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- 24.01.2009
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Ich kann das nicht
Der blaue Body schmiegt sich perfekt an meinen Körper. Ich kann nicht aufhören, über die kühle Seide zu streichen, mir im Spiegel dabei zuzuschauen und an den lose hängenden Strapsbändchen zu zuppeln. Er ist so schön! Spieglein, Spieglein an der Wand, ich drehe mich ein letztes Mal, streife ihn nur ungern vom Körper und auch nur, um das weiße Teilchen anzuprobieren. Unterhalb des BHs sind Fransen angesetzt, die bis über mein Höschen fallen. Wenn ich mich schnell genug drehe, fliegen sie hoch. Ich drehe mich, bis mir schwindelig wird und ich auf die kleine Bank niedersinke. Atemlos. Glücklich. Elegant schlage ich ein Bein über das andere, drücke mich ins Hohlkreuz, ziehe die Schulterblätter zusammen, hebe das Kinn und betrachte mein Profil. Ich weide im Spiegelbild, bis ich satt bin, lasse ein letztes Mal die Fransen fliegen und widme mich anschließend dem Zweiteiler, der wie eine Schuluniform daherkommt, wegen der Karos und dem angedeuteten Röckchen. Mit strenger Mimik hauche ich: »Nein! Denk nicht einmal dran. Ich bin ein anständiges Mädchen«, wackele mit dem Zeigefinger und muss über mich selbst lachen.
Irgendwann fragt eine der Verkäuferinnen durch den Vorhang, ob bei mir alles in Ordnung sei? Ob ich Hilfe brauche? Brauche ich nicht. Mir geht es so gut wie schon lange nicht mehr. Langsam, ganz langsam ziehe ich meine alten Sachen an, nehme die kleinen Schätze und trage sie zur Kasse, schiebe der Kassiererin meine Karte über den Tisch.
»Tut mir leid, aber da scheint es ein Problem zu geben.«
Ich schaue auf meine Eroberungen, blau, weiß und kartiert liegen sie vor mir und flehen mich an, sie nicht hier zurückzulassen, sie wollen mit, zu mir!
»Aber sie muss funktionieren«, stammele ich.
»Hier jedenfalls nicht. Haben Sie Bargeld dabei? Oder eine Kreditkarte?«
In diesem Augenblick erspähe ich meinen Chef. Was macht der hier? Im Kaufhaus? Ausgerechnet! Dass er sich zielstrebig in meine Richtung bewegt, macht die ganze Situation nicht besser.
»Ich komme später mit Bargeld wieder«, flüstere ich meinen Schätzen und der Verkäuferin gleichermaßen zu und flüchte hinter den nächsten Kleiderständer. Durch Nachthemden und Pyjamas hindurch beobachte ich Manfred Wiegand, der direkt auf mich zuläuft.
»Sollen wir die Sachen für Sie zurücklegen?«, ruft die Frau von der Kasse.
Ich ducke mich noch tiefer.
»Hallo? Haben Sie gehört? Ich habe ...«
Ich renne einfach los, senke den Kopf und starre konzentriert auf den Boden. Aber ich weiß genau, dass Manfred Wiegand mich entdeckt und erkannt hat. Ich spüre seinen Blick auf meiner Haut. Ein Gefühl wie Feuerquallen. Ich kenne dieses Gefühl gut. Es brennt und juckt und ekelt mich an.
Auf der Rolltreppe abwärts zähle ich zitternd mein Bargeld. 23,46 €. Im Erdgeschoss angekommen, steuere ich auf die Kosmetikabteilung zu. Nagellack und Lippenstift und Lipgloss gehören mir. Mir ganz allein. Während ich über den Platz zur Straßenbahn eile, drücke ich die Handtasche mit den Einkäufen fest an mich. Als ich an die zurückgelassenen Dessous denke, fühlt es sich an wie ein Tritt in den Magen. Ich muss sie haben.
Nach der Schule begann ich eine Lehre als Einzelhandelskauffrau, wurde jedoch gefeuert, als man in meiner Tasche ein rotes Kleid fand, mit Preisschild. Papa telefonierte mit seinem alten Schulfreund Manfred, dem lustigen, immer gut gelaunten Onkel Manfred meiner Kindheit. In seiner Apotheke sollte ich zur Pharmazeutisch-kaufmännischen Assistentin ausgebildet werden.
