Ich könnt auf Deine Seele pissen
"Ich könnt auf Deine Seele pissen."
"Was?"
"Hmh, ach nichts."
"Nein, sagen Sie, wie hieß es?"
Das Licht floß von draußen herein. Es schien warm zu sein. Nach der Sonne zu urteilen war es Frühling, allerdings gab es dieses Licht auch im Herbst. Im Zimmer an der Wand auf einer weißen Tapete hing ein dunkles Eisenkreuz mit einem schmiedernen Gekreuzigten. Sein Gesicht war schmerzverzerrt. "Der Schmerzensmann", dachte ich.
"Nun sagen Sie schon, wie hieß das Gedicht, daß Sie geschrieben haben?"
"Sie sagen Gedicht, Gedicht, es war ein Poem von kolossaler und elementarer Wucht."
Ich mußte lachen, allerdings kicherte ich nur nervös in mich hinein.
"... es heißt: Ich könnt auf Deine Seele pissen."
Sie machte sich Notizen. Ihre braunen Haare berührten das Ende des auf dem Papier knarzenden Füllhalters. Die goldene Feder hinterließ verworrene Tintenlinien.
"Ich könnt auf Deine Seele pissen", wiederholte sie. "Und zu welchem Zeitpunkt ist es entstanden?"
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Sie schüttelte Sand aus ihren verfilzten Haaren direkt in mein Gesicht. "Heh, laß das!" Sie lachte und warf sich mit einem Seufzer neben mich.
"Ich hab Kaffee mitgebracht."
Die Sonne hing bleich am Himmel. Die Jahreszeit war undefinierbar.
"Es scheint warm zu werden", hob ich zuversichtlich hervor.
"Verlassen wir diesen Ort", sagte sie.
"Mmh."
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"Können Sie mir sagen zu welchem Zeitpunkt?"
"Nun, eigentlich ist das nicht genau zu datieren."
"Sie meinen, es ist nicht wichtig, wann es erschienen ist."
"Doch, doch, sehr wichtig. Nur, ich kann nicht genau sagen wann."
"Haben Sie es sich nicht aufgeschrieben?"
"Keine Notizen gemacht, hä", ich schaute auf den vor ihr liegenden Notizblock, "meinen Sie wohl."
"Ich meine ... nun, wollen Sie mir denn jetzt von Ihrem Gedicht erzählen?"
"Nö, wie soll ich von einem Gedicht erzählen, wie soll ich davon erzählen. Ich könnte es vorlesen und Sie dann nach Ihrer Meinung, nach Ihrer Deutung fragen, aber was soll ich Ihnen erzählen?"
"Sie könnten mir von Ihren Gefühlen und von Ihren Gedanken und Bildern erzählen, die Sie beim Schreiben hatten."
"Die sind doch schon im Gedicht drinne, man, drum habe ich es doch geschrieben."
"Na, dann können Sie mir doch davon erzählen."
"Es steckt doch schon in den Wörtern drin. Wie soll ich ein Wort mit einem anderen Wort erzählen."
"Sie könnten ähnliche Wörter verwenden, oder Sie mir erklären. Ich meine, was meinen Sie damit, wenn Sie schreiben: Ich könnt auf Deine Seele pissen?"
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Ein riesiges waberndes Gebilde schwebte lautlos durch den Raum. Es herrschte Finsternis, grelle Finsternis. Grauer durchsichtiger Nebel, der permanent vibrierend seine Form wechselte, kam riesengleich auf mich zu. Ich atmete und meine Brust schwoll zu einem gigantischen Ballon. Meine Brustwarzen waren schon an mir vorbei. Ich sah sie weit in den Raum ragen, wie überdimensionale Raketen in den Kosmos gleiten. Meine Oberarme blähten sich auf und drängten sich mit Gewalt in meine Achseln. Meine Achselhaare wucherten zu Baumkronen heran, stießen durch meine Brust und warfen blaue Kastanien in mich. Sie fielen und landeten mit einem Elfenschrei auf meine Blase. Meine Blasenhaut schwang wie ein mit Wucht geschlagenes Tamburinfell hin und her. Ich wurde unruhig, meine Füße zappelten sehr weit unter mir. Ich wollte in die Knie gehen, erreichte aber nur, dass sich vor meinen Augen eine riesige Jeanskuppel auftat. Ich trieb nach hinten rüber, lag auf dem Rücken, und mein Bauch driftete empor. Ich ließ Wasser, es strömte aus mir heraus, wuchs zu einem Schwall, es schoß, wurde gischtweiß und verengte sich zu einem bösen gelben Strahl. Er prallte auf den Nebel. Mein Atem zischte aus mir heraus, gemächlich sank ich brausend in mich zusammen.
