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Ich sah dich im Schlaf lächeln
1. Lilli
Der Krankenhausflur leuchtete im kalten Licht der Neonröhren. Ich hörte entferntes Husten. Schritte. Eine Tür, die geschlossen wurde.
Uhrticken. Die verrinnende Zeit...
Ich spürte den Geruch der Todkranken in der Luft. Das beginnende Modern.
Ich blickte auf meine zerschabte Uhr. Als ich wieder aufsah, hatte ich die Zeit schon wieder vergessen.
Eine Krankenschwester eilte an mir vorbei. Die ursprünglich weißen Schuhe waren ausgeleiert und verfärbt. Ich hob langsam den Kopf. Sah ihr hinterher. Sie war klein und durch ihre schmalen, gerkümmten Schultern sah sie aus, als trüge sie die Last der Welt. Sie schien mich nicht zu bemerken. Vielleicht war ich unsichtbar geworden. Zumindest fühlte ich mich so. Unsichtbar. Unbedeutend im Vergleich zu den Schmerzen, die meine Mutter erleiden musste. Meine Mutter. Die Krankheit hatte sie hässlich gemacht. Und so furchtbar klein.
Uhrticken.
Mein rechter Fuß schlief ein. Also stand ich auf, zögernd, und ging ein paar Schritte. Dem Fenster entgegen. Dort lag sie. Ich wünschte, ich würde weinen. Die ganze Zeit. Aber nein. Ich weinte nicht. Die Tränen. Ich hatte keine mehr. Keine Tränen für meinen Schmerz. Und keine Tränen für meine Mutter.
"Seltsames Mädchen", hatte die Krankenschwester einem Besucher zugeflüstert.
"Sitzt da und schweigt. Immer. Armes Ding."
Seltsam? Vielleicht. Doch da war noch etwas. Angst? Ja, Angst. Niemand würde je fühlen, was ich fühlte.
Uhrticken.
Im Zimmer gegenüber rührte sich etwas. Der Junge. Er hatte sich bei einem Autounfall schwere Verletzungen zugezogen. Er war... Er hatte etwas. Seine Augen waren einfach unglaublich.
Ich beobachte. Observierte. Reine Feststellungen. Seine Familie und seine Freunde besuchten ihn regelmäßig. Eine glückliche Familie! Wer hatte so was heute noch? Ich erinnerte mich an scheinbar weit entfernte Tage. Ich. Und meine Mutter. Wir hatten uns gehabt. Wir waren vielleicht nicht glücklich gewesen, aber wir hatten unser Leben gelebt.
Die Tür zum Zimmer gegenüber, Nummer 43, war nur angelehnt. Ich konnte ihn atmen hören. Er schlief nicht. Genauso wie ich lauschte er dem dunklen Krankenhaus. Seinem Ächzen. Seinem Rumoren.
"Hey!". Ein leises Flüstern.
"Ich weiß das du da sitzt. Immer sitzt du da. Wie heißt du?"
Sollte ich ihn ignorieren? War das unhöflich? War ich je höflich gewesen? Ich konnte mich nicht erinnern.
"Es ist so furchtbar still hier. Sag doch was!"
Ich sog Luft ein. Atmen. Leben. Ich driftete ab. Bis seine Stimme mich zurückholte.
"Also, ich weiß ja nicht, wie es dir so geht, aber ich liege gerade ziemlich ungünstig. Kann mich nicht so gut bewegen. Autounfall, weißt du."
"Ja, ich weiß."
"Also redest du doch!"
Er schien sich zu freuen.
"Kannst du mir vielleicht einen Gefallen tun?"
Hoffentlich musste ich mich dazu nicht bewegen. Das fiel mir so schwer in letzter Zeit. So unendlich schwer.
"Ich hab Durst. Könntest du mich etwas aufrichten und mir was zu trinken geben? Bitte?"
Ich beschloss, ihm zu helfen. Meine Glieder schmerzten vom langen Sitzen. Meine Knochen protestierten. Langsam ging ich in sein Zimmer. Schaltete das Licht ein. Kniff die Augen geblendet zusammen. Er war schön. Trotz seiner Verbände war er makellos.
"Ich heiße Lilli."
Ich wusste wie er hieß. Die Grußkarten verrieten es mir. Gute Besserung, Tristan! Wir vermissen dich! Auf einer Karte war nur ein roter Lippenabdruck. Ich gab ihm das Glas Wasser. Es sah grünlich aus im Licht der Neonröhre.
"Warum bist du hier? Irgendein Verwandter?"
