Ich kann Dich sehen
Ein Rascheln schwang durchs Gebüsch. Im Gehölz knackte es. Eine Kameralinse schob sich durch eine Lücke im Blätterdickicht und suchte.
Durch ihr wackelnd gezoomtes Bild zitterte erst ein Baum, dann ein Hund der an einen Mülleimer pisste, ein paar Kinder und endlich eine junge Frau auf einer Parkbank.
Der Mann hinter der Kamera, der Mann im Gebüsch stellte das Bild schärfer, behutsam darauf achtend sie nicht mehr aus dem Blick zu verlieren.
Keine Frage, die junge Frau war Nathalie. Von Weitem erkannte er sie inzwischen so sicher, wie sich selbst im Spiegel. Die Distanz war ihm so vertraut wie seine eigene Hand.
Nathalie rieb sich die Fußsohle, die sie aus ihrem Schuh gehoben hatte. Beim Bücken fielen ihr ein paar dunkle Haarsträhnen ins Gesicht und sie schob sie mit der anderen Hand sanft hinters Ohr.
Ihr Voyeur drückte ab.
Dann sah er auf die Uhr und mit einem letzten Blick auf Nathalies ferne Gestalt krabbelte er rücklings aus seinem Versteck auf den Kiesweg und lief nach Hause.
Wenn Pavel von der Forstbaumschule zurück nach Hause ging, spazierte er an mehreren Drogeriemärkten mit Fotodruckern vorbei. In einem von ihnen beeilte er sich noch vor Ladenschluss seine neuen Bilder auszudrucken, dann stieg er in den Bus und fuhr den Rest nach Hause.
Um acht Uhr kam er in seiner Wohnung an.
Er schloss sich auf und legte den Umschlag mit den Fotos von heute auf seinen Couchtisch. Dann ging er zur Kochnische und setzte den Teekessel auf.
Im Kühlschrank war Käse und Leberwurst. Etwas Mischbrot war im Brotfach. Pavel holte alles raus und stellte es mit auf den Couchtisch. Als der Tee fertig war servierte er ihn sich selbst in einer friesischen Kanne und setzte sich an den gedeckten Tisch.
Der Tee floss mit einem liebevollen Klang aus der Kanne in die kleine, feine Porzelantasse. Schon das Geräusch selbst versprach Wohlbefinden. Der Dampf stieg feinfädrig in die Luft. Er duftete herb und etwas holzig.
Pavel schloss die Augen und schmiegte seine festen, schmalen Lippen an den Tassenrand. Er atmete tief durch die Nase ein und nahm den ersten Schluck Tee.
Nach seiner Teestunde und dem Abendbrot lehnte Pavel sich auf dem Sofa zurück und sah sich die Bilder von Nathalie an. Das letzte war scharf. Ihre Hand verdeckte einen Teil des Gesichts, das war ärgerlich aber immerhin ließ es Bewegung erkennen und zeigte Nathalies langen, feingliedrigen Finger. Man glaubte den tänzelnden Schwung ausmachen zu können mit dem Nathalie Bewegungen vollführte. Präzise und minimalistisch. Fasste sie etwas an, schien sie es doch nur mit dem leichtesten Druck zu berühren ohne eine Impression davon auf ihre Haut zu bekommen.
Pavel studierte das Bild lange, dann stand er auf und hängte es mit Fotoecken fixiert an seine Wand an eine freie Stelle. Nicht ganz in die Mitte, denn dort hingen nur Porträts von Nathalie und Bilder auf denen sie lachte. Dieses aber gehörte weiter randständig angebracht, zu denen, die für Pavels Geschmack etwas zu voyeuristisch wirkten aber dennoch schön waren.
Pavels Passion Nathalie zu beobachten ging schon drei Jahre lang. Anfangs war es mühsam gewesen sie zu finden, sich dann geeignet zu verstecken, sodass er alles sehen konnte aber nicht gesehen wurde, weder von ihr noch von anderen Menschen. Spaziergänger, Kinder, rastende Rentner, all die Menschen die ziellos unterwegs waren hatten ihre Augen oft überall und waren immerzu bereit etwas perverses, widerliches und abnormales zu vermuten. Ganz besonders wenn es der Anblick einen erwachsenen Mannes war, der mit einer Kamera im Gebüsch hockte.