»Biste doch auch eine Art Verkäuferin«, versuchte mein Vater mich zu trösten. »Verkaufst halt Pillen statt Kleider. Hilfst den Menschen dabei, gesund zu werden. Ist doch was Gutes.«
Die Lehre bestand ich mehr schlecht als recht, trotzdem stellte Manfred mich ein. Ich sollte ihm wirklich dankbar sein. Aber Pillen und Tropfen haben keine Magie.
Ich stehe in Manfreds Büro und kaue auf meinen Lippen.
»Gesine, Gesine, Gesine«, sagt er. »Sollte ich mir vielleicht Sorgen um dich machen?«
Schnell schüttle ich den Kopf. »Nein.«
»Aber ehrlich gesagt, ich mache mir langsam Sorgen. Dir scheint häufiger das Geld auszugehen, bevor der Monat zu Ende ist.«
»Es tut mir leid. Wirklich. Aber in letzter Zeit lief alles ein bisschen verquer.«
»In letzter Zeit? So, so. Und in anderen Monaten, wo du ebenfalls nach einem Vorschuss gefragt hast, da etwa nicht?«
»Bitte. Ich brauche das Geld.«
»Warum fragst du nicht einfach deinen Vater?«
Wieder schüttle ich den Kopf, diesmal energischer. Erst im letzten Monat habe ich ihm erzählt, die Waschmaschine wäre kaputt und ich hätte eine neue kaufen müssen, und dass deswegen mein Geld für die Miete nicht reichen würde.
»Wie ich ihn kenne, hilft er dir bestimmt«, setzt Manfred noch einmal nach.
»Ja. Äh, nein! Ich will ihn nicht fragen.«
»Und da bist du dir ganz sicher?«
Ich nicke.
»Nun«, Manfred steht auf und umrundet den Schreibtisch, lehnt sich gegen die Tischplatte und verschränkt die Arme vor der Brust. »Du hast kein Geld mehr für diesen Monat, das ich dir noch auszahlen könnte.«
»Hab ich nicht?«
»Hast du nicht.«
»Oh.«
»Vielleicht magst du dich setzen?« Er deutet auf den Korbsessel in der Ecke. »Du solltest wirklich ...«
»Nein!«
»Okay, okay. Es geht mich ja auch nichts an. Aber halten wir noch einmal fest, dass ich dir keinen Vorschuss geben kann, weil ich dir dein Gehalt bereits vollständig im Voraus ausgezahlt habe.«
Ich nicke. Sein Tonfall klingt so dominant, so unwiderruflich und ich weiß, dass ich kein Geld bekommen werde. Der Versuch meine Tränen zurückzubehalten scheitert, wie so vieles.
»Ach, Mädchen, nun weine doch nicht. Das kann ja keiner mit angucken«, sagt Manfred und sein Ton ist wieder weich und nett und ich schniefe den Rotz hoch.
»Willst du mir nicht sagen, wo der Schuh drückt? Vielleicht finden wir ja gemeinsam eine andere Lösung.«
Nein. Ich kann es ihm nicht sagen. Er würde es nicht verstehen. Ich hebe meinen Kopf und sehe, wie Manfred zurück hinter den Schreibtisch geht, eine Schublade aufzieht und eine Tüte hervorholt, den Inhalt auskippt. Ich erstarre. Da liegen sie! Meine Dessous, die ich im Kaufhaus an der Kasse zurücklassen musste.
»Brauchst du das Geld dafür?«
Ich sterbe. Jetzt und hier und auf der Stelle. Mein Herz wummert, gleich explodiert es. Ich höre mein Blut rauschen und spüre das Trommeln, die Paukenschläge in meinem Inneren.
»Du wolltest die Sachen doch neulich kaufen. Bevor du weggerannt bist.«
»Ich habe sie für eine Freundin zurücklegen lassen. Die waren nicht für mich«, stammele ich.
»Oh. Das ist jetzt schade. Ich dachte, ... Aber wo die jetzt gar nicht für dich waren. Wirklich, zu dumm. Ich werde sie zurückbringen. Entschuldige bitte. Ich wollte dich nicht ..., ich wollte dir nicht zu nahe treten.«
Da liegen sie. Blau, weiß, kariert, zusammengeknautscht auf einem Haufen. Ich möchte sie glattstreichen, sie ordentlich hinlegen, sie berühren.
