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- 19.04.2003
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...Ich habe doch nur geträumt
...Ich habe nur geträumt.
Lasst mich die Zeit noch einmal zurückdrehen – bin nicht geboren.
Die wenigen Erinnerungen die ich an diesen Tag noch habe, stoße ich mit
jedem
Ausatmen weit fort von mir.
Gerade noch rechtzeitig habe ich erkannt, dass ihr nicht mehr wert seit
wie diese letzte Zigarette auf meinem Weg in ein neues Leben, mein neues
Leben.
Viel zu lange schon habe ich euch mit all meinem Verlangen nach Nähe,
Geborgenheit und Anerkennung in mir aufgesogen.
Für diesen kurzen Augenblick, in dem ihr mir eure Aufmerksamkeit geschenkt
habt Erlösung meiner körperlichen und seelischen Qualen gespürt.
Eure Gewalttätigkeit.
Eure Gleichgültigkeit.
Dieser schleichende Tod der ganz langsam, aber mit klarem Ziel vor Augen
in meiner Kindheit schon Besitz von meinem Körper ergriffen hat.
Anzeichen, dass der Kontakt mit den Inhaltsstoffen dessen was ihr Leben
nennt
Gift für mein unreifes Ich war gab es genug.
Mindestens so viele wie gelebte Kindertage, gestorbene Kinderträume.
Laufe orientierungslos durch mein Leben. Bin auf der Suche nach dem Sinn
meines Daseins.
Berge von schmutziger Wäsche und der strenge Geruch von seit Tagen nicht
mehr gespültem Geschirr, vermischen sich mit dem kalten Rauch der auch
keinen Ausweg mehr findet.
Zeitzeugen einer inneren Kapitulation, meiner Kapitulation.
Vor dem Leben,
der Hoffnung und der Zuversicht,
dass es einen Weg aus dem Dunkel gibt, das sich Eltern nennt.
So oft war ich nur noch wenige Meter vom rettenden Ufer entfernt.
Ich kann Stimmen hören.
Bin mit aller Kraft gegen die Meeresströmungen angeschwommen.
Vermochte dem Strudel der mich in die Tiefe zu ziehen drohte zu entkommen.
Wenige Meter nur noch! Wenige Meter, die in meinen wirren Gedankenspielen
ganz plötzlich in einer
nicht zu überwindenden Endlosigkeit enden.
Ergebe ich mich also doch kampflos in mein vorbestimmtes Schicksal?
Bin hart aufgeschlagen.
Eine meterhohe Welle hat mich mit einer Urgewalt, wie ich sie bisher nur
von meinen Eltern kannte in den weichen, weißen Sand des menschenleeren
Strandes katapultiert.
Meine Kleidung hängt nur noch in Fetzen an mir herab.
Überall, klaffende Wunden aus denen unstillbar mein neu gewonnener
Lebenswille im warmen Boden der
neu gewonnenen Freiheit versickert.
Bleibe ich jetzt liegen und schreibe mit diesem Gemisch aus warmen,
weichen
und weißen Sand einen letzten Gruß an euch da draußen, oder erinnere ich
mich
an einen der wenigen glücklichen Kindertage an dem ich ein schon verloren
geglaubtes Fußballspiel im Verein allein durch meinen Ergeiz und meinen
Siegeswillen zu wenden vermochte.
Vater, was war nur aus dem kleinen Jungen geworden der selbst bei
schlechtestem Wetter die unzugänglichen Tümpel
tief in den Wäldern aufsuchte.
Schon Tage vorher hatte ich diese Expeditionen in mein kleines Tierreich
heimlich und mit größter Sorgfalt vorbereitet.
Einen günstigen Moment abgewartet, bis du Vater wieder volltrunken warst
und
Mutter dann fluchtartig zur nächsten Putzstelle eilte.
Bin dann schnell in den Kartoffelkeller gelaufen und habe die gut
versteckte
Plastiktüte mit den ungefragt entwendeten Einweckgläsern, die beim
Transport in
meine kleine Tierforscher – Welt so manchen Sprung erhielten hervorgeholt,
und dann nichts wie weg.
