Ich lebe
Es war ziemlich kalt, als mich der Wind mit sich nahm. So klein und schutzlos, wie ich mich fühlte, war ich froh, als ich zwischen dem hohen Gras landete. Hier fühlte sich der Boden warm und weich an.
Ich war sicher, meinen Platz gefunden zu haben. Ob ich ihn wirklich gefunden hatte, würde sich erst später zeigen, wenn ich erwachsen war. Bis dahin würde aber noch viel Zeit ins Land ziehen.
Jetzt wollte ich erst einmal leben. Gerade mal ein kleiner Samen war ich, dennoch mit viel Kraft und Lebenswille.
Vorsichtig begann ich die ersten Wurzeln auszutreiben um mich hier fest zu halten. Ich wollte nicht wieder in den kalten Wind geraten und fortgetragen werden.
Mir war klar, hier möchte ich nicht wieder weg.
Schnell grub ich mich in den weichen Erdboden ein, denn es würde nicht mehr lange dauern, bis der Winter kam. Dieser stand nämlich schon vor der Tür.
Ich wusste, dass ich in der Erde sicher bin. Sie würde mich beschützen.
So verging mein erster Winter, und als der Frühling Einzug hielt, streckte ich meine ersten zarten Triebe aus dem Boden und schnupperte die frische Luft, welche in einer sanften Brise über die Wiese zog.
Noch war ich viel zu klein, um über die langen Grashalme drüber zu schauen. Ich musste mich also noch ein wenig gedulden, aber ich war zuversichtlich.
So vergingen einige Jahre und ich wuchs und gedieh. Nach einiger Zeit, hatte ich die Grashalme unter mir zurück gelassen und konnte mir die Umgebung ansehen. Schön war es hier.
Ich hatte eine Wiese gefunden, die etwas abseits der Felder und Weiden lag und völlig unberührt gelassen wurde. Inzwischen konnte ich recht weit sehen, da ich schon ziemlich gewachsen war, zwar für einen Baum noch jung, aber stark.
Meine Wiese, so nannte ich sie bei mir, war mit Blumen übersät. Ob im Frühling, im Sommer oder auch im Herbst, immer blühte es irgendwo. Ich liebte sie, genauso wie meine Blätter, welche sich der Jahreszeit anpassten. Das zarte helle Grün im Frühling, gefolgt von dem satten Grün des Sommers, bis zu dem bunten Schmuck im Herbst. Ich war stolz auf mich und zeigte es auch, indem ich mich immer weiter empor reckte.
Am Rand der Wiese, das wusste ich inzwischen auch, hatte ein Imker mehrere Bienenvölker stehen, welche in einem lustigen Treiben über die Wiese surrten.
Hier konnte ich eine Honigbiene beim Sammeln beobachten, dort versuchte ein Mistkäfer eine Kugel zu formen. Es war himmlisch.
Was ich bei meiner Landung hier nicht sehen konnte, war der kleine See, welcher unweit neben meiner Wiese durch einen kleinen Bach gespeist wurde. Was ich die ersten Jahre nur hören konnte, konnte ich jetzt auch beobachten. Ein geschäftiges Treiben herrschte dort. Nicht nur die Tiere des nahen Waldes kamen, um sich dort zu laben, nein, auch viele kleine Tiere lebten in und um den See. Immer wieder sah ich einen Storch, der dort Frösche oder kleine Fische fing. Enten dümpelten träge vor sich hin und auch eine Schwanenfamilie war dort ansässig. Mein Gott waren die Kleinen hässlich, bevor sie wie ihre Eltern ebenfalls zu stolzen Schwänen wurden.
Ich hatte aber nicht nur schöne Zeiten auf meiner Wiese. Es kamen Stürme, bei denen ich dachte, ich würde mich nicht mehr halten können und mit ihnen weg fliegen. Und einmal wurde aus dem kleinen Bach ein wilder reißender Fluss, der mir doch etwas Angst machte. Aber bald war er wieder nur der kleine Bach und ich beruhigte mich wieder. Auch sehr kalte Winter verlangten mir einiges ab. Ich konnte mich ja nicht wieder in der Erde vergraben, also musste ich sie so überstehen. Ich ließ meine Blätter fallen, nachdem sie sich langsam verfärbt hatten. So war es für mich einfacher und Igel fanden unter ihnen einen guten Schlafplatz für ihren Winterschlaf. Ich entschied mich dann ebenfalls wie viele der Tiere Winterschlaf zu halten. Mehr konnte ich eh nicht tun.
Auch diese schweren Zeiten überstand ich. Ich wuchs und wuchs und wuchs. Ich fühlte mich wohl auf meiner Wiese, obwohl ich alleine dort stand, war ich nie einsam.
Als ich groß genug war, bemerkte ich ein Vogelpaar, welches sein Nest in meinen Zweigen baute. Es war wunderschön ihren Nachwuchs, sicher verborgen zwischen meinen Zweigen, aufwachsen zu sehen.
Einige Jahre später baute sich eine Hasenfamilie zwischen meinen Wurzeln eine Höhle. Immer wieder musste ich mit meinen Zweigen rascheln, weil sie mit ihrem weichen Fell meine Wurzeln streiften, was mich ungemein kitzelte. Das war eben meine Art zu lachen.
Einmal landete sogar eine Eule auf ihrem Weg in meinen Ästen. Ich hatte selten so ein wunderschönes Wesen gesehen. Leider flog sie nach einer kurzen Rast weiter.
Die Jahre vergingen und ich habe mich fast nie einsam gefühlt. Nur Manchmal, wenn ich mich aus meinem Winterschlaf gerissen wurde, weil der Frühling an klopfte, aber die Winterkälte nochmal zurückkehrte, musste ich allein ausharren.
Eines war mir aber immer klar. Dies war mein Zuhause, das ich mir ausgesucht hatte und ich konnte mir kein besseres vorstellen. Hier war ich glücklich.