Pavel wollte sich nicht erklären müssen, denn er wusste er war nicht zu verstehen. Es gab zu viele Schweine auf der Welt doch so eins war er nicht. Pavels ganze Liebe galt nur ihrer Ästhetik, ihrem Gesicht und Körper, den eilig fließenden Schritten und ihrem weichen Lachen. Er verlangte nichts von ihr als zu sein. Am besten in seiner Nähe. Er störte sie nicht und bat sie um nichts. Er lebte damit und war zufrieden, dass sie ihn nicht einmal kannte. Liebe sollte uneigennützig sein und seine war es.
Die Schwierigkeiten hatten sich mit den Monaten und Jahren gelöst. Nathalies Wege waren zu seinen geworden. Ihre Routinen hatten sich in seinem Zeitgefühl tief verankert und bedingten so seine Routinen. Er kannte den Park und die Förde ebenso gut wie sie. Nur in ihrer Perspektive unterschieden sie sich.
Kam sie von der Arbeit aus dem Ministerium spazierte sie üblicherweise die Fördelinie entlang, das mal tintenschwarze und mal saphirblau glitzernde Wasser der Förde zu ihrer Rechten während die Nachmittagssonne ihr ums Gesicht wanderte. Pavel lag dann meist schon unter der Brücke beim Parlamentsgebäude oder saß unauffällig auf einer Parkbank. Manchmal kletterte er auch auf den Bug eines Bootes am Yachthafen. Das war zwar ein wenig riskant aber erstaunlicherweise konnte er von dort ganz ungeniert fotografieren ohne dass jemand sich daran störte.
Sobald sie an ihm vorbei gegangen war kürzte er den Weg zur Forstbaumschule über den Wald im Niemandsweg ab und erwartete sie dann bereits in einem seiner langerprobten Meisterverstecke.
Natürlich war ihr Zeitplan nicht immer so exakt vorherzusehen. Ging sie nach der Arbeit in die Stadt, wurde abgeholt oder war das Wetter zu schlecht um spazieren zu gehen und das passierte an der Ostsee ein ums andere Mal dann wartete Pavel vergeblich in seinem Versteck. An den Wochenenden verabredete sie sich gerne mit Freunden irgendwo in der Stadt. Das war wundervoll einerseits weil aus noch ungewohnten Situationen neue Motive von ihr entstanden und sie lachte und sprach. Andererseits war es eine Misere sie überhaupt aufzuspüren. Pavel musste sich verkleiden und heimliche Bilder mit einer Digitalkamera machen weil er sich in Restaurants und Cafés nicht unterm Tisch verstecken konnte. Außerdem waren ihm die meisten ihrer Freunde ein wahrer Graus. Ganz besonders ihre beste Freundin Mia. Eine geschwätzige Hünin mit blondierten Haaren, die mit dem Gefuchtel ihrer riesigen Hände oft Nathalie verdeckte während sie meistens über Männer herzog. Manchmal über einen bestimmten, aber gerne auch über Männer im Allgemeinen.
Manchmal an solchen Tagen machte Pavel sich dann nach seiner Teestunde noch einmal auf und fuhr zu ihrer Wohnung. Sie wohnte an einer breiten, befahrenen Allee im zweiten Stock. Ihr Schlafzimmer ging zur Straße raus und den Balkon verhängte nur ein weißer Seidenvorhang der zumindest eine Ahnung davon zuließ ob sie in ihrem Zimmer war oder nicht.
An diesem Abend aber streckte Pavel sich genüsslich und zufrieden aus, bereit mit seinem Tagwerk zufrieden ins Bett zu gehen. Er brauchte nur noch eine Decke aus dem Schrank zu holen und das untere Teil der Couch vorzuziehen. Dann konnte er beim Einschlafen die im Dunkeln schimmernden Bilder an der Wand betrachten und sich zu ihr träumen. Manchmal glitt seine Hand in einnehmender Somnolenz über die Sofafläche und entfaltete sich. Sein letzter Gedanke dann bevor er einschlief war die Vorstellung, dass sie hier neben ihm läge so nah, dass sie sich fast an ihren leicht ausgestreckten Händen berühren konnten.
