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Ich lese sonst nie

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10.02.2019
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Ich lese sonst nie

Vor Wochen haben sie darüber gesprochen. Sie haben mir beschrieben, wie es ist, auf Ketamin zu vergessen, wie man heißt, wo man herkommt, wer man ist. Ob sie Angst hatten? Nein, auf Keta hast du keine Angst, du weißt, dass alles gut wird. Wie beängstigend es mir vorkam, das zu verlieren, was man ist, das, was man hat. Alles.

Ich weiß meinen Namen, weiß, woher ich komme und doch habe ich mich verloren in einem Labyrinth aus Rollen.

Ich wollte etwas sein, aus der Idee heraus, das, was von der Jugend übrig ist, auszukosten. Das, was so vergänglich ist, auszunutzen. Das, was verwerflich ist, auszuspielen.

Also habe ich entworfen und gesucht, etwas gefiltert, und die erste Gelegenheit wahrgenommen. Ich war noch ich beim Schreiben, harmlos, wollte, dass er anbeißt, dass er der Vorstellung nicht widerstehen kann, dass es einmalig ist und ich besser bin als die anderen. Er annonciert animalisch und wild, beim Schreiben erscheint er eher domestiziert. Umso besser, ich kann bei den üblichen Hülsen bleiben. Ich tease leicht und biete mich an, er will. Ich fordere, er ist bereit.

Ich verschließe alles, was meinen Namen trägt, hänge die Fotos ab, die mich ein paar Monate lang daran erinnert haben, dass ich nach Hause zurückkehren werde. Die lächelnden Erinnerungen teile ich nicht.

Ob es gefährlich ist? Sicher, ein bisschen vielleicht. Will ich einmal jemand ganz anders sein, wenn ich immer nur ein bisschen jemand anders sein muss? Unbedingt.

Ich drehe die Ordner um und ordne die Bücher, die Rückschlüsse auf meinen Beruf zulassen, hinter Türen. Dokumente verschwinden in Schubladen. Ich sehe mich um. Vieles ist noch da, kleine Puzzleteile. Bücher verraten viel. Meine Bücher schreien mich an: „Du hast studiert, zwei Fächer, offensichtlich. Du hängst an Altem, an Abenteuern, an Geschichten, die du selbst nicht erlebst, weil du Ziele verfolgst, die dein Leben eng machen werden, aber Stabilität versprechen.“

Ich dimme das Licht, schalte die kleinen Lampen ein, meine Musik läuft unterbrochen von Werbung. „Du verdienst nicht viel, du musst noch in der Ausbildung sein“, wispert die Stimme der Videoplattform. Und die Musik selbst wiederholt das Echo der Bücher. Kein Lied ist Kind des Zufalls. Jeder Text, jede Melodie ist ein Stück von mir und Teil dieser einen Playlist, die ihre Bedeutung mit jeder Gelegenheit, mit jedem Mann, verändert. Sie war mal eine heftige und plötzliche Verliebtheit, die leise verklungen ist. Sie war mal Hintergrund für einen Abend ohne Gefühle und voller Lust. Und heute wird sie den Eindruck von Kultiviertheit und Bildung suggerieren, was auch immer das sein mag.

Mancher möchte sieben Nächte, ich will nur eine. Ich gehe ins Badezimmer, lasse das Wasser einlaufen, stehe vor dem Spiegel. Mein Gesicht verändert sich langsam, ich sehe müde aus und weiß, dass ich es noch eine Weile richten kann. Zu verfallen bin ich den schönen Gesichtern und ihren Tutorials. Was zieht man an für diesen Anlass? Und wer ist „man“? Wie will ich sein?

Schwarz und voller Andeutungen soll es sein. Rote Lippen, allein für die Gruppe von Stereotypen, die in meinem Kopf immer aufgeregter diskutiert.