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"Meinen Sie nicht, dass Zeilen, wie 'ich könnt auf Deine Seele pissen' und 'Dein Gesicht in Matsche drücken' ziemlich aggressiv wirken?"
Nun ... . Ich überlegte ernsthaft.
... der erste Satz war immer noch in einer Möglichkeitsform gehalten, auch wenn er unbestreitbar eine Bereitschaft ausdrückte. Und der zu bepinkelnde Gegenstand wies auf eine gewisse Intimität hin, die sicherlich im allgemeinen Sprachgut nicht als Zielobjekt einer gelassenen Blasenentleerung anzusehen war. Der zweite angesprochen Satz war da schon wesentlich klarer formuliert. Er wies auf eine Handlung hin, die zweifelsohne als aggressiv zu bezeichnen ist, vorausgesetzt natürlich, daß die bezeichnete Person nicht den unmissverständlich geäußerten Wunsch hegt, mit Schlamm und anderem Erdrat nähere Bekanntschaft zu machen.
"Nun", wollte ich loslegen.
"Sie wirken auf mich ganz schön aggressiv", wurde ich unterbrochen.
"Haben Sie sich damals aggressiv gefühlt, woran haben Sie gedacht, als Sie so aggressiv waren?"
Ich gähnte, mir war auf einmal, als wäre aller Sauerstoff aus dem Zimmer verschwunden, obwohl das Fenster sperrangelweit aufstand. Draußen erkannte ich die dunkelgrüne Blätterkuppel einer Kastanie. Ich gähnte und schaute in das Gesicht mir gegenüber. Sie hatte leichte Falten um ihre Augen. Eine Mischung aus Lach- und Sorgenfalten. Wenn ich sie mir lange anschaute, dann vermutete ich, daß die Tendenz ganz klar in Richtung Sorgenfalten zeigte. Ihre grünen Augen wirkten professionell interessiert. Nicht uninteressiert, aber auch nicht vor Begierde brennend. Mir gefiel ihre Augenfarbe, außerdem hatte sie kleine warme Bernstein-pünktchen in ihrer Iris. Das Kinn wirkte etwas verhärmt.
Sie unterbrach mich mit einer Gestik des Zuhörens: Sie beugte sich nach vorne, stützte ihre Hände auf ihre Oberschenkel und schaute einen Deut intensiver.
"Nun ... ich glaube ... ach, jetzt verfalle ich auch schon in dieses Gequatsche, nein, ich war nicht aggressiv, überhaupt nicht."
"Würden Sie denn nicht sagen, dass 'Dein Gesicht in Matsche drücken', nicht als aggressiv zu bezeichnen ist?"
Klar, aber das hat nichts mit mir zu tun, ich war nicht aggressiv."
"Nicht", sagte sie nickend unterstützend und lehnte sich wieder in ihren Schreibtischstuhl. Obwohl ich es erwartete, kreuzte sie nicht ihre Hände hinter ihrem Kopf.
"Nein, scheiße, worüber reden wir. Es sind Wörter, die man im Zusammenhang betrachten muß. Der Kontext macht den Sinn!"