Nur zur Mittagszeit konnte das Tageslicht für einige wenige Stunden bis
zum
Waldboden vordringen.
Ich musste mich also ranhalten, da schon der Fußmarsch hin und zurück
durch
dicht bewachsenes und unwegsames Unterholz die Hälfte der Zeit in Anspruch
nehmen würde.
Die vom Moos bedeckten Steine bargen so manches Neues, das es für mich zu
entdecken galt.
Mit großen Augen habe ich das Leben in diesen bewegungslosen Wasserlöchern
studiert das scheinbar nur dann in eine kurzweilige Bewegung verfiel,
wenn das herab fallende Blattwerk der Licht verschlingenden Baumriesen
ringsherum die Wasseroberfläche berührte, oder ich mich mit meinem selbst
gebastelten Fangnetz ungeschickt einem sonnenbadenden Bergmolch von hinten
näherte.
Der Laich der Frösche, diese durchsichtige Masse mit ihren schwarzen
Punkten
schien oftmals den ganzen Tümpel zu bedecken.
Es gab nichts Aufregenderes für mich wie die Metamorphose der Kaulquappen
in meinem Aquarium zu beobachten und zu dokumentieren.
...Kaum vorstellbar, auch ich war einmal ein solch kleiner Punkt im Schutz
von
Mutters Bauch – wollte ihr Glück, der Sinn ihres Lebens sein.
Wage kaum zu atmen in dieser meiner Kindheit so unbekannten und
grenzenlosen Stille, die nur vom Quacken eines wachsamen Frosches oder dem
blitzschnellen Auf- und Abtauchen eines Bergmolches das zum Luftholen
diente
durchbrochen wurde.
Mit wachen Augen konnte ich sie auch sehen, die kleinen Luftbläschen, die
zur Wasseroberfläche aufstiegen - ein sicheres Anzeichen für meine
Amphibien.
Mit bloßen Händen habe ich euch gefangen – ihr hattet eine faire Chance.
Die heimlich entwendeten Einweckgläser griffbereit am Ufer neben mir.
Richtig liebevoll habe ich euer kurzfristiges Zuhause eingerichtet.
Jetzt musste ich mich allerdings beeilen, wollte ich euch heute noch an
die
Zoohandlungen in der Umgebung verkaufen – Geld für meine erste Forschungs-
reise.
Morgen werde ich dann wieder hier herkommen, wenn Vater in irgendeiner
Ecke der Wohnung volltrunken und wild gestikulierend im Schlaf mit sich
selbst spricht.
Mutter wieder fluchtartig, mit der Angst im Nacken, für einige Stunden vor
diesem Gestank aus kaltem Rauch und leeren Bier- und Weinflaschen zu einer
ihrer Putzstellen flieht. Nur zu gut wusste sie wie schnell sich dieser
lustig anzusehende Schlaf unseres Vaters im nächsten Augenblick in kaum
vorstellbare Gewalt wandeln konnte.
Ja Vater.
Tierforscher wollte ich einmal werden.
Die Welt bereisen und alles Entdeckte und Unentdeckte, neu entdecken.
Den Menschen diese faszinierende Welt in all seiner Einfachheit und doch
so
komplex und durchdacht nahe bringen.
Wusstest du eigentlich um meinen Kindheitstraum Vater?
Hast meinen geliebten Stallhasen schlachten lassen und uns von nichts
wissend zum Essen auf den Tisch gestellt.
Nach langer Zeit, endlich einmal richtig satt geworden!
Lachend hast du uns danach erzählt, wenn wir da gerade mit Heißhunger
aufgegessen haben.
Wusstest also doch um meinen Kindheitstraum!
Vorsichtig nehme ich etwas von dem Froschlaich aus dem Tümpel und fülle
ihn
in eines der leeren Einweckgläser die ich als Reserve noch in einer Tüte
habe.
Muss lächeln.
Wenn Mutter das jetzt sehen könnte.
