Ich möchte tanzen gehen
Seit meiner Trennung fährt mein Mann einen goldenen Volvo und ich mit dem Stadtbus. Die Verteilung der Verkehrsmittel war vorher schon genauso; verloren habe ich nichts als die Illusion, Besitzerin eines goldenen Volvo zu sein, mitgenommen habe ich die Fähigkeit, mit ÖPNV jeden Ort auf dieser Erde zu erreichen, den ich möchte.
Jeden Ort? Fast jeden – wie das immer so ist, ein einziges gallisches Dorf... in diesem Fall ist es die Disco in der Nachbarstadt. Zu weit weg jetzt. Laut interaktiver Fahrplanauskunft keine Verbindung.
Und ich will tanzen, muss tanzen, kann nicht leben ohne tanzen, muss die Lautstärke im Zwerchfell spüren und die Menge um mich herum und das Licht, muss tanzen, tanzen, bis ich mich verliere, mich vollständig hingebe an die Musik, den Rhythmus, den Sound, mich führen lasse vom DJ, meine Umgebung nur noch fragmentarisch wahrnehme, wirbelnde Lichtreflexe, Gesichter im farbigen Nebel, ab und zu ein Lächeln, eine kurze Begegnung, und dann wieder bei mir, nur noch Körper, nur noch intuitive Bewegung, nur noch im Hier und Jetzt, Raum und Zeit vergessend.
Ein paar Monate hielt ich es durch, suchte und testete Alternativen, und mit einem Mal wurde das Verlangen übermächtig, und ich musste da hin, egal wie.
Also die Jeans an, das Gel in die Haare, die Glitzerohrringe rein und los, in der Tasche eine äußerst kreative selbst zusammengestellte Busverbindung für die Rückfahrt.
Oh what a night, der Abend war einfach genial.
Kurz vor Mitternacht musste ich natürlich schon wieder los, da sich sonst meine Kutsche in einen gelben Kürbis verwandelt hätte oder der letzte Nachtbus in ein teures Taxi, was ungefähr dasselbe ist. Zum Umsteigen hatte ich einen komfortablen Zeitpuffer von fünf Minuten, das musste reichen.
Der erste Bus kam dann schon mal mit fünfzehn Minuten Verspätung. Die Hoffnung stirbt zuletzt: „Kriege ich meinen Anschluss noch?“-„ Weiß nicht.“ war die schläfrige Antwort. Damit musste ich mich begnügen. Taxi ist verdammt teuer, wenn man so weit außerhalb wohnt.
Resigniert und ziemlich gefrustet, weil ich gerne noch geblieben wäre, hing ich im Sitz rum und realisierte erst nach der dritten Durchsage, dass der Busfahrer mir was sagen wollte. Mir! Sein Deutsch war schwer verständlich, der Lautsprecher machte es nicht besser. Ich also nach vorne, fragen was los ist. „Das war eben Ihr Bus. Sie haben nichts gehört, jetzt ist er weg.“ - Scheiße - Panik - „Kriegen wir den noch????“
Der eben noch müde Fahrer lief zu voller Form auf. Er raste dem Bus hinterher, sehr zur Erheiterung zweier kichernder Teenies auf den vorderen Plätzen. Die beiden mussten natürlich an der nächsten Haltestelle raus –der Fahrer hielt abrupt, murrend und sehr kurz- wodurch wir zwar kostbare Sekunden verloren, sie jedoch das Beste verpassten: einen vollkommen wachen, hoch engagierten Busfahrer, der sich begeistert in eine nächtliche Verfolgungsjagd stürzte, volle Kanne mit Lichthupe durch die dunkle menschenleere Stadt bretterte, meinem Anschlussbus hinterher, der ebenfalls einen flotten Reifen fuhr und erst eineinhalb Haltestellen später realisierte, was los war, mitten auf der Strecke bremste, warnblinkte und mir die Tür aufmachte. Wow, das nenne ich Kundenorientierung! Danke!!! - joggjogg - Danke!!!
Als ich drinsaß, konnte ich es einfach nicht glauben. Was für ein Erlebnis – fast noch schöner als tanzen.