Manfred greift ein Teil nach dem anderen, betrachtet es kurz und stopft es zurück in die Tüte.
»Nein!«, rufe ich und erschrecke zugleich darüber.
»Nein?« Er schaut mich an.
Ich bringe kein weiteres Wort hervor. Die Tüte fest im Blick. Sie soll nicht wieder im Schreibtisch verschwinden. Sie gehört mir. Mir, mir, mir!
Feuerquallen treffen mich. Ich spüre sie auf meinem Körper. »Pass auf. Ich mache dir jetzt einen Vorschlag und du kannst in Ruhe darüber nachdenken. Du kannst ja oder nein sagen. Heute, morgen, nächste Woche, ganz egal.«
»Was?«
Er wedelt mit der Tüte. »Du ziehst das hier für mich an. Ich will dich nur anschauen. Wirklich. Ich verspreche dir hoch und heilig dich nicht zu berühren. Dann bekommst du die Sachen und zweihundert Euro obendrauf.«
Obwohl seine Stimme eher einem Rauschen gleicht, dringen die Worte klar und eisig in mich ein. Mir wird schlecht, ich muss mich übergeben. Mit der Hand vor dem Mund springe ich auf und renne zur Toilette. Schließe mich ein, bis meine Kollegin damit droht, die Tür einzutreten, wenn ich sie nicht endlich aufs Klo lasse.
Als ich die Tür öffne, schreit sie mich an. »Ja, tickst du noch ganz richtig? Seit einer Stunde bist du verschwunden und ich allein vorn am Tresen. Wiegand hat sich auch schon verpisst.«
»Er ist weg?«, frage ich.
»Wie ein Furz im Wind hat der sich aufgelöst und jetzt lass mich bitte endlich auf die Schüssel.«
»Ja, sorry«, sage ich und schiebe mich an ihr vorbei. »Ich glaub, ich hab Magen-Darm.«
»Auch das noch«, stöhnt sie und knallt die Tür hinter sich zu.
Zu meinem fünften Geburtstag schenkten Onkel Manfred und seine Frau mir einen goldenen Karton, darin ein rosa Prinzessinnenkleid. Ich zog es sofort an und gab es nicht wieder her. Nicht, als ich mir die Limonade überschüttete, nicht im Freibad und auch nicht, als ich zu Bett gehen sollte. In der Nacht riss eines der Schulterriemchen, eine Naht platze auf, das Kleid war hinüber. Ich heulte und bettelte, bis mein Vater mit mir in die Stadt fuhr, um ein neues zu kaufen. Dazu bekam ich ein Diadem und rosa Nagellack.
»Die schönste Prinzessin von allen«, sagte mein Vater. Mein König.
Für die Kinder auf dem Spielplatz war ich mit meinem rosa Tüllkleid keine Prinzessin. Für sie war und blieb ich: »Gesinelein, fett und klein wie ein Schwein.«
Mein Vater ließ sie einen nach dem anderen verstummen. Sie alle mussten früher oder später zum Zahnarzt, zu ihm in die Praxis.
»Du kannst dich auf der Toilette umziehen, wenn du möchtest«, sagt Manfred.
Ich atme erleichtert auf. Mich vor ihm umzuziehen, war mir die größte Angst, denn ohne Wäsche wäre ich nackt und nackt wollte ich auf keinen Fall sein.
Welches Teil zuerst? Hatte er dazu was gesagt? Nein, hatte er nicht. Ich wähle den blauen Body, er hat den meisten Stoff. Er macht mich heute nicht schön, heute fühle ich mich hässlich und dick. Ich zähle bis zehn. Die Apotheke ist seit zwei Stunden geschlossen. Niemand wird mich sehen. Niemand wird je erfahren, was ich hier tue. Als ich das Büro betrete, sitzt Manfred hinter seinem Schreibtisch, ein ganz alltägliches Bild. Alles ist wie immer. Es ist ganz normal. Er sitzt da und ich stehe vor ihm. In Gedanken trage ich Jeans und Shirt. Das alles ist komplett absurd. Sofort spüre ich die Feuerquallen auf meiner Haut. Kurz hebe ich den Kopf, sein Blick trifft mich unerwartet. Er starrt mir nicht auf den Busen, nicht auf den Körper. Er starrt mir ins Gesicht. Sofort schließe ich die Augen und senke den Kopf. Ich stehe da, wie ein Kind, das eine Bestrafung erwartet. Ich spüre meinen Puls, mein Herz wird von einem Leoparden gejagt. Es ist auf der Flucht. Alles in mir ist auf der Flucht.