Ich bin fertig und gefalle mir. Mehr als sonst. Ein Wein und eine Zigarette auf dem Balkon verstärken das Gefühl, mich endlich verlassen zu haben. Wird er bleiben, wenn er mich sieht? Suche ich die Bestätigung, es wert zu sein, wenn es doch auch umsonst zu bekommen ist? Ich fange an zu verstehen, wofür er bezahlt. Dafür, dass es nichts ist und dafür, dass genau das klar ist. Alle Erwartungen, die sich erst aufbauen, dann erfüllen sollen und dabei so prächtig schillern, sind eng umgrenzt. Das ist attraktiv. Keine Enttäuschung in ihrem ursprünglichsten Sinn, die einen berühren kann.

Ich stehe vor meinem Bücherregal, es sieht mich an wie einen seltenen Besucher. Ich war lange nicht da und auch heute werde ich ihm wieder nicht gerecht. Das Freisein oder das Empören, beide versprechen Eindruck zu schinden, sind dünn und schmiegen sich an den Gedanken, beiläufig in meine Hände geraten zu sein. Der Graf von Monte Christo, der länger auf mich als auf seine Rache wartet, wird noch länger warten müssen. Er würde rufen: „Seht her, ich habe erst drei Seiten geschafft. Ich lese sonst nie.“

 
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Ja, ist schon beeindruckend, der Text. Sehr sauber gearbeitet, ein sehr guter Rhythmus, der ist auch gut austariert, ein kurzes, knappes Schlaglicht, das zwischen den Zeilen erzählt. Ich glaube, ich kann und will da gar nicht so viel sagen, inhaltlich finde ich das gut, ist natürlich auch etwas oft benutzt, das Spiel mit der Identität, was kann und will ich sein, digital natives, auch die Lust darauf, sich neu zu erfinden, Grenzüberschreitung, Transgression, den letzten Rest Jugend auskosten etc. Ich verstehe es so, dass sie sich prostituiert, aber da ist für sie noch mehr drin als das Geld, es ist vor allem eine case study sozusagen, über sich selbst. Ich mag den Text wegen der Sprache, die genau, präzise und behutsam ist. Nie geschwätzig. Nur der Anfang: Warum da das wir? Das verstehe ich nicht. Ich denke, ein Fokus würde dem Text besser stehen, und hier verliere ich den fast, weil ich diese Ansprache nicht verstehe, wofür soll die gut sein? Es macht den Text nicht besser.

Bin gespannt auf weitere Texte von dir.

Gruss, Jimmy

 

Herzlich Willkommen @Lina Bell,

anspruchsvoller, mehrschichtiger Text, der zum Nachlesen und -denken zwingt. Du lieferst selbst das Bild eines Labyrinths der Rollen und so habe ich den Text auch gelesen.
In Anbetracht der Vergänglichkeit die Jugend auskosten, gefährliche Spiele in der Komfort-Zone, sich vorwagen aus der Enge und Stabilität und jemand anders sein, die Playlist einer Männer-Sammlerin, die es mal aus Lust, mal aus Verliebtheit, mal kultiviert versucht, es aber in der Regel gegen Bezahlung treibt. Stereotypen liegen im Wettstreit und hinter allem steht die Frage: Wie will ich sein?
Dazu passt der Titel, der sich als Schlusssatz wiederfindet. Aber ich will keine tiefergehende Exegese betreiben. Will nur sagen: Top Einstand, Chapeau!

Paar Flusen:

beim schreiben erscheint er eher domestiziert
Schreiben groß.

dass ich Nachhause zurückkehren werden
Duden-Empfehlung: nach Hause

Ich drehe die Ordner um und ordne die Bücher, die Rückschlüsse auf meinen Beruf zulassen, hinter Türen.
da würde ich statt: ordne hinter Türen, schließe hinter Türen schreiben

… die dein Leben eng machen werden aber Stabilität versprechen.
Kein Komma vor dem aber?

Sie war mal eine heftige und plötzliche Verliebtheit, die leise verklungen ist. Sie war mal Hintergrund für einen Abend ohne Gefühle und voller Lust. Und heute wird sie den Eindruck von Kultiviertheit und Bildung suggerieren, was auch immer das sein mag.
sehr gut gemacht.

