den Händen. Die Musik wurde ausgemacht. Eine Durchsage, von der Julian und Tobias wegen der schlechten Akustik nichts verstanden, löste Pfiffe aus und schien die Stimmung anzuheizen. „Es passiert schon nichts, schließlich demonstrieren wir ja friedlich“ versuchte Tobias seinen Freund zu beruhigen, dem die Verunsicherung anzusehen war. Julian nickte, Tobias hatte Recht. Was sollte schon passieren? Auch Julian und Tobias reihten sich in die Ketten ein, dann ging es los. Der Demo-Zug bewegte sich relativ schnell. Transparente waren an den Seiten, hinten und vorne angebracht, so dass der Zug in sich geschlossen war.

Nach wenigen Metern - genau auf der Einkaufsstraße im Herzen der Stadt - ertönten von überall her Sirenen. Schreie waren zu hören, die wie Kommandos klangen. Das Klirren von Glas erzeugte bei Julian eine Gänsehaut. Er wollte weg, doch er konnte nicht. Panisch blickte er sich um. Tobias war ebenso verwirrt und entsetzt. Die Menge begann zu laufen, sie wurden mitgerissen. Wieder das Klirren von Glas, die Sirenen wurden lauter. Julian konnte sehen, wie weiter vorne Steine flogen. Plötzlich Wasser, ein harter Strahl. Menschen schrieen, Julian wollte weg. Er musste flüchten. Er riss sich von Tobias los und lief. Die Sirenen wurden lauter, dann sah er die Einsatzwagen der Polizei aus den Seitenstraßen kommen. Sie rasten durch die Menge, hielten schließlich an. Polizisten in Kampfuniform stürmten aus den Wagen, schlugen wild um sich. Julian sah, wie Frauen, ja selbst junge Mädchen geschlagen wurden. Manche bluteten, die Polizisten schlugen auf alles ein, was sich bewegte.

Geschockt blieb er stehen. Wie sollte er sich verhalten? Ein Ruf tönte über den Platz. Die Polizisten zogen Gasmasken an. Von einem Wagen wurden Salven abgeschossen. Tränengas, schoss es Julian durch den Kopf. Zu spät, er stand mitten drin. Er röchelte, seine Schleimhäute brannten. Er rieb sich die Augen, es half nichts. Er konnte nichts mehr sehen. Jemand rannte ihn um. Er fiel hin, jemand trat auf ihn ein. Überall hörte er Menschen weinen, röcheln, schreien. Ich muss sterben, dachte er und begann zu weinen. Jemand schrie ihn an. Er verstand die Worte nicht. Er spürte einen Tritt in die Beckengegend. Er rieb sich die Augen, sah verschwommen. Ein Polizist stand neben ihm. Er hatte seine Gasmaske noch an und einen Schlagstock in der Hand. Julian hatte Angst. Was war denn hier nur los? Er hatte doch nichts Schlimmes getan. Er wollte doch nur demonstrieren und nun musste er sterben.

Er war sich ganz sicher, es gab keine Rettung für ihn. Der Polizist brüllte ihn durch die Gasmaske wieder an. Julian verstand kein Wort. Der Gummiknüppel traf ihn genau auf den Brustkorb. Schmerzen, er konnte nicht mehr. Er sah Springerstiefel auf ihn zu kommen. Ganz schnell, darüber eine rote Hose. Sie kam genau ihn zu. Julian sah, wie sich der Polizist umdrehte. Er schrie die Person mit den Springerstiefeln und der roten Hose an. Diese antwortete zwar laut und energisch, aber scheinbar sehr eindringlich. Der Polizist drehte sich weg und verschwand überraschend schnell. Julian atmete auf, so gut es ging. Schreckliche Schmerzen hatte er beim Atmen. Sein Brustkorb tat ihm weh. Jemand bückte sich zu ihm, er erkannte Campinos Gesicht. Dieser nahm seine Hand, drückte sie und sprach beruhigend auf Julian ein. „Ich schäme mich für dieses Land“ hörte Julian den platinblonden Sänger noch sagen, bevor er ohnmächtig wurde.


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Weil der Freund und Helfer evtl. ungehalten reagieren könnte, hier eine kurze Klarstellung: Sämtliche dargestellte Ereignisse entsprangen meiner Phantasie und stehen weder im bewussten noch im unbewussten Zusammhang zu tatsächlich gesehenen oder erlebten Geschehnissen.
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Vorweg: Ich habe die Geschichte sehr gerne gelesen.
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Wenn man die Geschichte als kleine Parodie auf die klischeehaften Lebenswelten von linksalternativen Jugendlichen nimmt, dann funktioniert sie ganz gut. Ich werde allerdings dass Gefühl nicht los, dass Du sie durchaus ernst meinst, FrozenFire.

