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Ich habe meine Nachbarn umgebracht
Ich habe meine Nachbarn umgebracht
Sie hießen Walter und Doris und waren jahrelang meine besten Freunde. Früher haben wir gute Zeiten miteinander gehabt; aber davon will ich jetzt nicht schreiben - in guten Zeiten begeht man schließlich keinen Mord.
Ich habe sie umgebracht, weil ich Schriftstellerin bin und Schriftsteller Ruhe brauchen. Und Walter und Doris ließen mir keine Ruhe. Im Gegenteil: Sie machten mir das Leben zur Hölle.
Aus heutiger Sicht betrachtet, war es ein kapitaler Fehler, sie bei mir einziehen zu lassen. Ich hätte die freie Wohnung auch an andere Leute, an Fremde vermieten können. Aber damals stellte ich es mir ganz angenehm vor, die zwei ab und zu besuchen und jederzeit an meinen Schreibtisch zurückkehren zu können.
Wie es nun einmal mit Nachbarn so ist, fing alles mit Kleinigkeiten an. Als Walter und Doris einzogen, hatten sie keinen Herd, keine Waschmaschine, keine Spüle, kein Bügelbrett, keinen Toaster, keinen Eisschrank und nur wenig Geschirr. Ich dagegen besaß das meiste davon in mehrfacher Ausführung: es waren die Überreste verschiedener Haushalte. Zwei Küchenschränke, zwei Eisschränke, drei Toaster und viele Schreibtische – als Schriftsteller hat man ein unerschöpfliches Reservoir an Schreibtischen.
Freundlich bot ich Walter und Doris einen meiner Eisschränke, einen Herd und einen Schreibtisch an, den Walter gut für sein Studium gebrauchen konnte. Er bedankte sich überschwänglich; seine Frau hingegen setzte forsch nach, wie es mit dem Toaster stünde: „Wir haben keinen!“
„Du wirst es nicht glauben“, erwiderte ich kühl, „aber ich habe einen Toaster schon bereitgestellt!“
Ich lief in meine Wohnung und holte ihn; als ich zurückkam – kein „Danke, Leokadia“, sondern nur ein „Stell ihn doch bitte im FLUR ab, siehst du nicht, dass er hier stört?“ - begutachtete Doris gerade den Eisschrank und fand ihn für sich und Walter zu klein. Mein Eisschrank sei viel größer, bemerkte sie, und ich sei ja immerhin allein stehend.
Ich stellte mich taub und sie warf ihrem Mann einen Augen rollenden Blick zu.
Tags darauf ertappte ich Walter dabei, wie er meinen Keller durchstöberte – er steht immer offen, weil ich Schlüssel ständig verlege.
„Kann ich dir behilflich sein, Walter?“, fragte ich scharf.
Er fuhr herum. „Mein Gott, Leokadia, hast du mich erschreckt!“
„Entschuldige, Walter!“, sagte ich ironisch.
Ja, meinte er, vielleicht könnte ich ihm in der Tat helfen; Doris habe gesehen, wie ich einen Spiegel in den Keller getragen hätte und sie wolle sich ihn mal anschauen, ob er zu ihren Möbeln passe.
Übellaunig zerrte ich einen Jugendstilspiegel hinter einer Truhe hervor und Walter unterzog ihn einer genauen Prüfung.
Geringschätzig strich er schließlich mit dem Finger über den Rahmen. „Also mal sehen, was Doris dazu sagt – also mir gefällt er nicht. Wo hast du ihn her, Leokadia? Vom Sperrmüll?“ Lachend verließ er den Keller.
Walter und Doris richteten ihre Wohnung in diesem depressiven Ökowollstrümpfedesign ein, der bei mir Klaustrophobie hervorruft. In kürzester Zeit verwandelte sich die schöne, lichte Altbauwohnung in ein dunkles Rattenloch. Die Wände strichen sie dunkelbraun und überall wurden violette Quarzsteine aufgebaut. Von den Decken hingen schwere Keramiklampen, die Doris selbst getöpfert hatte und jeden Augenblick herunter zu fallen drohten. Ungläubig musste ich zusehen, wie die zwei immer mehr blaue Säcke voller Papierschnipsel, Flaschenkorken und Altglas in die Wohnung schleppten und daraus Kreativkunst schufen.
Doris hatte noch am Tag des Einzugs auf einem Tausch unserer Wohnungsschlüssel bestanden: aus Freundschaft, wie sie sagte. Walter und Doris benutzten meinen Schlüssel täglich, was mir auffiel, weil sie das Schloss zweimal statt einmal herumdrehten. Ich kam aus dem Büro heim – die Tür war zweifach verschlossen. Ich ging einkaufen – die Tür war zweifach verschlossen. Ich holte noch einmal kurz die Zeitung: zwei Mal verschlossen.