Ja Mutter.
Mein Lächeln wandelt sich mit der Geschwindigkeit mit der ich schnell und
sicher die Molche aus dem Wasser fische zum leblosen Blick.
Mutter, du würdest dieses für dich bedeutungslose Leben sofort in der
Toilette
entsorgen.
Links und rechts, dann mitten in mein Gesicht.
Gerechte Strafe für einige nicht mehr zu gebrauchende Einweckgläser.
Werde mich also sputen müssen um vor dir zuhause zu sein.
Schaut mich heute an!
Was ist nur aus dem kleinen Tierforscher geworden dem in den Sommerferien
all die Schultiere von Herrn Barth dem Biologielehrer anvertraut worden
waren.
Der kleine Garten der zur Schule gehörte, mit Herrn Barth habe ich dort
einen
kleinen Tümpel angelegt.
Ein richtiges Biotop haben wir in oftmals schweißtreibender Arbeit dort
erschaffen.
Tagelang habe ich an den verschiedensten nur mir bekannten Tümpeln
verweilt
und nur die schönsten Exemplare von Molchen und Fröschen gefangen. Sie
dann
in unseren feierlich eingeweihten Tümpel übersiedelt.
Ja Vater, den Schlüssel für den Schulgarten bekam am letzten Schultag
nicht der
Hausmeister der Schule! Nein, Herr Barth überreichte mir den Schlüssel
höchstpersönlich und streichelte mir dabei mit einem zufriedenen Lächeln
durch
mein langes lockiges Haar.
Was war ich stolz auf mich!
Habt ihr eigentlich jemals wahrgenommen, wie fasziniert ich vor dem
selbst-
gebauten Terrarium die mir anvertrauten Tiere erforscht habe?
Ihr Leben und das bewundernswerte Miteinander von dem wir
hochzivilisierten
Menschen so vieles lernen konnten.
Vater, dein lebloser Blick streifte uns nur auf der Suche nach dem
flüssigen Gift das deine körperlichen Qualen stillt.
Uns dann für einige Stunden zur Ruhe kommen ließ.
Mutter hatte es sofort bemerkt, wenn ich aus allen Zeitungen die ich
bekommen
konnte die Tierbilder ausgeschnitten und dann in leere Schulhefte geklebt
habe.
Links und rechts, dann mitten in mein Gesicht. Du verkommener Krüppel, das
wird dich lehren unser weniges Geld nicht so sinnlos zum Fenster
hinauszuschmeißen..
„Rosa Schwarz“ habe ich euch in meinen Träumen genannt.
„Rosa Schwarz“ begleitet mich viel zu lange schon durch mein Leben.
Zartrosa war mein Babyhaut, bis ihr sie mit blauen Flecken und
geschwollenen
Striemen verziert hattet.
In einer rosafarbenen Badewanne wollte ich in diese Welt geboren werden.
Das rosafarbene Glücksschwein habt ihr mir nie geschenkt.
Wo bin ich jetzt?
Was mache ich hier?
Schwarze Möbel und ein dicker Staubbelag darauf wecken für einen kurzen
Augenblick neuen Lebensmut in mir.
Zitternde Hände, die einen Traum malen.
Einen Traum, den ich mit all der Selbstverachtung, die ich für dieses
Häufchen
Elend, das mir ab und zu noch im Spiegel begegnet mit einem meiner letzten
Atemzüge als Vorhut in eine bessere Welt entsenden werde.
Sitze hier im Durcheinander meiner Gefühle.
Totales Chaos in meinem so jungen Leben.
Tausend Fragen, nicht eine Antwort darauf.
Hunderte von Briefen an euch geschrieben, niemals abgeschickt.
Ausgebreitet auf dem verschmutzten Fußboden der mir von mancher Nacht her
als
Schlafstätte wohl vertraut geworden war.
„Rosa Schwarz“, ihr liebt mich, ihr liebt mich nicht, nicht einmal ein
klein wenig?
Das Tagebuch.