Mein Gesicht verändert sich langsam, ich sehe müde aus und weiß, dass ich es noch eine Weile richten kann,(.) zu verfallen bin ich den schönen Gesichtern und ihren Tutorials.
Das würde ich durch einen klaren Punkt trennen, da habe ich mich beim Lesen verhaspelt.

Alle Erwartungen, die sich erst aufbauen dann erfüllen sollen und vorher so prächtig schillern
Komma vor dann.

Einzig den Erotik-Tag würde ich rausnehmen. Son bisschen Badewanne und ein paar nebulöse Andeutungen sind dafür zu wenig.

Gerne gelesen, Peace, linktofink

 
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Hola @Lina Bell,

dass der Text von einer erfahrenen Autorin stammt, wird mir schnell klar.

Anspruchsvolle Formulierungen, bisschen splendid, studiert halt – und warum sollte man einen Hehl daraus machen? Auch der Titel deutet auf hohes Niveau – und das hält sich bis zum letzten Wort.

Nur geht das Hand in Hand mit einer Überdosis Theorie einher. Die Prota beleuchtet sich selbst und ihre Möglichkeiten. Ich, der Leser, bleibe davon ziemlich unbeeindruckt.

Was soll mir das – zuzuschauen, wie ein verwöhnter Mensch seine Spielchancen auslotet?

Ja, der Esel möchte aufs Eis. Emotional komme ich in die gleichen Turbulenzen, die mich bei der Entscheidung ‚vegetarisch oder gleich ganz und gar total vegan’ verwirbeln würden.


Den Ketamin(?)-Einstieg fand ich nach dem Googeln(!) in Ordnung. Wer vergessen möchte, wer er ist, soll’s nehmen. Die Prota bewahrt Gott sei Dank den Überblick, okay.

Wie beängstigend es mir vorkam, das zu verlieren, was man ist, das, was man hat. Alles.

Aber sie hat’s schwer mit sich, es knistert nicht genug:
Ich wollte etwas sein, aus der Idee heraus, das, was von der Jugend übrig ist, auszukosten. Das, was so vergänglich ist, auszunutzen. Das, was verwerflich ist, auszuspielen.

Er annonciert animalisch und wild, beim schreiben erscheint er eher domestiziert.
Einen Besseren wird sie nicht finden.

... ich kann in meiner Komfort-Zone bleiben.
Das Kursive ist zu oft strapaziert.

... hänge die Fotos ab, die mich ein paar Monate lang daran erinnert haben, dass ich Nachhause zurückkehren werden.

Hier muss ich passen: Die Fotos hängen zuhause und die Prota ist ‚aushäusig’, also weit weg von ihnen – und trotzdem erinnern sie die Prota, dass ... ?
Aber kein Problem, ich bin manches Mal schwer von Begriff.

Will ich einmal jemand ganz anders sein, wenn ich immer nur ein bisschen jemand anders sein muss?
Warum kann sie das nicht selbst beantworten? Denn so gefragt, müsste ja die dilletantische Gesellschaft antworten, die ihr Studium und angstfreies Leben ermöglicht.

„Du verdienst nicht viel, du musst noch in der Ausbildung sein“, wispert die Stimme der Videoplattform.
Hier wird’s richtig interessant:D, und egal, ob das stimmt oder nicht – ich habe mehr die Autorin im Ohr als die Prota. Doch eigentlich warte ich auf das erotische Vorspiel:hmm:.

Das folgende Wechselspiel zwischen Büchern und Musik in gewählter Sprache und gut zu lesen könnte ich mir eher vorstellen als Manuskript für eine Vorlesung. Alles ist schön formuliert, doch es berührt mich nicht.

Mancher möchte sieben Nächte, ...
... sagt er:cool: - oder fantasiert sie:Pfeif:?

Rote Lippen, allein für die Gruppe von Stereotypen, ...
Stereotypen und rote Lippen beißen sich wie im Dschungel.