»Ich habe hier einen Bademantel für dich«, sagt Manfred. »Du kannst ihn jederzeit überziehen. Allerdings müssen wir dann deine Gage neu verhandeln.«
Ich nicke. Der Gedanke an den Bademantel wird fast übermächtig. Ich muss ihn aus meinem Gedächtnis streichen. Es gibt keinen Bademantel. Es gibt ihn einfach nicht. Ich habe nie von einem Bademantel gehört.
»Soll ich mich irgendwie bewegen?«, frage ich leise und wundere mich zugleich, woher ich den Mut dafür fand?
»Mach, was du denkst.«
Ich bleibe wie angefroren stehen.
»Schämst du dich?«
Ich nicke. Nach einer Weile fragt er mich: »Sehr?«
Wieder nicke ich. Ich traue mich nicht, meinen Blick erneut zu heben, ihn anzuschauen. Viel zu sehr bin ich darauf konzentriert, dem Leoparden zu entkommen. Jeans und Shirt. Jeans und Shirt in der Endlosschleife.
»Das ist gut«, sagt er und seufzt. »Du machst das sehr, sehr gut.«
Das verwirrt mich, denn ich mache ja gar nichts. Aber es soll mir recht sein, denn zu mehr wäre ich auch kaum in der Lage. Der Leopard ist bereits sehr nah, der Bademantel ebenfalls. Ich fange an zu zittern, höre Atem, lauten, schnellen Atem, der nicht der meine ist.
»Du kannst jetzt gehen. Geld liegt in der Schublade unter der Kasse. Schließe die Tür hinter dir!«
Was? Ich kann es kaum glauben. Das war es schon? Er lässt mich gehen? Ich bin frei? Ich fliehe aus dem Büro, ziehe mich um, lasse die Unterwäsche in der Toilette zurück, greife mir das Geld und mache, dass ich hier rauskomme. Ich habe es geschafft! Ich habe es verdammt noch mal geschafft! Und ich lebe noch.
Auf dem Heimweg verliere ich mich in den Schaufenstern. Schuhläden, Boutiquen, Schmuck. Und in meiner Tasche steckt die Einladung für jedes dieser Paradiese hinter Glas. Zweihundert Euro. Die Zahl schmilzt auf meiner Zunge wie Eis an einem heißen Sommertag. Nur die Hälfte, schwöre ich mir. Einhundert Euro für Mahnungen, irgendeine. Handyrechnung wäre wichtig. Und Strom. Ja. Gleich heute noch. Die Schaufensterpuppe lächelt mir zu. Ich lächle zurück und öffne die Ladentür, stöbere durch die Kleiderstangen. Ich fühle, rieche, spüre. An der Kasse zahle ich 189,00 Euro für einen Mantel. Korallenrot leuchtend, wunderschön! Ich bin in Feierlaune, kaufe im Späti Sekt und Pizza und extra Käse.
Bei unserem sechsten Treffen trage ich einen String, einen knappen BH und Strumpfbänder. Manfred hat es für mich bereitgelegt, so wie er immer Sachen für mich aussucht. Mich störte es kaum, dass der Stoff immer weniger wurde, allerdings dauerte es auch von Mal zu Mal länger, bis er mich gehen ließ. In mir wütet kein Raubtier mehr, es ist eher ein bellender Hund an der Leine.
»Macht es dir etwas aus, dich für mich umzudrehen?«
Ich zucke mit den Schultern, drehe mich um. Präsentiere ihm meinen nackten Hintern mit einem Fädchen zwischen den Pobacken.
»Schämst du dich?«
Wieder zucke ich mit den Schultern. Ich denke an das Geld in der Schublade. Ich brauche es, dringend.
»Nicht mal ein bisschen?«
»Vielleicht. Etwas.« Ich warte darauf, dass sich sein Atem beschleunigt, warte auf den ersten Seufzer, denn dann ist meist das Ende nicht fern. Aber er scheint ganz ruhig zu sein.