Ich hörte nicht zu. Mein Blick war auf ein Buch gefallen, dass auf dem mickrigen Nachttisch lag.
„ Das Bildnis des Dorian Gray“. Er schien nicht der Typ für so ein Buch zu sein. Oder für irgendein anderes Buch.
"Gefällt es dir?", fragte ich mit Blick auf das Buch.
"Ich habe es noch nicht gelesen. "
Natürlich nicht.
"Meine Großtante hat es mir mitgebracht. Ich lese nicht so viel."
Ich nahm das Buch in die Hand. Schlug es auf. Ließ die Seiten, Worte, Buchstaben an mir vorbeirauschen. Lange, lange war ich meinem lieben Freund Basil nicht mehr begegnet. Und der arrogante Lord.
Ich. Ja. Ich lächelte. Wie von selbst fing ich an zu lesen. Die Worte flossen aus meinem Mund. Einfach so. Irgendwann unterbrach ich mich, weil ich merkte, dass Tristan mich ansah. Erstaunt.
"Du hast eine angenehme Stimme. Liest du oft vor? Könntest du noch ein bisschen lesen? Ich kann ja doch nicht schlafen."
Also las ich. Ließ mich aus dem Krankenhaus in eine andere Welt tragen.
Die Nacht flog dahin. Ich las, Tristan hörte zu. Als meine Stimme schließlich ermüdete fragte er in die kurze Pause hinein:
"Wegen wem bist du hier?"
Ich hob meinen Kopf. Die Genickwirbel knackten.
"Meine Mutter. Sie hat Krebs."
Er sagte nicht „Oh, das tut mir Leid“ oder „Wie schrecklich“. Aber er sah mich an mit seinen Augen, so schön und doch so traurig. Ich fühlte einen leisen Stich in meiner Brust. Kurz darauf stand ich auf, verabschiedete mich und ging. Ich spürte noch immer den Blick seiner Augen.
2. Tristan
Ich sah wie sie ging. Sie sah zerbrechlich und klein aus. Ihre roten Haare reichten ihr bis unter den Rücken. Die dunkelblauen Augen waren sturmblau.
Sie hatte gelesen. Doch ich hatte kaum den Inhalt des Buches begriffen. Ihre Stimme hatte mich gefangen gehalten. Sanft, aber stark. Leise, doch laut.
So viele Wiedersprüche.
Ich schlief ein, denn das nächste, an das ich mich erinnere waren die Sonnenstrahlen, die mich weckten. Ich fragte mich einen Moment lang, ob ich nur geträumt hatte. Doch da lag das Buch. Aufgeschlagen und die eine Seite ein bisschen zerknittert.
Die Tür war angelehnt.
Der Tag kam mir unwirklich vor. In Ich dachte viel über sie nach. Dachte an ihre helle, durchsichtig wirkende Haut. Ihre schlanken Finger, die mit einer ihrer Haarsträhnen spielten. Die zarten Wangen.
Ich stellte mir vor, wie Lilli immerzu dasaß, vor dem Zimmer ihrer Mutter, bis spät in die Nacht. Stellte mir vor, dass sie, den Blick auf den Boden gerichtet, manchmal ein bisschen einnickte, doch immer wieder aufschreckte und durch das Fenster in das Zimmer ihrer Mutter blickte. Ich stellte mir vor wie sie in der Schule mitleidige Blicke erntete.
Je später es wurde, desto deutlicher hörte ich das Ticken der Uhr, die in meinem Zimmer hing. Ich hörte Schritte auf dem Gang.
Uhrticken.
Ich war eingenickt. Irgendwann schlug ich die Augen auf. Mein Radiowecker zeigte in leuchtend grünen Lettern 01:30 an.
Und ein Paar dunkelblaue Augen musterten mich. Lilli! Mit einem Ruck setzte ich mich auf. Meine Verletzungen fingen an, an zahlreichen Stellen zu schmerzen. Sie saß auf dem Stuhl gegenüber von meinem Bett. Die Luft im Raum knisterte unhörbar.
"Wo war ich? Kapitel 7... "
Nachdem sie wieder eine Weile gelesen hatte, fragte ich sie nach ihrer Mutter. Wie sie hieß. Was sie mochte und was nicht.
Sie erzählte mir von ihr. Ich glaube, es tat ihr gut, darüber zu reden. Ich unterbrach sie nicht. Hörte nur zu. Lies mich von ihren Erinnerungen davontragen. Sie erzählte, dass ihre Mutter Fotografin gewesen war. In ihrer Freizeit hatte sie viel gemalt, Lilli Geschichten erzählt von Orten, die sie fotografiert hatte. Sie hatte ein aufbrausendes Temperament gehabt. Sie war schnell wütend, aber auch schnell zu einer Versöhnung bereit gewesen.