Der nächste Tag war ein strahlend schöner Mittwoch. Es war über zwanzig Grad warm und wolkenlos. Ein Tag an dem Pavel sich im Park auf einer Bank positionierte, ahnend dass Nathalie eine Extrastunde hier bleiben würde um sich zu Sonnen. Sie würde ihr Gesicht strecken und den Hinterkopf auf der Banklehne ablegen, die Hände im Schoß gefaltet mit einem winzigen Lächeln im Gesicht und geschlossenen Augen. Vielleicht würde sie auch ein paar Telefonate mit dem Handy machen, plaudernderweise gut gelaunt mit einer Freundin. Wahrscheinlich der grässlichen Mia. Aber der kleine annähernd quadratisch gedrungene Mann, von etwa Mitte Fünfzig mit den ausgebeulten Jeans und der Lederweste überm Pullover würde ihr nicht auffallen der auf der Bank gegenüber sitzen würde mit einer Kamera auf dem Schoß.
Wie es auch kommen sollte, Pavel war bereit.
Nathalie hatte ein Buch dabei. Ein Taschenbuch mit hellem Einband. Den Titel konnte Pavel nicht erkennen. Er knipste fast ohne hinzuschauen, den Blick in eine ganz andere Richtung nur mit dem Daumen auf der Kamera. Mit diesem Trick konnte er sehr nah an sie heran.
Sie trug ein blaues Kleid mit Blumendruck und eine helle Strickjacke. Mit der freien Hand spielte sie mit einer ihrer dunklen, kinnlangen Haarsträhnen und blätterte in zügiger Frequenz die Buchseiten um.
Plötzlich aber schwang ein Rascheln durchs Gebüsch auf der anderen Seite einige Meter von Nathalie entfernt, aber nur wenige von Pavel. Im Gehölz knackte es. Eine Kameralinse schob sich durch eine Lücke im Blätterdickicht und suchte.
Pavel sah das winzige Objektiv bodennah hervorleuchten und sich ausrichten und eine kaltgrausige Befürchtung wurde binnen Sekunden war. Es richtete sich auf Nathalie.
Auf Pavels Stirn breitete sich Schweiß aus. Er schüttelte den Kopf mehrmals so heftig dass ihm schwindelig wurde. Er sah sich um. Gab es mehr Menschen denen hier ein Verbrechen auffiel? Natürlich nicht.
Pavel starrte zwischen Nathalie und dem winzigen Objektiv im Busch hin und her. Sie las noch immer, verträumt den Finger im Haar, vollkommen ahnungslos das arme Ding.
Pavel vertiefte die Zornesfalte zwischen seinen Brauen. Er hob die Kamera und hielt sie auf den Busch. Zoomte heran und fotografierte das Böse, dass sich dort abspielte.
Er verpasste seine eigene Teestunde, denn kaum kam er zu Hause an lief er an seine Fotowand und suchte. Suchte einen Eindringling, der sich im Gebüsch und vielleicht an seiner Wand versteckte. Der hier genauso unentdeckt lebte wie im Park.
Tatsächlich fand er einen Mann, der auf einigen Bildern im Hintergrund zu finden war. Auf einer anderen Parkbank, an einem Nachbartisch und als Spaziergänger an der Förde. Dort sogar mit einem Fernglas, halb verdeckt von seiner großen Pranke.
Pavel japste und stieß einen Spuke schießenden Schrei aus. Er schlug sich mit den Händen an die Schläfe. Das hier, durfte nicht wahr sein.
Da war etwas passiert, das aus einer Einbahnstraße einen offenen Platz machte. Pavel hatte sich immer als Kameramann betrachtet. Ein stiller, aber unverzichtbarer Teil im Leben von Nathalie, die die Hauptrolle spielte. Und es war ganz einfach der Lauf der Dinge, der Regie führte.
Doch nun war da einer zu viel, nahm Pavel seine Einzigartigkeit weg und versetzte ihn zu den anderen Beliebigen; ins Publikum.
Er folgte Nathalie weiter, fing damit an sie liebevoll mit Nath abzukürzen, obwohl sein eigentliches Ziel inzwischen ein anderes war.