Dann begannen Sachen aus meiner Wohnung zu verschwinden. Tagelang stand mein Bügelbrett aufgestellt in Walter und Doris´ Schlafzimmer – ich konnte es durch die offene Tür sehen, wenn wir gemeinsam in der Küche einen Kaffee tranken – ohne dass ein Wort gefallen wäre.
Für meine Nähmaschine schreinerte Walter ein extra Fach unter Doris Schreibtisch, weil es sie nervte, die Maschine immer auf dem Tisch stehen zu haben. Besteck und Geschirr verabschiedeten sich auf Nimmerwiedersehen, desgleichen Lebensmittel, die nicht ersetzt wurden.
Eines Tages entdeckte ich, dass Walter meine Manuskripte las. Marmeladenspuren und Abdrücke seiner Fettfinger fanden sich überall auf meinen Notizbüchern.
Und nun frage ich Sie: Was hätten Sie getan?
Walter und Doris hatten immer viel Besuch, der sich oft tagelang bei ihnen einquartierte. Von Ruhe für mein Schreiben konnte also keine Rede mehr sein. Spätestens ab zehn Uhr morgens saßen ein Haufen Leute im Garten – auch unter der Woche, denn sie waren alle wie Walter und Doris Studenten – und spielten Scrabble, Backgammon oder Siedler. Oft taten sie es direkt auf meiner Wohnzimmerterrasse und so blickte ich über meinen Computer hinweg auf eine lärmende Gesellschaft, die jeden Spielzug des Gegners mit lautem Geheule kommentierte. Dabei grüßten sie zwar immer freundlich zu mir herein, machten es sich aber ungerührt, wenn ich den Gruß nicht erwiderte, mit Kartoffelchips und Getränken am Tisch bequem.
Besonders gern spielte man Trivial Pursuit.
„Wann wissen die Anemonenfische, ob sie Männchen oder Weibchen sind, Doris?“, fragte Albert und schlug in der sicheren Erwartung eines Punktes laut mit der Hand auf den Tisch.
Holger schaute fragend in die Runde. „Was zur Hölle ist ein Anemonenfisch?“
„Nach der Paarung“, erwiderte Doris ruhig (die nachts im Bett die Karten auswendig lernte), „der Stärkere wird zum Weibchen!“
„Das ist bestimmt nur dein weibliches Wunschdenken“, sagte Holger unzufrieden, der sich ärgerte, als Zoologe noch niemals etwas von diesem Fisch gehört zu haben.
„Doris hat recht, ein Törtchen!“, sagte Walter und zog die nächste Karte. „Für Holger: Wann kann man von der lateinischen Rasse sprechen?“
Holger blickte ihn leer an.
„Also das ist ja klar“, sagte Doris.
„Nun?“, fragte Albert.
Holger zuckte mit den Schultern. „Das war doch römisch ...?“
Walter schüttelte den Kopf. „Im Grunde muss man von der „lateinischen Zivilisation“ sprechen - da hat Trivial Pursuit nachlässig formuliert. Die Lateiner haben als Rasse - also als eine Anzahl gemeinsamer erblich überlieferter Faktoren - nicht existiert.“
Überrascht sah Holger ihn an. „Tatsächlich?“
„Ich würde sagen, ja“, holte Walter weiter aus, „es hat wohl ein Volk gegeben, das lateinisch sprach und dessen Zivilisation sich zur Zeit des Römischen Reiches auf den größten Teil Westeuropas und auch auf einen Teil Afrikas und des Orients ausdehnte ...“
„Los, weiter!“, rief Doris und nahm ihm die Karte aus der Hand.
Und so weiter.
Es war nicht zu ertragen.
Zunächst zog ich demonstrativ die Vorhänge zu, dann versuchte ich, die lästige Gesellschaft durch böse Blicke zu vertreiben. Schließlich stöhnte ich laut und vernehmbar: Es erfolgte keine Reaktion.
Irgendwann riss mir der Geduldsfaden und zornig fragte ich durch die offene Tür, ob es möglich sei, dass man woanders weiterspielte? Ich hätte zu tun, mein Roman müsste bis Ende des Monats fertig werden?
Verdonnert sahen mich alle an.
„Mach doch nicht so einen Aufstand!“, meinte Doris dann, „WIR können doch nichts dafür, wenn DU beim Schreiben nicht vorwärts kommst!“
„Doch, ihr könnt was dafür, ich kann mich nicht konzentrieren!“, rief ich und knallte die Tür zu.
„Unerhört“, fand Walter, „sie kann uns doch nicht verbieten, im Garten zu spielen! In unserem Mietvertrag steht ausdrücklich, dass wir ihn benutzen können. Deswegen sind wir ja überhaupt hierher gezogen!“
„Wir haben es für SIE getan - für Leokadia!“, betonte Doris.
