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Ich halte dich für mein Gegenüber
Schwerfällig schleppe ich mich die letzten Meter nach oben. Dafür, dass ich zum ersten Mal seit Jahren richtig Urlaub mache, schone ich meinen Körper viel zu wenig. Ich weiß ja selber nicht, was mich dazu gebracht hat, ausgerechnet nach Südtirol zu fahren. Urlaubsparadies. Bald brauche ich eine Pause. Noch unterhalb der Baumgrenze stehen längs des Weges, dicht an dicht, dunkelgrüne Tannen. Wo Sonnenlicht auf Stein trifft, fällt der Berg so steil ab, dass kein Grün mehr dort Halt findet. Wanderweg 561, Markierung rot-weiß-rot, schlängelt sich schroff in Serpentinen hoch. Ein Fehltritt und man ist am Ende. Endlich erreiche ich die Markierung auf meiner Karte.
Ich sitze auf der Bank, wische den Schweiß von den Brillengläsern, da trifft mich ein Stein an der Schulter. „He!“, rufe ich und sehe mich um, doch da steht niemand. Die Sonne steht so tief, dass meine Sichtweite talwärts stark eingeschränkt ist. Und ich Dummkopf dachte, eine Sonnenbrille würde helfen. Ich schaue nach oben, mein Blick gilt dem Gipfelkreuz, welches weitere 1000 Höhenmeter über mir thront. Plötzlich erregt ein Zappeln an der Felswand meine Aufmerksamkeit. Ich entdecke dich, wie du, beim Steilwandklettern oder abgerutscht, bloß noch an einer Hand über dem Abgrund hängst. Ich ziehe mein Handy hervor. Kein Netz.
„Halte dich fest!“, rufe ich, so unnötig diese Aufforderung auch ist. Du sollst wissen, dass du nicht allein bist. Ich mache mich auf den Weg, obwohl ich am liebsten die glatte Felswand zu dir hochgeflogen wäre. Als Wanderer folge ich den markierten Pfaden durch das Skigebiet, welches jetzt im August vor Hitze dampft und die weißen Hüte auf den Gipfeln verliert. An der Kreuzung muss ich kurz überlegen, welcher der rechte Weg ist. Für mich sehen die farbigen Zeichen alle gleich aus. Ich erhöhe das Tempo.
Dich hängen zu lassen kommt nicht in Frage. Du bist mein Ebenbild, mein Nächster. Nichts ist so stark wie die Bindung zweier sich gegenüberstehender Menschen. Wenn sich die Blicke fangen und fassen, passt kein Blatt Papier mehr zwischen uns. Wir sind unzertrennlich, könnte man sagen. Die meiste Steigung habe ich überwunden, die Strecke ist kurz. Halte durch!
Für einen Wanderer bin ich ziemlich flott unterwegs. Schließlich will ich zu dir. Die Stöcke aufzusetzen lohnt sich nicht, denn schon haben mich meine Beine weitergetragen. Trotz der kühlen Abendfrische tropft der Schweiß mir aus den Haaren und vom Kinn, brennt in den Augen. Es spornt mich weiter an. Ich muss dich einfach retten. Was wäre ich denn ohne dich? Ein Nichts! Der Mensch braucht Familie, ich brauche Freunde, du brauchst Hilfe.
Mein Rucksack liegt zurückgelassen neben dem Stein auf der Bank. Was nützen mir Verbandssachen, wenn ich nicht rechtzeitig komme? Meine Füße schlagen im wilden Takt meines Herzens über den Boden, meine Lunge brennt. Wann kühlt endlich der Schweiß? Ab jetzt geht es wieder leicht bergab, da gerate ich richtig in Fahrt. Die Sonne blitzt zwischen den Bäumen durch. Ich bin ganz in deiner Nähe.
Gegen das Zittern hilft nur Hoffnung. Deine Finger werden dir nicht ewig gehorchen. Dein ganzer Körper schreit nach Überleben, nach Liebe. Doch dich verlässt der Mut. Du kennst mich nicht und willst mir nicht zur Last fallen. Christlich erzogen – menschlich betrogen. Weder du noch ich waren in den letzten Jahren bei einem Gottesdienst. Wieso? Weil man erst dann zu glauben beginnt, wenn es bereits zu spät ist.
Über dein ganzes Leben hinweg hast du geglaubt, du würdest nie in eine solche Situation geraten. In der du fremde Hilfe brauchst. Und deshalb entschließt du dich nun ganz bewusst, dass du es nicht verdient hast. Wärst du deiner Pflicht als guter Christ nachgekommen, hätte dir Gott sicher längst einen Engel geschickt. Deine Finger lösen sich von ihrem Griff, du hast Angst, die Augen dabei zuzumachen. Da ergreift plötzlich jemand dein Handgelenk. Ich habe es tatsächlich noch geschafft. Bäuchlings liege ich an der Kante und ziehe dich mit letzter Kraft zu mir herauf. Du hast längst zu denken aufgehört. Sonst hättest du mich warnen können, dass der sandige Fels rutschig und die Latschenkiefer, welcher ich unser Schicksal anvertraute, trocken und brüchig ist. Und mit einem Mal sind wir auf dem Weg nach unten. Gemeinsam. Still.
Ich halte dich für mein Gegenüber. Denn ohne dich habe ich niemanden. Deine Hand liegt in meiner. Unsere Schweiße werden eins. Endlich traust du dich, deine Augen zu schließen. Ich tue es dir gleich. Hätten wir als Christen unsere Pflicht getan, würden jetzt sicher die Engel ein Sprungtuch unter uns ausbreiten. In Gedanken schaue ich dich an. Du bist ganz das Geschenk, das ich mir immer gewünscht habe. Ich halte dich für mein Gegenüber.