Wo ist das verdammte Tagebuch?
Hier muss sie doch zu finden sein die Antwort für meine gegeißelte Seele,
meine körperlichen Qualen und meinen Selbstzweifel.
Geschlagene und geschundene Kindheit.
Aufgezeichnet auf reinem unschuldigen Weiß.
Der Aschenbecher.
Wo ist er nur der gottverdammte Aschenbecher?
Schau nur wie sie mich ansieht, die rote tot bringende Glut.
Als wollte sie mir sagen, lehn dich zurück. Komm wir lassen uns fallen.
Mit jedem deiner letzten Atemzüge verschlinge ich das Papier das mich
umhüllt.
Mache dir also keine Sorgen, was ich in die Hand nehme kennt kein Morgen.
„Rosa Schwarz“, ich war euer Sohn.
Euer Fleisch und Blut.
Aufgewachsen in einem Eisenbahner – Viertel, irgendwo in Stuttgart.
Wall aus rotem Backstein, unüberwindbar für meine kleinen Kinderhände.
Flehendes Schreien das von der gehörlosen Ignoranz hinter dem Wall weit
fort gestoßen wird.
Was kann jemals in mir wachsen!
Erkenntnis!
Das Leben, mein Leben ist kein Wunschkonzert!
Der Keimling im Schoß von Mutter Erde, hat nicht viel zum Überleben
gebraucht.
Wünsche.
Träume.
Hoffnung.
Kindheit.
Alles das, wird von euch schon im Ansatz im Keim erstickt.
Was also kann jemals in mir wachsen?
Meer von Tränen.
Neid.
Missgunst.
Sogar der Hass auf alle glücklichen Kinder, die ich lachend und spielend
über grüne Wiesen rennen sehe, und wie sie dann Purzelbäume machen und
sich auf der Wiese umherwälzen.
Ausgebreitete Arme die sie erwarten und in die sie sich voller Glück und
Vertrauen fallen lassen.
„Rosa Schwarz“, nichts kann in mir wachsen.
Da ist kein Licht.
Keine Wärme.
Keine Geborgenheit, in der dieses junge Leben geschützt heranwachsen kann.
Keine Liebe, die diesen zarten Wurzeln Halt gibt und sie ernährt.
Wachsen werde ich ich, cm um cm.
Das wenigstens könnt ihr nicht verhindern.
Bin in der Nacht erwacht, wieder einmal.
Kalter Schweiß bedeckt meinen Körper.
Friere. Mir ist bitterkalt.
Kann meine Augenlider kaum öffnen.
Habe ich im Schlaf um dich geweint, wieder einmal?
Tränen, die dem Tageslicht seit meiner Kindheit verschlossen bleiben.
Habe ich nach dir gerufen, nach dir geschrieen, wieder einmal?
Vater, lass uns aufhören einander zu quälen.
Ich will wieder leben, nicht nur existieren.
Mit allen Höhen und Tiefen, nur ohne dich.
Beginne zu zittern, wieder einmal.
Der kalte Schweiß auf meinem Körper verwandelt sich in Eiskristalle.
So sehr gehofft, die gute Fee, für die ich extra einen Holunderbusch im
Garten
gepflanzt habe wird mich von dir erlösen.
Will nicht mehr nach dir rufen Vater.
Will ab heute der Wahrheit in die Augen blicken.
Das Gute in mir, konnte „Rosa Schwarz“ nie besiegen.
Frage dich hier und jetzt an deinem Sterbebett, warum empfinde beim
Abschiednehmen kein einziges Gefühl für dich? Warum kommt nicht ein
einziges Wort des Trostspendens über meine Lippen?
Warum habe ich überhaupt Abschied von dir genommen?
Wir waren uns doch nie wirklich nahe?
Waren es diese drei Worte, die ich nur ein Mal so kurz vor deinem Tod von
dir hören will!
Vater, da liegst du nun. Nur noch ein Schatten deiner einstigen
Manneskraft.
Zu schwach zum Sprechen.
Zu schwach die Augen zu öffnen.