Manchmal war es schwieriger, manchmal leichter aber fast immer fand er ihn irgendwo und schoss auf ihn. Er richtete das Objektiv auf das Objektiv des anderen und drückte erbarmungslos ab. Schoss die Bilder ab, so vernichtend wie Kanonenkugeln. Er wollte ihn entlarven denn entdeckt zu werden- das wusste Pavel nur zu gut- war der Tod der Heimlichen. Der Sommer ging vorbei, die Tage wurden wieder kürzer. Zu kurz. Die Fotosaison war vorbei wenn in den Nachrichten vom Beginn der Einbruchssaison der dunklen Nachmittage gewarnt wurde.
Wenn Nath nun aus der Arbeit kam war es bereits Dunkel und Spaziergänge nicht mehr reizvoll.
Er suchte sie an Wochenenden auf in Cafés und Restaurants, im Bistro ihrer Freundin Mia, manchmal vor ihrem Haus und immer suchte er auch den Anderen. Er hatte ihm einen Spitznamen gegeben. Er nannte ihn Karies.
Dann eines Tages waren er und Karies auf einmal auf unmittelbare Nähe zusammengekommen. In Mias Bistro. Nathalie saß an der Bar und trank Milchkaffee. Mia plapperte vom Tresen aus mit weinerlicher Aufgeregtheit aber Nathalie nippte ruhig und konzentriert an ihrem Kaffee.
Pavel saß am Fenster schräg hinter ihr und an der Wand , das Dreieck schließend dessen Spitze Nath war, saß Karies. Pavel erkannte ihn an seinem gefräßigen Blick. Er hatte Pavels Alter, einen beginnenden Bierbauch, ein grobporiges, großfaltiges Gesicht und zerzaustes graues Haar, dass an der Stirn spärlich war und nach hinten hin zu Berge stand.
Er trank Milchkaffee genau wie Nath. Eine Provokation.
Die beiden stierten einander an. Karies hatte auch Pavel erkannt. Er blickte spöttisch, Pavel dagegen herablassend. Beide feindselig und eine ganze Zeit lang blinzelte keiner von ihnen.
So vertieft verpasste Pavel den Moment, der der schönste in seinem Leben hätte werden können. Von dem es kein Foto gab und den er dennoch in seine Netz- und Regenbogenhaut tätowiert gewusst hätte.
Für kaum ein paar Augenblicke drehte Nath sich um wie ohne Grund, vielleicht von einem Geräusch im Rücken oder, einem unbestimmten Gefühl bewegt. Scheinbar war sie nur für einen Augenblick aus ihrer gedankenhaften Trance aufgewacht und neugierig geworden, was hinter ihr im Bistro vor sich ging.
Da sah sie Pavel an. Nicht nur ziellos in seine Richtung wie ein Lichtkegel der in der Luft abschwächt bevor er ein Objekt trifft und nicht nur gedankenverloren durch ihn hindurch. Sie blickte ihn an, musterte ihn und drehte sich zurück zu Mia.
Wer weiß, hätte Pavel sie in diesem Augenblick bemerkt, dann hätte sie ihn vielleicht sogar angelächelt.
Karies bestellte plötzlich die Rechnung, legte ein paar abgezählte Münzen auf den Tisch und ging. Pavel fühlte sich lächerlich gemacht. Als hätte sein Gegner mitten im Kampf aus Langeweile das Turnier verlassen.
Nath sagte irgendetwas zu Mia, das beschwichtigend klang aber für Pavel nicht zu verstehen war, anders als der Humbug, den Mia die ganze Zeit viel zu laut herausgeplärrt hatte. Pavel zahlte auch und ging.
Ob Pavel Experte genug war um eine Observation zu erkennen wenn er Opfer einer solchen war oder ob er es sich nur zutiefst wünschte, wusste er im Nachhinein selbst nicht mehr aber als es eine Stunde nach seiner Teezeremonie an der Tür klopfte erwartete er Karies bereits.
Dass Karies an der Wohnungstür klopfte statt an der Haustür zu klingeln war bereits ein erster Hieb im Duell weil er schon eingedrungen war in Pavels Zuhause. Er hatte nicht klingelnd gefragt ob er kommen dürfe sondern laut pochend mitgeteilt, dass er da war.
Pavel öffnete die Tür mit einem entschlossenen Zug, voll aufgerichtet und schnaubend einatmend.
„Ich glaube wir haben eine gemeinsame Freundin“, sagte Karies, der am Türrahmen lehnte.