„Na ja, aber wir sitzen hier ja auf ihrer Terrasse ...“, räumte Susanne, Holgers Freundin, ein, der das Ganze peinlich war. „Wir können ja auch unter die Eibe gehen ...“
„Und im Dunkel sitzen? Ich bitte dich!“ Doris sprang erregt auf. „Ich schlage drei Kreuze, wenn dieser dämliche Roman endlich fertig ist!“
„Dann kommt nur der nächste“; orakelte Walter.
„Wir müssen sehr viel Rücksicht auf Leokadia nehmen“, erklärte Doris. „Ab 22 Uhr darf man nicht mehr um ihre Wohnung herum gehen, weil sie schlecht schläft. Ich frage euch, ist das normal, 22 Uhr?“
Walter kicherte. „Sie hält sich eben genau an die Gesetze, unsere liebe Vermieterin!“
Dann mischte sich Doris in meine Haushaltsführung ein. Eines Tages trafen wir uns bei der Wäscheleine und sie fand, meine Wäsche sehe so aus, als hätte ich sie von meinem Fenster aus auf die Leine geworfen. „Ich meine, Leokadia, es ist dir ja unbenommen, wie du deine Sachen aufhängst, aber es sieht aus wie Kraut und Rüben! Und MUSS Walter gleich auf der ERSTEN Leine deine Unterwäsche hängen sehen? Nimm doch dafür die dritte Leine!“
Stumpf starrte ich erst auf meine Wäsche, dann auf Doris`. „Ich kann doch meine Wäsche aufhängen, wie es mir gefällt!“
Sie nahm mich freundschaftlich am Arm. „Leokadia, ich weiß, es ist dein Haus. Aber gerade deshalb kann es dir doch nicht gleichgültig sein, wie der Garten aussieht!“
An Walters dreißigstem Geburtstag eskalierte die Situation. Ich hatte dazu keine Einladung erhalten, war aber im Grunde genommen darüber erleichtert - so fand ich die Dinge nun klar gestellt und hatte vielleicht endlich wieder Gelegenheit zum Schreiben.
An diesem kalten Wintertag Ende Januar fühlte ich mich nicht besonders wohl und hatte beschlossen, im Bett zu bleiben. Doch schon um neun Uhr morgens wummerte es an mein Schlafzimmerfenster - draußen stand Doris und brüllte: „Hast du Semmelbrösel?“
„Nein“, brüllte ich zurück.
„Leokadia, du HAST Semmelbrösel! Ich WEISS es!“
„Nein! HABE ICH NICHT!“ Ich zog mir die Decke über den Kopf.
„Leokadia!“ Doris Stimme kippte ins Hochfrequente und um sie loszuwerden, rannte ich in die Küche und warf ihr ein paar alte Semmel durch das Fenster hinaus.
Keine halbe Stunde später war Doris wieder da und brauchte Rotweingläser. Ich schrie, sie solle sich fortscheren, aber sie blieb ungerührt stehen und ich sprang aus dem Bett und zog die Vorhänge zu.
Zwei Minuten später klingelte das Telefon und als ich nicht heranging, sprach Walter mir auf den Anrufbeantworter. „Leokadia, ich habe Geburtstag und wir BRAUCHEN DIE WEINGLÄSER! MACH DIE TÜR AUF!“
Ich lag im Bett, kochend vor Zorn. „DAS IST EINE PRIVATWOHNUNG!“, schrie ich, ohne zu bedenken, dass die zwei mich nicht hören konnten.
„WIR KOMMEN JETZT IN DEINE WOHNUNG!“
Mir blieb keine Zeit mehr, die Tür zu verrammeln. Starr vor Entsetzen hörte ich, wie Walter und Doris sich am Schloss zu schaffen machten; dann flog die Tür auf.
Ich griff nach meinem Fotostativ und rannte in den Flur.
Zunächst streckte ich Doris nieder, dann Walter. Auf Walter musste ich mehrere Male einschlagen, bis er kein Lebenszeichen mehr von sich gab.
Nach einer Zigarette rief ich die Polizei.
Bei der Verhandlung zeigten die Richter viel Verständnis für mich – überhaupt der ganze Gerichtssaal. Aber Mord blieb Mord - beziehungsweise Totschlag; eigentlich hatte ich ja den ganzen Tag im Bett bleiben wollen! - daran war nichts zu rütteln. Ich bereute ihn zwar, aber das alles blieb doch sehr abstrakt und unfassbar für mich.
Nun sitze ich schon seit einigen Jahren im örtlichen Frauengefängnis. So schlecht geht es mir dabei jedoch nicht. Wenigstens habe ich Ruhe zum Schreiben gefunden.
Zwei Romane sind bereits erschienen.
Ein Drittes wird in einer Woche auf der Buchmesse vorgestellt werden.