Nichts ist dir geblieben außer einer weinenden Ehefrau.
Die blühende Wiese die dir das Leben einmal geschenkt, hast du mit Gift
vernichtet.
Nichts hören, nichts sehen, nichts sagen…auch so kann man sterben.
Was also, will ich ausgerechnet heute von dir?
Gewissheit, dass dieser unsagbar brutale Mensch, der mir so viele
körperliche
und seelischen Wunden zugefügt hat, auch wirklich in Kürze in der Hölle
schmoren wird?
Im Augenblick deines nahenden Todes wusste ich es wird eine andere, höhere
Instanz geben vor der du dich für dein unmenschliches Dasein wirst
verantworten
müssen.
Habe mir diesen Augenblick mein ganzes Leben herbeigesehnt?
War nicht mehr Sohn, nicht mehr fühlender Mensch.
War die Gleichgültigkeit.
War die zerstörte Kindheit, die Gewalt die lange Zeit unberechenbar in mir
lebte -
die unbändige Aggression und der Hass – euer Spiegelbild.
Vater, der Weg zu mir selbst war sehr weit.
Ein riesiger dunkler Wald voller unsichtbarer Feinde.
Liebliche Stimmen die mir ins Ohr flüsterten, mich zur Umkehr bewegen
wollen.
Blättermeer, so dicht und groß, dass ich nur mit meinen bloßen Händen
bewaffnet, in schwachen Minuten ein Durchkommen für unmöglich hielt.
Dahinter ein Berg von gigantischer Höhe.
Loses Felsgestein das mir den Aufstieg schon zu Beginn als aussichtslos
erscheinen lassen musste.
Eisige Winde, stürmisches Schneetreiben und Luft zum Atmen, die es nicht
ausreichend gibt je näher ich dem Gipfel komme.
Von dort oben aber musste ich sie dann sehen können - die Freiheit!
Die Freiheit vermochte ich von hier oben nicht zu sehen. Nicht einmal
Befreiung.
Einen nicht weniger beschwerlichen Abstieg und ein karges von der Sonne
verbranntes Tal…
Einen Fußmarsch durch sengende Hitze.
Überall, Überreste von verlorenen Seelen.
Ich habe Angst. Ich bin zu schwach zum Weitergehen. Ich will nicht ebenso
Enden. Ich lege mich einfach hin und wache nie wieder auf.
Nein, ich kann es riechen das Meer. Der Wind als mein Verbündeter gibt mir
die Kraft und Zuversicht zum Aufstehen und Weitergehen.
Durchschwimme das Meer und du hast deine Zukunft erreicht höre ich die
Möwe über mir sagen,
welche die warmen Aufwinde zum Sich – tragen - Lassen nutzt.
Ich bin Mensch geworden. Habe ein letztes Mal zugeschlagen.
Euer Spiegelbild zerstört.
Sprechen, nicht mehr zuschlagen.
Worte ersetzen mein Faustrecht.
Vater, jetzt endlich bin ich frei.
Zwei Stockwerke bis zu dir.
Ein langer nur schwach beleuchteter Flur, und am Ende des Ganges wartest
du
auf mich.
Vater, warum haben sie dir ein Kissen auf dein Gesicht gelegt?
War Mutter vor mir da?
Wollte auch sie Gewissheit?
Konnte sie deine abgrundtiefe Boshaftigkeit, deine menschenverachtende
Brutalität gegen die Familie doch nicht vergessen?
Deine Hände zum friedlichen Gebet gefaltet, nichts ist dir vergeben Vater.
Berühre deine Hände, seit langer Zeit wieder einmal.
Lege das Kissen auf die Seite, wende mich von dir ab und gehe.
Keine einzige Träne bist du mir wert.
Mein Sohn ist dies deine Art von Selbstjustiz?
Du bist nicht Ankläger und nicht Richter.
Vater, du warst mein Held, warum hast du mich nicht gerettet?
Ich habe mein ganzes Leben lang nur gehofft, ich bin dein Sohn.