Der Satz klang auswendig gelernt und geübt. Das hatte Karies vielleicht in der Hausecke stehend getan während Pavel seinen Tee trank. Genauso gut hätte er sagen können, Diese Stadt ist zu klein für uns beide.
Pavel trat einen Schritt zur Seite um Karies hinein zu lassen. Dessen alberne Einleitung gab Pavel Überlegenheit.
„Mein Name ist Volker“. Karies streckte eine Hand aus, die andere war in die Hüfte gestemmt während er breitbeinig im Raum stand. Er war kleiner als bisher angenommen. Offenbar ein Sitzriese mit langem Oberkörper aber stöpselhaft kurzen Beinen. Trotzdem war er immer noch einen halben Kopf größer als Pavel.
„Pavel“. Er erwiderte den Gruß mit nur einem angedeuteten Druck auf Karies Hand.
„Bist wohl so n Itzkiwitzki“, knurrte Karies belustigt
Pavel bleckte die Zähne. Er wollte sich nicht provozieren lassen aber genau dafür war Karies hier. Bevor er etwas sagen konnte fiel Karies Blick auf Pavels Fotowand. Er gab sich beeindruckt, gluckste erfreut und stellte sich näher an die Wand um aus wenigen Zentimetern Entfernung, immer noch breitbeinig und mit aufgestemmten Händen jedes einzelne Bild zu betrachten und zu kommentieren.
„Ach guck an, das war doch erst neulich. Natti mit ihren Eltern“.
Natti. Wollte der Typ mit diesem albernen Kosenamen Vertrautheit vortäuschen, die er Pavel vorauszuhaben vorgab, dann durchschaute Pavel ihn.
„Ach und hier.. Ne also da sah sie toll aus. Sag mal näher bist du nicht rangekommen? Sollte dir bei Gelegenheit mal meine zeigen. Paar gute Stücke dabei. Auch von damals, wo sie die Haare noch länger hatte“.
„Na das ist jawohl schon an die drei Jahre her“, sagte Pavel und ließ sich auf das Spiel ein. „Ich mag die Aktuellen Lieber“.
„Und sag mal wo hast du denn die Nacktbilder?“ Volker suchte die Wand bückend ab.
Pavel schoss das Blut in die Schläfenvenen. Dieses Dreckschwein. Er versuchte sich zu beruhigen. Sich nicht provozieren zu lassen.
„Willst n Tee?“
Karies, der nun Volker hieß richtete sich zum Hohlkreuz auf, drehte sich zu Pavel und spielte mit den Daumen in den Gürtellaschen.
„Tee? Du trinkst Tee? Kein Kaffee? Na gut. Warum eigentlich nicht? Also gut dann mal her mit dem Tee!“
Pavel brummte, drehte um und ging zum Couchtisch. Pavel hatte nur eine Tasse und die hatte er gerade benutzt. Er nahm sie mit zur Küchennische und wusch sie mit nervösen Fingern aus während der Teekessel heiß wurde.
Er kam zurück und reichte Volker die Tasse während er sich selbst eine kleine Müslischale eingegossen hatte.
Beide standen einander halb gegenüber mit dem Rücken zur Fotowand und nippten an ihrem Tee.
„Heiß“, sagte Volker und nippte nochmal. Danach schwiegen beide für den Zeitraum einer halben Tasse Tee.
„Wie bist du auf Natti gekommen?“
Pavel zuckte mit den Schultern. „Hab sie gesehen. Wie sie da saß. Im Park. Hatte die Kamera neu. Gewonnen. War dort um Vögel zu fotografieren aber die haben nicht still gehalten. Aber sie schon“.
„Bei mir stand sie mal im Kiosk. Hat sich ein Magazin gekauft. Sie hat mich angelächelt, mich junger Mann genannt und gezwinkert. Dann hat sie sogar nochmal zurückgeschaut als sie gegangen ist. Ich war noch nicht lang wieder allein zu dem Zeitpunkt und dachte: jetzt isses soweit. Jetzt verliebste dich nochmal“.
Pavel überkam eine Woge von Mitleid für Volker. Weil er dachte Nathalie hätte tatsächlich mit ihm geflirtet.
Plötzlich klingelte es und beide schreckten auf, den Blick zur Tür als ob die schon etwas verraten könnte.