»Ich glaube, es funktioniert nicht mehr«, sagt er.
Was? Was hat er da gerade gesagt? War es das? Will er mich nicht mehr anschauen? Nein! Das kann er nicht tun! Das kann er mir nicht antun!
»Nicht?«, frage ich und würge den Kloß in meinem Hals hinunter.
»Nein. So nicht.«
»Nicht so?«
»Vielleicht, wenn du den BH ausziehen würdest.«
»Den BH?«, frage ich.
»Ja, den BH.«
Zitternd suchen meine Hände nach dem Verschluss für meine Rüstung. Noch stehe ich mit dem Rücken zu ihm. Wird er wollen, dass ich mich umdrehe? Langsam streife ich die Träger von den Schultern. Jetzt bin ich nackt, abgesehen von dem kleinen Dreieck vor meiner Scham. Es ist nur ein Fetzen Stoff weniger. Ein klitzekleiner Fetzen. Nichts, was er nicht auch vorher hätte schon sehen können durch die Spitze.
»Und jetzt drehe dich um.«
Natürlich. Natürlich will er das. Ganz langsam drehe ich mich zu ihm, kreuze die Arme vor der Brust. Ich weiß, er wird es nicht lange dulden, aber ich brauche die Zeit, mich an die neue Situation zu gewöhnen.
»Oh, das ist gut. Das gefällt mir. Wir sind wieder auf Kurs.«
Ich bin froh, dass er das sagt.
»Ist es dir peinlich?«
Ich nicke. Sein Atem, ich kann seinen Atem hören! Es beruhigt mich. Die Feuerquallen brennen mehr als je zuvor.
Ich greife nach dem Geld aus der Schublade und haste nach Hause. Am ganzen Körper juckt, brennt und klebt es. Erst unter der Dusche beruhigt sich die Haut. Der Ameisenhaufen in meinem Kopf bleibt. Gedanken rennen von rechts nach links, von oben nach unten. Onkel Manfred damals, mit dem lustigen Gesicht. Sein: zieh dich aus, dreh dich um, heute. Der korallenrote Mantel; ungetragen, noch nicht einmal ausgepackt. Die Stiefel, die Ohrringe, die Handtasche, die Stromrechnung, das blanke Konto. Ich will, dass die Ameisen stillhalten, verschwinden. Sie sollen abhauen!
Als ich Bestellung absenden drücke, kehrt Ruhe ein. Süße Leere, in die ich hinein sinke wie in eine Daunenwolke.
Es ist Nacht. Durch meinen Kopf wandern Ameisen, marschieren wie Soldaten und knallen mit den Hacken. Sie sind so unendlich laut! Ich flehe, bettle, schreie sie an. Sie scheren sich einen Dreck darum. Ich bin müde. Ich will nicht mehr. Ich brauche Schlaf. Dringend. Ich rufe Manfred an. Es ist zwei Uhr am Morgen. Er kommt.
Mit gespreizten Beinen sitze ich auf dem Boden vor ihm und schiebe mein Höschen beiseite.
»Ist es dir peinlich?«
»Ja. Sehr.«
»Ich glaube dir nicht. Ich sehe es nicht.«
»Doch. Mir ist das wirklich unangenehm«, beteuere ich.
»Du lügst, wenn du den Mund aufmachst!« Er sieht wütend aus. Richtig wütend. »Du verarschst mich doch!«
»Bestimmt nicht. Ich schäme mich sehr.« Ich weiß, dass meine Stimme mich verrät, die Worte nicht überzeugend klingen. Weine!, versuch ich mir zu befehlen. Weinen ist immer gut. Weinen ist echt. Los! Flenne!
»Das werden wir gleich sehen.«
Erstaunt schaue ich zu ihm auf. Was hat er vor? Die Angst beginnt zu kribbeln. Ich habe ihn belogen und er weiß es und er ist wütend.
Er sucht nach etwas in seiner Tasche, wirft mir vier verschiedene Vibratoren und Gleitcréme vor die Füße.
»Such dir einen aus«, sagt er.
Ich schlucke, betrachte das Ensemble vor mir auf dem Teppich und beginne zu zittern.