"Ja, was meinen Sie dann, wenn Sie einige Zeilen später ganz klar betonen, ihr Miesepeter würde dann verrecken. Sie sagen, es kotzt Sie an, ihr Gemüt würde an Krücken gehen und wenn Sie auf ihre Seele pissen würden, ihr Gesicht in Matsche drücken, dann, ja dann würden Sie Spaß entdecken, so lautet doch ihr Gedicht, oder nicht? Wann würden Sie Spaß entdecken, können Sie mir beschreiben, wann Sie das Gefühl hatten, daß Sie Spaß entdecken würden, wie war dieses Gefühl damals?"
"Spaß", überlegte ich, "Spaß ...".
-
"Voila, das ist Spaß", sagte ich und trug mit leiernder Stimme vor:
Ich könnt auf Deine Seele pissen
sofern sie nicht tief in mir wäre
alle Chancen, aller Weg verrissen
wenn bloß kein fieses Unheil gäre
Dein Gesicht in Matsche drücken
Nerven brennen, es kotzt mich an
stur humpelt mein Gemüt an Krücken
ich wünschte, Du hieltest Dich ran
wenn ich wüßte, daß Du es wärest
mein Miesepeter würd verrecken
die Synapsen dauernd Spaß entdecken
wenn ich wüßte, daß Du es wärest
ich würd auf Deine Seele pissen
Dein Gesicht in Matsche drücken
wenn ich nur wüßte, daß es Du es wärest
-
"Das nennen Sie Spaß. Was ist denn daran lustig?"
"Na ja, das ist nicht nur Spaß, aber es hat Spaß gemacht es zu schreiben, dann muß da auch wohl Spaß drin sein, oder nicht?"
"Ihr vorherrschendes Gefühl bei diesem Gedicht war also Spaß!"
"Nein, das nicht, aber Spaß war auf alle Fälle mit drin."
"Ein Gedicht zu schreiben, würden Sie also als Spaß entdecken bezeichnen?"
"Genau. Ich würde weiter gehen und es sogar als im Gehirn Spaß entdecken bezeichnen."
Ihre Stimme bekam nun einen eindringlichen Ton, ihre Gestik wurde ernsthafter.
"So kommen wir nicht weiter. Ich habe klar das Gefühl, Sie wollen sich dem Gespräch entziehen. Sie sollten sich der eigenen Aggressivität stellen. Sehen Sie es mal so: Aggression ist auch ein riesiges Potential, welches produktiv genutzt werden kann."
Die Sonnenstrahlen waren mittlerweile verschwunden. Das Zimmer lag in einem trüben Halbdunkel. Ich linste durch das Fenster und versuchte zu erkennen, ob noch ein Unterschied zwischen Ästen und Blättern ersichtlich war. Doch zu spät. Die Kuppel formte in der vorangeschrittenen Dämmerung einen blickdichten Buckel.
"Ja, ja, ich weiß ...", sagte ich, hörbar bemüht, meine Niedergeschlagenheit zu tarnen.
"Denken Sie an die Gefühle, die Sie bei Wörtern wie 'mein Gemüt mich endlich kraulen' hatten. Das ist der richtige Weg. Das ist positiv. Das bringt Sie nach vorne. Hier spürt man Energie. Hieran sollten wir weiter arbeiten. Was meinen Sie?", fragte sie mich erstaunlich optimistisch. Sie lächelte liebevoll.
Die Konturen der Baumkuppel vereinigten sich mit der Nacht. Ein Tag war vorüber.
"Na, was meinen Sie, ist das nicht der richtige Weg, an dem wir morgen weiter arbeiten sollten?" Sie intensivierte ihr Lächeln. Es wurde warm, ihre Falten wurden weich und ihre Haltung runder.
"Es ist bereits dunkel", sagte ich. Sie schaute nach draußen, stellte fest, dass ich recht hatte und sagte dann: "Also einverstanden, wir sehen uns morgen zur selben Zeit!"
Sie stand auf und wartete einige Sekunden bis ich es ihr gleich tat. Auf dem Flur gaben wir uns die Hand. Sie verließ die Einrichtung in Richtung Parkplätze. Ich mußte entlang der Mauern, ins Innere.
[Beitrag editiert von: yan am 27.02.2002 um 22:07]