Volker war der erste Besucher in dieser Wohnung, den Pavel je hatte, ein zweiter am gleichen Tag war schon arg unwahrscheinlich. Auch Volker schien Besuch nicht allzu sehr gewohnt zu sein. Fast wirkte er ängstlich.
Pavel ging zur Tür. Unterwegs stellte er die Teetassenmüslischale auf dem Tischchen ab. Er wollte jetzt vor Volker nicht dem ängstlichen Sonderling spielen sondern den normalen Mann, der an die Tür ging wenn es klingelte.
Er wartete kurz ab. Vielleicht hatte sich das schon erledigt. Jemand hatte sich geirrt und war wieder gegangen. Er zuckte zusammen als es wieder schellte. Das Geräusch war fremd in dieser Wohnung und forsch fordernd. Pavel hätte nicht einmal gewusst dass seine Klingel so klingt. Er guckte durch den Türspion. Niemand. Natürlich nicht. Er drückte auf die Öffnungstaste für die Haustür und von unten hallte das Geräusch der aufstoßenden Haustür und Schritte im Flur.
Pavel öffnete die Wohnungstür gerade weit genug, damit man eintreten könnte und ging zurück in den Raum zu Volker.
„Na wer das wohl ist?“, fragte Pavel gespielt genervt.
„Postboote wahrscheinlich“, knurrte Volker ungeachtet der späten Urzeit.
Die Schritte im Flur wurden lauter und im nächsten Moment stand Nathalie in der Türschwelle.
Sie lächelte freundlich. „Darf man hereinkommen?“
Pavel spürte seinen Puls aussetzen. Eine blitzeisartige Kälte schoss aus seinem Kopf den Rumpf hinunter. Er spürte neben sich Karies in Schock erstarren.
Vielleicht für eine Sekunde hätten die beiden sich am liebsten an den Händen gefasst. Sie traten instinktiv einen Schritt zurück in dem sinnlosen Hoffen die Fotowand verdecken zu können. Keiner Antwortete.
Nathalie schmunzelte und trat ein. Sehr langsam schloss sie hinter sich die Tür.
Sie trug einen dunklen Wollmantel und schwarze Stiefel.
In ihrer dunklen Kleidung leuchtete ihr elfenbeinhelles Gesicht blass hervor und ihre grünen Augen traten deutlich über den hohen Wangenknochen hervor.
Sie kam näher. So nah dass Pavel zum ersten Mal ihr Parfum riechen konnte. Er bildete sich ein dass ihr Blick kurz zur Wand mit den Fotos und zu ihm zurück zuckte aber sie ließ sich nichts anmerken.
„Es freut mich sie beide endlich kennen zu lernen“, sagte sie und drehte sich dabei um und ging zu Couch. Dort nahm sie selbstbewusst Platz, schlug die Beine übereinander und begann sich die Handschuhe abzustreifen.
„Sie sind mir aufgefallen heute Nachmittag“. Sie lachte vergnügt. „Endlich muss man fast sagen denn so einen gewissen Eindruck von ihnen hatte ich schon lange“. Sie beugte sich vor und griff nach der noch dampfenden Müslischale, die auf dem Tisch stand und roch neugierig an dem Tee. Pavel und Volker standen weiter dicht an die Wand gekauert und starrten sie an.
Pavel erschauerte. Sie saß da, roch an seinem Tee, in seiner Wohnung auf dem Sofa auf das er sie so oft geträumt hatte. Doch nun da sie da war wollte er dass sie wieder verschwand. Dass sie ihn nicht sah, seine winzige Wohnung nicht sah und nicht die Scham, die ihn in diesem Augenblick wie ein schwarzes Loch von Innen aufsaugte.
„Ich nehme mir noch nicht heraus uns als Freunde zu bezeichnen meine Herren, aber ich glaube es wird Zeit, dass wir es endlich werden“.
Die beiden rührten sich weiter nicht und schwiegen als könnten sie sich tot stellen.
„Ich habe ein Problem bei dem sie beide und ihre außerordentlichen Fähigkeiten mir sehr weiterhelfen könnten. Ich würde sie natürlich um nichts bitten aber meine Situation ist sehr dringend und da kannte ich mir keinen anderen Ausweg als sie aufzusuchen. Nun bin ich natürlich hocherfreut sie auch noch beide gleichzeitig hier anzutreffen“.
