- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 6
Ich lese sonst nie
Vor Wochen haben sie darüber gesprochen. Sie haben mir beschrieben, wie es ist, auf Ketamin zu vergessen, wie man heißt, wo man herkommt, wer man ist. Ob sie Angst hatten? Nein, auf Keta hast du keine Angst, du weißt, dass alles gut wird. Wie beängstigend es mir vorkam, das zu verlieren, was man ist, das, was man hat. Alles.
Ich weiß meinen Namen, weiß, woher ich komme und doch habe ich mich verloren in einem Labyrinth aus Rollen.
Ich wollte etwas sein, aus der Idee heraus, das, was von der Jugend übrig ist, auszukosten. Das, was so vergänglich ist, auszunutzen. Das, was verwerflich ist, auszuspielen.
Also habe ich entworfen und gesucht, etwas gefiltert, und die erste Gelegenheit wahrgenommen. Ich war noch ich beim Schreiben, harmlos, wollte, dass er anbeißt, dass er der Vorstellung nicht widerstehen kann, dass es einmalig ist und ich besser bin als die anderen. Er annonciert animalisch und wild, beim Schreiben erscheint er eher domestiziert. Umso besser, ich kann bei den üblichen Hülsen bleiben. Ich tease leicht und biete mich an, er will. Ich fordere, er ist bereit.
Ich verschließe alles, was meinen Namen trägt, hänge die Fotos ab, die mich ein paar Monate lang daran erinnert haben, dass ich nach Hause zurückkehren werde. Die lächelnden Erinnerungen teile ich nicht.
Ob es gefährlich ist? Sicher, ein bisschen vielleicht. Will ich einmal jemand ganz anders sein, wenn ich immer nur ein bisschen jemand anders sein muss? Unbedingt.
Ich drehe die Ordner um und ordne die Bücher, die Rückschlüsse auf meinen Beruf zulassen, hinter Türen. Dokumente verschwinden in Schubladen. Ich sehe mich um. Vieles ist noch da, kleine Puzzleteile. Bücher verraten viel. Meine Bücher schreien mich an: „Du hast studiert, zwei Fächer, offensichtlich. Du hängst an Altem, an Abenteuern, an Geschichten, die du selbst nicht erlebst, weil du Ziele verfolgst, die dein Leben eng machen werden, aber Stabilität versprechen.“
Ich dimme das Licht, schalte die kleinen Lampen ein, meine Musik läuft unterbrochen von Werbung. „Du verdienst nicht viel, du musst noch in der Ausbildung sein“, wispert die Stimme der Videoplattform. Und die Musik selbst wiederholt das Echo der Bücher. Kein Lied ist Kind des Zufalls. Jeder Text, jede Melodie ist ein Stück von mir und Teil dieser einen Playlist, die ihre Bedeutung mit jeder Gelegenheit, mit jedem Mann, verändert. Sie war mal eine heftige und plötzliche Verliebtheit, die leise verklungen ist. Sie war mal Hintergrund für einen Abend ohne Gefühle und voller Lust. Und heute wird sie den Eindruck von Kultiviertheit und Bildung suggerieren, was auch immer das sein mag.
Mancher möchte sieben Nächte, ich will nur eine. Ich gehe ins Badezimmer, lasse das Wasser einlaufen, stehe vor dem Spiegel. Mein Gesicht verändert sich langsam, ich sehe müde aus und weiß, dass ich es noch eine Weile richten kann. Zu verfallen bin ich den schönen Gesichtern und ihren Tutorials. Was zieht man an für diesen Anlass? Und wer ist „man“? Wie will ich sein?
Schwarz und voller Andeutungen soll es sein. Rote Lippen, allein für die Gruppe von Stereotypen, die in meinem Kopf immer aufgeregter diskutiert.
Ich bin fertig und gefalle mir. Mehr als sonst. Ein Wein und eine Zigarette auf dem Balkon verstärken das Gefühl, mich endlich verlassen zu haben. Wird er bleiben, wenn er mich sieht? Suche ich die Bestätigung, es wert zu sein, wenn es doch auch umsonst zu bekommen ist? Ich fange an zu verstehen, wofür er bezahlt. Dafür, dass es nichts ist und dafür, dass genau das klar ist. Alle Erwartungen, die sich erst aufbauen, dann erfüllen sollen und dabei so prächtig schillern, sind eng umgrenzt. Das ist attraktiv. Keine Enttäuschung in ihrem ursprünglichsten Sinn, die einen berühren kann.
Ich stehe vor meinem Bücherregal, es sieht mich an wie einen seltenen Besucher. Ich war lange nicht da und auch heute werde ich ihm wieder nicht gerecht. Das Freisein oder das Empören, beide versprechen Eindruck zu schinden, sind dünn und schmiegen sich an den Gedanken, beiläufig in meine Hände geraten zu sein. Der Graf von Monte Christo, der länger auf mich als auf seine Rache wartet, wird noch länger warten müssen. Er würde rufen: „Seht her, ich habe erst drei Seiten geschafft. Ich lese sonst nie.“