»Ich soll mich? Vor dir?«
»Es wäre eine Möglichkeit. Die andere wäre, dass dies unser letztes Treffen ist.«
Das kann ich nicht, denke ich, greife aber zeitgleich nach dem kleinsten. Mir steigen die Tränen in die Augen, echte Tränen, während ich den Vibrator über meinen Körper streiche. Über meine Brüste, den Mund, über die Innenseiten der Oberschenkel. Meine Hand agiert völlig losgelöst, sie gehört nicht zu mir. Das bin nicht ich, die hier sitzt. Ich höre das Seufzen. Den Atem. Er soll mich gehen lassen, es reicht doch. Aber die Worte kommen nicht.
»Komm schon, näher an die Muschi mit dem Teil!«
»Ich kann das nicht«, flüstere ich. »Bitte nicht.«
»Ich habe vierhundert Euro dabei. Bist du dir sicher?«
Meine Hand führt das Teil an meine Scham. Lässt es auf und ab gleiten, Kreise zeichnen. Der Rest von mir wird gerade vom Leoparden gefressen.
»Großartig! Ganz großartig! Lass dir Zeit«, keucht er.
Auf, ab, auf, Kreis, Kreis. Ich weiß, dass er nicht hinschaut, dass er mein Gesicht fixiert. Das bin nicht ich. Es ist irgendjemand. Nicht ich. Auf. Ab. Kreis.
»Wunderbar!«
Der Vibrator wird immer schwerer in meiner Hand. Mir geht die Kraft aus, er gleitet aus meinen schwitzenden Händen, fällt zu Boden. Ich rapple mich auf und torkle ins Badezimmer, schließe mich ein, warte auf das Geräusch seiner Schritte im Flur, der zufallenden Wohnungstür. Eine Ewigkeit warte ich. Er klopft an die Tür.
»Bist du okay?«, fragt er.
»Hau ab!«, rufe ich. »Lass mich in Ruhe!«
»Es tut mir leid. Hörst du. Ich entschuldige mich.«
»Du sollst gehen! Jetzt!«
Er geht. Seine Vibratoren hat er mitgenommen. Überhaupt erinnert im Wohnzimmer nichts an die letzte Stunde. Als hätte es sie nie gegeben. Nur das Bild, wie er auf meinem Sofa sitzt, ist geblieben. Ich werfe eine Decke drüber. Es hilft nicht. Ich schiebe und trete es auf die Straße. Es ist schwer. Es poltert über die Treppenabsätze. Die Nachbarn regen sich auf. Es ist mir egal. Als ich zurück in die Wohnung komme, sitzt Manfred da, wo vorher mein Sofa stand.
Die Pakete, die der Postbote bringt, stapeln sich im Flur. Seit drei Tagen war ich nicht bei der Arbeit, habe mich nicht gemeldet. Mir geht es nicht gut. Die Ameisen stehen nicht mehr still. Sie arbeiten Tag und Nacht, emsig zerlegen sie mich wie Aas am Straßenrand.
Ich rufe meinen Vater an. Erzähle ihm, ich hätte gekündigt. Ich brauche Geld, bis ich einen neuen Job gefunden habe.
»Und warum hast du gekündigt?«, fragt er.
»Da war so ein Kunde, der hat mich belästigt. Ich halte das nicht mehr aus.«
»Ein Kunde, sagst du?«
»Ja, so ein widerliches Schwein.«
»Aber da hätte Manfred doch was tun müssen! Er hätte ihm Hausverbot erteilen müssen.«
Ich sage nichts. Schweige.
»Ich kläre das mal. Ich spreche mit Manfred. Verlass dich auf mich. Ich regel das.«
»Nein, bitte. Lass es einfach gut sein«, flehe ich meinen Vater an, aber er hat bereits aufgelegt.
Eine halbe Stunde später läutet das Telefon. Mein Vater. Ich gehe nicht ran, höre zu, wie er den AB bespricht.
»Prinzessin, du hättest Manfred von dem Schwein erzählen müssen. Er wusste davon ja gar nichts. Natürlich wird er ihm Hausverbot erteilen, du musst ihm nur sagen, wer es ist. Der Typ wird dich nie wieder belästigen. Es ist vorbei. Hörst du. Manfred kümmert sich darum. Du kannst wieder zur Arbeit gehen.«