Die Geschichte ist natürlich voller Klischees. Der liebe junge aus humanistischem Elternhaus, der völlig ungerechtfertigt auf einer Demo von der gemeinen gemeinen Polizei angegriffen wird. Obwohl er doch aus tiefstem Herzen gegen Fremdenhass protestieren wollte. Soweit so gut. Ich mache mich darüber lustig, weil ich solche jungen Leute nicht unbedingt mag. Aber man kann natürlich durchaus sowas schreiben ohne gleich Märchen zu erzählen. In Genua haben wir das ja gesehen.
Aber das er am Ende von Campino gerettet wird, kurz bevor er ohnmächtig wird, ist echt der Hammer. Wenn es ernst gemeint ist, also nicht als Parodie, dann schlägt es dem Fass wirklich dem Boden aus. "Ja gut äh, der Campino, der ist äh, quasi a Lichtgestalt, der hat alles was äh ein Musiker haben muss" *ggg*

Ja also Du siehst schon worum es mir geht. Wenn Du die Geschichte ernst meinst, also Du wirklich die Deutsche Polizei und den Staat kritisieren willst, dann wirst Du viel Gelächter damit ernten. Das kann man so nicht machen.

Wenn es eine Parodie sein soll, dann muss sie noch deutlicher und überzogener werden.

Hier noch ein kleiner Fehler, der mir aufgefallen ist:

Sie kam genau ihn zu.

Da fehlt das auf.

Sal

 

Hallo FrozenFire,

Deine Geschichte ist sauber und flüssig geschrieben und auch recht spannend, aber letztendlich fand ich sie trotzdem schlecht. Der "gesellschaftskritische Aspekt" ist einfach total daneben (da ja eigentlich nichts in der Geschichte mit unserer Gesellschaft zu tun hat), und der Text ist voll von Klischees der schlimmsten Sorte. Nirgends in Deutschland wird eine Demonstration gegen Rechtsradikalismus mit Wasserwerfern, Tränengas und Schlagstöcken aufgelöst. Der Text suggeriert, dass die Polizei irgendwie mit den Rechten unter einer Decke steht. Bei aller berechtigter Kritik an Polizei, so eine Darstellung ist einfach realitätsfremde linksradikale Propaganda.
Am Ende implodiert der Text dann sowieso. Campino als der Messias? Als Fan-Fiction vielleicht schon, aber ernst nehmen kann man das nicht.

Ich hoffe ich war nicht zu polemisch, aber die Geschichte war wirklich ein Griff ins Klo.

Viele Grüße,

I3en

 

Nachtrag:

Las gerade die Kritik von Salinger. Die Geschichte ist wohl tatsächlich eine Parodie. Hehe, mich haste jedenfalls reingelegt. ;)

 

Ich glaube eher nicht I3en, aber das wird uns FrozenFire schon noch sagen!

 

Nunja, ihr beide seid schon auf dem richtigen Weg. Natürlich ist die Geschichte eine Parodie, allerdings mit wahrem Hintergrund. Es kommt immer öfter vor, dass Polizisten Tränengas, Wasserwerfer und Gummiknüppel gegen Antifas einsetzen. Deshalb wollte ich die Parodie auch nicht so offensichtlich erscheinen lassen. Die geschilderten Geschehnisse sind durchaus möglich. In diesem Fall jedoch natürlich überzogen dargestellt. Einzig und allein Campino, der als Retter erscheint, ist als reales Moment in meinen Augen absolut nicht brauchbar.

 

Ach. Und wo ist Dir ein solcher Fall bekannt?

Und Julian ist ja kein Antifa oder? Der ist doch ein ganz normaler Jugendlicher, der nicht auf die Idee kommen würde Steine zu schmeißen oder etwas in der Art.

Atifa heißt Widerstand. Hoch lebe die Internationale Solidarität rofl :D

 

Ich war 6 Jahre lang Mitglied einer Antifa-Gruppe und war in dieser Zeit auf knapp 150 Demos. Ich weiss also, wovon ich hier spreche. Und Antifas, lieber Salinger, sind in der Regel keine "die auf die Idee kommen würden Steine zu schmeißen". Was du meinst, sind Autonome, die in letzter Zeit verstärkt die Antifa unterwandern. Genau dies war auch der Grund, weshalb ich letztlich ausgestiegen bin. Widerstand ist okay, aber nur solange auf Gewalt verzichtet wird.

 

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