Sie nahm einen kleinen Schluck, legte den Kopf leicht in den Nacken und verwahrte den Tee für ein paar Sekunden genüsslich im Mund.
Dann stellte sie plötzlich hastig die Schale zurück auf den Tisch, stand auf und ging auf die beiden zu.
Pavel kam langsam wieder zu sich.
War wie ein schöner Albtraum indem seine Sehnsüchte und schlimmsten Ängste sich wild mischten? Nie war sie so nah an ihm. Nie hatte sie mit ihm gesprochen. Immer hatte er geglaubt alles über sie zu wissen doch nicht dass die ihn kannte. Seine Tarnung war weg. Er stand da nackt und schutzlos und das Vertrauteste in seinem Leben war plötzlich fremd. Und in seiner Wohnung.
Er schluckte einen staubigen Kloß. Aller Speichel war aus seinem Mund getrocknet und hinderte ihn zu sprechen.
„Was können wir für Sie tun?“. Er war kläglich heiser aber Nathalie strahlte ihn aufmunternd an.
Sie holte einen Umschlag aus ihrer Manteltasche und klappte ihn auf.
„Hier ist die Adresse von einem Geschäft, das mir seit einiger Zeit im Nacken sitzt. Ich habe dort Schmuck hinterlegt“. Ihre Stimme veränderte sich. Wurde traurig und ernst. „Ich hänge sehr an dem Schmuck bekomme ihn aber nicht zurück. Der Juwelier ist ein außerordentlich schwieriger Mensch und lässt mit Vernunft nicht mit sich reden. Sie verstehen sicherlich meine missliche Lage. Von Rechtswegen gehört der Schmuck natürlich mir aber sie können sich vorstellen wie sturköpfig und bürokratisch sich alles hier verhält“. Sie verbarg verzweifelt seufzend ihr schmales Gesicht in einer Hand. „Nun, ich würde es selbst tun aber mir fehlt das, was sie haben. Ein Händchen für Timing, für Tarnung und absolut vertrauliche Arbeit. Ich bewundere ihre Arbeit schon lange und natürlich sind Sie mir in meiner jetzigen Situation sofort in den Sinn gekommen“.
Nathalie trat noch näher und drückte Pavel den Umschlag in die Hand. Sie war kaum sechs Zentimeter von ihm entfernt. Er musste hochsehen um in ihr sanftmütig lächelndes Gesicht zu schauen.
Sie blickte erst ihm, dann Volker fest in die Augen, nickte und sagte „Ich verlasse mich sehr auf sie beide“.
Ein paar Augenblicke später war sie aus der Wohnung gegangen und zog die Tür ganz vorsichtig hinter sich zu.
Nur noch kurz danach hielt die Starre der beiden an, dann fingen sie an laut zu diskutieren.
Pavel wollte ihn zügeln. Nathalie war hier in seine Wohnung gekommen zu ihm und insgeheim glaubte er, dass Karies deswegen eifersüchtig sein musste. Hatte sie überhaupt wirklich vorgehabt beide zu sprechen?
Karies schnappte sich den Umschlag und es begann ein Gerangel um das brüchige Papier bis Karies ein paar Blätter daraus hervorzog und entfaltete. Sie stellten sich so dicht zusammen, dass ihre Backen aneinander drückten um beide optimalen Blick auf die Papiere zu haben.
Das erste Blatt war ein Flyer des Juweliers in der Feldstraße, dann eine Straßenkarte, in die mit roten Linien ein paar Straßen sowie das Juweliergebäude markiert waren. Der dritte Zettel war eine Planbeschreibung. Kurzsatzig und präzise wie ein Kochrezept, dazu ordentlich durchnummeriert.
Sie lasen es zusammen zwei oder drei Mal durch, dann nahm Volker es in die Hand und las es immer wieder bis Pavel es ihm wegnahm um zu lesen. Erst gegen drei Uhr Nacht als beide müde und fassungslos auf dem Sofa saßen hatten ließen sie das Blatt sinken.
„Du, die ist doch völlig irre“, stöhnte Volker, „die will dass wir nen Juwelier für sie ausrauben“.
