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"Ich schäme mich für dieses Land"
Julian war 16 und damit das jüngste Kind einer Düsseldorfer Familie. Sein Vater war niedergelassener Arzt und seine Mutter engagierte sich für Frieden und Gerechtigkeit in diversen kirchennahen Initiativen. Bei seiner Erziehung achteten die Eltern darauf, ihm Moral und christliche Werte zu vermitteln. Er lernte, Konflikte gewaltfrei zu lösen und Kompromisse zu finden. Er verachtete Gewalt und er konnte Menschen nicht verstehen, die grundlos hassten und ihre Aggressionen an Mitmenschen ausließen. Fremdenhass verabscheute er.
So kam es, dass er zusammen mit seinem Freund Tobias zu einer Demonstration gegen den geplanten NPD-Aufmarsch in Düsseldorf gehen wollte. Seine Eltern ermutigten ihn, seine Meinung ruhig und friedlich zu artikulieren – schließlich hatte auch der Bundeskanzler den „Aufstand der Anständigen“ gefordert. Morgens gegen halb 9 sollte die Demonstration beginnen. Julian und Tobias beobachteten während ihrer Fahrt mit der S-Bahn Polizisten in Kampfuniformen, gepanzerte Räumfahrzeuge und Wasserwerfer. Das Szenario wirkte bizarr, es war beängstigend. Julian erinnerte sich an die TV-Bilder aus dem Kosovo-Krieg. Seine Familie hatte Flüchtlinge aufgenommen. Auch ihre Erzählungen kamen Julian in den Sinn. „Das hier ist ja fast wie im Krieg“, sagte er zu seinem Freund. Dieser nickte. Eine unheimliche Spannung lag in der Stadt. Auf dem Grabbeplatz sammelten sich die Gegendemonstranten – Musik schallte über den Platz. Es mochten gut 2000 Menschen sein, die meisten sahen alternativ aus. Einige waren schwarz gekleidet und wirkten irgendwie entschlossen. Julian wusste nicht, wie er es anders beschreiben sollte. Er und Tobias standen etwas im Abseits, am Rande des Platzes und beobachteten die Menge. Campino, der Frontman der Toten Hosen wollte auch zur Demo kommen, erinnerte sich Julian. Wenn Nazis durch seine Heimatstadt marschieren, sehe er sich gezwungen auf die Straße zu gehen, hatte er im WDR gesagt. Julian mochte Campino – weniger die Musik, sondern den Menschen. Er hatte ihn einmal kurz getroffen, mit ihm gesprochen. Dies war auf einer Veranstaltung, die seine Mutter organisiert hatte und die einem Flüchtlingshilfswerk zu Gute kommen sollte. Doch es blieb keine Zeit für Erinnerungen.
In die bunte Menschenmenge kam Bewegung. Menschen bildeten Ketten, hielten sich an den Händen. Die Musik wurde ausgemacht. Eine Durchsage, von der Julian und Tobias wegen der schlechten Akustik nichts verstanden, löste Pfiffe aus und schien die Stimmung anzuheizen. „Es passiert schon nichts, schließlich demonstrieren wir ja friedlich“ versuchte Tobias seinen Freund zu beruhigen, dem die Verunsicherung anzusehen war. Julian nickte, Tobias hatte Recht. Was sollte schon passieren? Auch Julian und Tobias reihten sich in die Ketten ein, dann ging es los. Der Demo-Zug bewegte sich relativ schnell. Transparente waren an den Seiten, hinten und vorne angebracht, so dass der Zug in sich geschlossen war.
Nach wenigen Metern - genau auf der Einkaufsstraße im Herzen der Stadt - ertönten von überall her Sirenen. Schreie waren zu hören, die wie Kommandos klangen. Das Klirren von Glas erzeugte bei Julian eine Gänsehaut. Er wollte weg, doch er konnte nicht. Panisch blickte er sich um. Tobias war ebenso verwirrt und entsetzt. Die Menge begann zu laufen, sie wurden mitgerissen. Wieder das Klirren von Glas, die Sirenen wurden lauter. Julian konnte sehen, wie weiter vorne Steine flogen. Plötzlich Wasser, ein harter Strahl. Menschen schrieen, Julian wollte weg. Er musste flüchten. Er riss sich von Tobias los und lief. Die Sirenen wurden lauter, dann sah er die Einsatzwagen der Polizei aus den Seitenstraßen kommen. Sie rasten durch die Menge, hielten schließlich an. Polizisten in Kampfuniform stürmten aus den Wagen, schlugen wild um sich. Julian sah, wie Frauen, ja selbst junge Mädchen geschlagen wurden. Manche bluteten, die Polizisten schlugen auf alles ein, was sich bewegte.
Geschockt blieb er stehen. Wie sollte er sich verhalten? Ein Ruf tönte über den Platz. Die Polizisten zogen Gasmasken an. Von einem Wagen wurden Salven abgeschossen. Tränengas, schoss es Julian durch den Kopf. Zu spät, er stand mitten drin. Er röchelte, seine Schleimhäute brannten. Er rieb sich die Augen, es half nichts. Er konnte nichts mehr sehen. Jemand rannte ihn um. Er fiel hin, jemand trat auf ihn ein. Überall hörte er Menschen weinen, röcheln, schreien. Ich muss sterben, dachte er und begann zu weinen. Jemand schrie ihn an. Er verstand die Worte nicht. Er spürte einen Tritt in die Beckengegend. Er rieb sich die Augen, sah verschwommen. Ein Polizist stand neben ihm. Er hatte seine Gasmaske noch an und einen Schlagstock in der Hand. Julian hatte Angst. Was war denn hier nur los? Er hatte doch nichts Schlimmes getan. Er wollte doch nur demonstrieren und nun musste er sterben.
Er war sich ganz sicher, es gab keine Rettung für ihn. Der Polizist brüllte ihn durch die Gasmaske wieder an. Julian verstand kein Wort. Der Gummiknüppel traf ihn genau auf den Brustkorb. Schmerzen, er konnte nicht mehr. Er sah Springerstiefel auf ihn zu kommen. Ganz schnell, darüber eine rote Hose. Sie kam genau ihn zu. Julian sah, wie sich der Polizist umdrehte. Er schrie die Person mit den Springerstiefeln und der roten Hose an. Diese antwortete zwar laut und energisch, aber scheinbar sehr eindringlich. Der Polizist drehte sich weg und verschwand überraschend schnell. Julian atmete auf, so gut es ging. Schreckliche Schmerzen hatte er beim Atmen. Sein Brustkorb tat ihm weh. Jemand bückte sich zu ihm, er erkannte Campinos Gesicht. Dieser nahm seine Hand, drückte sie und sprach beruhigend auf Julian ein. „Ich schäme mich für dieses Land“ hörte Julian den platinblonden Sänger noch sagen, bevor er ohnmächtig wurde.
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Weil der Freund und Helfer evtl. ungehalten reagieren könnte, hier eine kurze Klarstellung: Sämtliche dargestellte Ereignisse entsprangen meiner Phantasie und stehen weder im bewussten noch im unbewussten Zusammhang zu tatsächlich gesehenen oder erlebten Geschehnissen.
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