Ich fange an zu verstehen, wofür er bezahlt. Dafür, dass es nichts ist und dafür, dass genau das klar ist.
Scusi – nichts ist klar (für mich). Er zahlt für nix, oder wie (bitte)?

Alle Erwartungen, die sich erst aufbauen K dann erfüllen sollen und vorher so prächtig schillern, sind allein.
Vielleicht wäre hier eine Umstellung nachvollziehbarer:
Alle Erwartungen, die vorher so prächtig schillern, sich erst aufbauen und erfüllen sollen, sind allein.
Bleibt: Erwartungen sind allein. Hm.

Das ist attraktiv.
Ach? Und wieso?

Keine Enttäuschung in ihrem ursprünglichsten Sinn, die einen berühren kann.
Das kommt mir doch ein wenig gestelzt (und unerotisch:sconf:) daher.

Ich stehe vor meinem Bücherregal, es sieht mich an wie einen seltenen Besucher. Ich war lange nicht da und auch heute werde ich ihm wieder nicht gerecht. Das Freisein oder das Empören, beide versprechen Eindruck zu schinden, sind dünn und schmiegen sich an den Gedanken, beiläufig in meine Hände geraten zu sein.

‚Schöngeistig’ fällt mir spontan ein, meinetwegen auch beeindruckend. Ich ‚wohne’ einer Lesung ‚bei’, werde gleich zum Buffet stürmen, mich bedienen lassen von der mit den dicken Titten. Scusi ein weiteres Mal. Ich verlange sofortige Streichung des Erotik- tags!

Der Graf von Monte Christo, ...
... usch, der auch noch.

Er würde rufen: „Seht her, ich habe erst drei Seiten geschafft. Ich lese sonst nie.“
Lustiger Vogel, hat nur Schwierigkeiten bei der Navigation. Leider kann ich hier die Gedanken der Autorin nicht ergründen.


Liebe Lina Bell, wer so schreiben kann wie Du, ist doppelt gern gesehen bei den WKs. Auch wenn ich bisschen gelästert habe, soll das als arg- und harmlos verstanden werden, denn wer wie Du das Schreiben ernst nimmt, verdient alle Sympathie. Und auch ein Herzlich Willkommen!

José

 

Lieber @jimmysalaryman ,

vielen Dank für das Lesen und deinen Kommentar!
Case-Study trifft ziemlich genau das, woran ich beim Schreiben gedacht habe, letztendlich ist der Mann ebenso Mittel zum Zweck wie sie es vielleicht für ihn ist.
Ich hatte mich für das "Wir" entschieden, um die Protagonistion irgendwie von einer Gruppe zu separieren, aber nach deiner Anmerkung denke ich, dass das wahrscheinlich wirklich nicht nötig ist und eher Verwirrung stiftet.

Lieber @linktofink

auch an dich vielen Dank für das gründliche Lesen! Da ist die Orthografie-Bilanz aber mal verherrend! :sealed: :D

Lieber @josefelipe ,

ein drittes Danke an dich!
Als allererstes kicke ich den Erotik-Tag raus, er scheint völlig fehl am Platz zu sein :D
Und die Anmerkung zu der Theorielastigkeit des Textes ist gut zu hören, ich schreibe sonst tatsächlich nur Hausarbeiten und das ist mein erster Versuch, etwas "Schönes" und vor allem Freiwilliges zu produzieren.
Einiges kann ich hoffentlich mithilfe der Kommentare noch ausschärfen.
"Mancher" ist übrigens auf Simon Strauß und seine sieben Nächte bezogen. Ich dachte ein Text zu der magischen dreißiger Grenze und dem letzten Aufbäumen vor dem Ernst des Lebens kommt nicht ohne eine Anspielung auf sein Wolllustkapitel aus :lol:

Abschließend muss ich noch kurz meine Begeisterung rauslassen, wie nett und konstruktiv und sicher auch nachsichtig ihr hier seid!
Gute Nacht allerseits :)

 

no worries, @Lina Bell, orthographisch war das kein Fiasko, schon gar kein "verherrendes" ;), sondern leichte Kost. Peace

 

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