Lilli war ganz anders. Ruhig. Überlegt. Sanft. Traurig. Der Name ihrer Mutter war Elaine. Sie war Engländerin. Lilli wusste nicht wer ihr Vater war. Elaine hatte ihr nur wenig von ihm erzählt. Dass er groß, dunkel und gutaussehend gewesen war.
Das Aussehen hatte sie von ihrer Mutter geerbt. Die roten Haare. Je nach dem, wie das Licht fiel, schimmerten sie mal golden, mal leuchteten Erdbeer-rote Strähnen. Sie lachte, wenn ich sie einfach nur ansah. Mir fiel auf, dass sie fröhlicher war.
Mit ihr verflogen die einsamen Tage und die stillen, düsteren Nächte.
Ich fing an die Stunden und Minuten zu zählen, bis sie wiederkam. Sie brachte andere Bücher mit. Las. Lachte. Die wunderbare Lilli. Und dann, eines Tages, war sie nicht mehr da.
3. Lilli
Meine Mutter starb an einem sonnigen Tag im Oktober. Der Anruf kam in einem meiner verlorenen Momente. Ausgerechnet in der Schule.
Der Anruf kam einen Monat nachdem ich Tristan kennen gelernt hatte.
Der Geruch der nassen Blätter. Der beißende Wind. Und meine Tränen. Endlich konnte ich weinen. Ich saß in unserem kleinen, einsamen Haus und weinte. Die Tränen tropften auf den Holzboden.
Elaines und meine Nachbarin, Frau Schwartz kam manchmal und stellte mir etwas zum Essen hin. Es blieb unberührt. Irgendwann dachte ich an Tristan.
Ich saß da. Manchmal wanderte ich in Haus herum.
Irgendwann, ich konnte nicht sagen wie viel Zeit vergangen waren, hörte ich ein energisches Klopfen an der Tür. Ich beachtete es nicht. Doch der geheimnisvolle Klopfer blieb hartnäckig. Einige Zeit später hörte ich es immer noch vereinzelt klopfen. Also stand ich auf. Ging zur Tür. Mir fiel auf, dass das Haus in völlige Stille gehüllt war.
Ich öffnete die Tür. Es war Tristan. Als er mich sah, riss er die Augen auf. Ich hatte längere Zeit nicht mehr in den Spiegel geschaut, aber ich wusste, dass ich katastrophal aussehen musste. Seit Tagen kein Essen. Kein Tageslicht. Kaum Bewegung. Er nahm mich in die Arme. Erst versteifte ich mich, doch ich genoss es zu sehr, um lange abweisend zu sein. Vorsichtig nahm er meine Hand und ging langsam mit mir ins Haus. Sekunden später hatte er mein Zimmer gefunden und ich fand mich in meinem Bett wieder. Ich schlief, zum ersten Mal seit Tagen wieder, ohne von Alpträumen gequält zu werden. Als ich aufwachte, saß er an meinem Bett. Das Krankenhaus-Szenario, nur umgekehrt.
In seinen Händen hielt er ein Tablett mit Tee und Broten. Ich roch den Duft des Pfefferminz-Tees. Während ich trank, erzählte er mir von seinem Alltag. Seiner Familie. Seinem Leben. Ich liebte den Klang seiner Stimme, wenn er von seiner kleinen Schwester erzählte. Schließlich aß ich etwas. Nachdem ich geduscht und die Kleider gewechselt hatte, fühlte ich mich wieder wie ein Mensch. Die ganze Zeit war er da. Machte mir Essen. Räumte im Haus auf. Hielt meine Hand. Hielt mein trauriges Schweigen aus. Und hörte mir geduldig zu, als ich mein Schweigen brach und ihm stundenlang von Elaine erzählte.
Inzwischen hatte die Schule angerufen. Am Telefon bemerkte ich, dass meine Stimme mir selbst fremd geworden war. Trotz der Beileidsbekundungen erkannte ich die eigentliche Botschaft. Sie könnten mich noch für einen weiteren Tag befreien und hätten natürlich Verständnis.
Obwohl ich bald 18 wurde, also fast "erwachsen" war, fühlte ich mich dem Druck nicht gewachsen. Mit Schrecken dachte ich an die Beerdigung. Die besorgten Anrufe meiner Verwandten waren am Schlimmsten.
Auf dem Sofa lag Tristan. Er war über einem Buch eingenickt, was ich ihm gegeben hatte.
Jetzt lächelte er.