Pavel rieb sich die Augen. „Das kann die vergessen. Wer denkt die, wer wir sind?“
Volker nickte zustimmend mit noch immer vor Erstaunen geöffnetem Mund.
Es war noch dunkel draußen aber bereits Morgen als die beiden Pavels Wohnung verließen und in Volkers Auto stiegen um in den Westen der Stadt zu fahren.
Sie parkten vor der Tür des Juweliers.
Pavel stieg aus, nahm einen Stein und versuchte die Scheibe einzuschlagen. Mal um Mal musste er zuschlagen. Die Scheibe klang dumpf unter der Kante des schweren Steins, gab aber nicht nach.
„Tritt mal nen Schritt beiseite“, rief Volker durch das heruntergekurbelte Autofenster. Er ging in den Rückwärtsgang, für zügig eine S-förmige Linie zurück und preschte dann mit einem Mal vor. Pavel sprang panisch beiseite und im nächsten Moment krachte Volkers Polo durch die Scheibe.
Aufheulenden Sirenen zum Trotz schlüpfte Pavel beherzt durch die kaputte Scheibe an dem Auto vorbei und trat auf knirschendes Glas in den Laden. Er handelte mit blutleerem Kopf. Sein Blick war auf einen Fernglas-schmalen Visus verengt auf den Schmuck vor sich. Er schlug alle Vitrinen ein und griff in die vollbehängten Schaukästen. Er stopfte alles in seine Taschen. Ringe musste er mühsam einzeln aufpicken und steckte sie sich in der Eile an seine eigenen dicken Fingerspitzen. Sein Herzschlag hämmerte ihm ins Gehirn. Volker stieg ächzend aus dem Auto, dass halb in dem kleinen Laden stand und griff auch in ein paar Schaukästen. „Geht doch schneller“, rief er ihm zu. Sie packten nach ein paar letzten Steinen dann stolperten sie auf Volkers Winken wieder in das demolierte Auto
Pavel zog die Beifahrertür gegen den Widerstand des schon wieder rückwärts fahrenden Autos zu und atmete tief durch.
Seine Hände waren blutig aufgeschürft von den Glasscherben und glitzernd mit Juwelen bestückt. Blut tropfte auf ein paar der Diamanten und in seinen Schoß.
Volker neben ihm atmete hastig wie bei einem Panikanfall. Aus der Ferne hörten sie Polizeisirenen.
Bilder schossen durch Pavels Kopf. Von seiner Wand und Bildern einer Nathalie die ganz anders war als die in seinem Wohnzimmer. Von der Liste und all den Punkten, die sie in der Hast und Aufregung vergessen oder falsch gemacht hatten. Von ihrem zarten Lächeln.
Die Sirenen wurden lauter.
Diamantenbesetzt, blutverschmiert und den Tränen nahe endete die Fahrt.
Zwei Jahre Gefängnis. Vielleicht weniger wenn sie begnadigt wurden. Volker kam in die Strafvollzugsanstalt einer anderen Stadt. Die beiden verabschiedeten sich voneinander mit einer Umarmung.
Pavel schrieb Nathalie einen in dem er sich bei ihr entschuldigt und schickte ihn an Mias Bistro. Der Brief war ausreichend verschlüsselt, sodass sie ihn verstand aber keinen Ärger bekommen konnte wenn ein anderer ihn las.
Eines Tages reichte ihm der Postbeauftragte einen kleinen Briefumschlag. Pavel betrachtete ihn lange und befühlte das Papier
Er öffnete den Umschlag und zog ein Foto heraus. Nathalie war darauf. Nackt. Sie stand zur Kamera in einem Raum. Vielleicht von Nahem aufgenommen oder nur verflucht gut gezoomt. Er steckte das Bild verschreckt zurück in den Umschlag, sah sich hektisch nach allen Seiten um und zog es zitternden Händen wieder hervor. Dann roch am Papier, strahlte halb verschämt und aufgeregt.
Er griff nach der Teetasse, die vor ihm stand auf dem Schemel in seiner Zelle. Er hielt sich die Tasse an die Lippen und atmete ihren wohlig duftenden Dampf tief durch die Nase ein bevor er den ersten Schluck nahm.
Es gab nur zwei Menschen, die ihm dieses Bild geschickt haben konnten und er würde die nächsten drei Jahre darüber grübeln wer von beiden es war.