Nie vergessene Qualen.
Wie oft wurde ich von meinem liebenden Vater brutal zusammengeschlagen,
nur weil ich beim Fußballspiel im Verein kein Tor geschossen habe.
Der Gürtel aus hartem Leder, war nicht Strafe genug.
Die Metallschnalle würde mich schon lehren das nächste Mal schneller über
den
Platz zu laufen.
Qualen…
Mehr blaue Flecken am Körper, wie Haare auf dem Kopf.
Zertrümmerte Knochen für die mir die Notlügen ausgingen.
Qualen…
Mutter, konntest du wirklich jemals vergessen wie wir dich im
Bauernschrank
vor diesem brutalen Schläger versteckt haben?
Wir so weit es ging unter die Betten.
Er hat die Türen einfach eingetreten, da stand er dann wieder einmal mit
schwingendem Säbel und wollte uns alle wieder einmal köpfen.
Haben geschrieen, geweint, um dein und unser kleines Leben gefleht.
Qualen…
Kleiner Junge der sich nachts nicht zum Pinkeln traute, weil er Angst
hatte dem prügelnden Vater zu begegnen.
Zu seinem Glück, gab es den alten Kohleofen im Kinderzimmer.
„Rosa Schwarz“, der kleine Junge das war ich.
Mutter, du schwache und unfähige Frau was willst du heute von mir?
Beweinst einen Menschen, der solange er seine Hände erheben und seine
Beine bewegen konnte dich geschlagen und getreten hat.
Du bist nicht minder Schuld an den Schmerzen die ich ertragen musste.
Hast zugesehen! Nein! Hast fortgesehen, wenn er mich zusammengeschlagen
hat.
Hast mich ebenfalls geschlagen aus lauter Angst ihn sonst zu verlieren.
Hast mich einfach geopfert!
Du bist genauso Schuld an den Narben die meinen Körper für den Rest meines
Lebens verzieren.
Mutter.
Mit einer Rasierklinge habe ich mich dafür bestraft, all meinen kindlichen
Mut zusammenzunehmen. Mich gewagt zu unserem Schutz die Hand gegen den
gewalttätigen Vater zu erheben.
Ich habe ihn in dieser Nacht beinahe getötet.
Warum habe ich ihn nicht getötet?
Jeder hätte Verständnis dafür gehabt.
Unsere Erlösung lag in meinen unschuldigen Kinderhänden.
Kinderhände, die kurz zuvor noch Tierbilder in leere Schulhefte geklebt
haben.
Weil ich dann nicht besser bin wie er?
Weil ich ein Feigling bin?
Nein, weil ich die Schuld für seine Gewalttaten bei mir suchte.
Was mache ich nur falsch?
Vater, ich fühlte mich frei und stark und zum ersten Mal in deinem Leben
habe ich Angst in deinen Augen erkannt.
Wusstest du um deinen bevorstehenden Tod?
Schlage zu. Immer wieder. Meine Kinderhände legen sich wie ein
Schraubstock um deinen Hals. Überall, dein Blut.
Für alle meine zerstörten Kinderträume, die nicht mehr zählbaren Striemen
die meinen Kinderkörper züchtigten.
Für all die Nächte unter Betten und in Schränken.
Für die Schande der du uns ausgesetzt hast.
Für meinen geliebten Stallhasen.
Für alles das, wollte ich dich jetzt mit deinem Blut und deinen Schmerzen
bezahlen lassen.
Lasse von dir ab, ganz plötzlich.
Drehe mich um und lasse dich wortlos in deinem Blut und deinen Tränen
liegen.
...Ich war gerade einmal 13 Jahre jung.
Sitze auf den Treppen zum Garten.
In meiner Hand eine silberfarbene Rasierklinge um deren Schärfe ich nur zu
gut weiß, habe ich mich doch schon oft heimlich mit dem Rasieraperrat zum
Mann erhoben.
„Rosa Schwarz“, der erste Schnitt in meine weiche Haut tat noch weh.
Habe auf die Zähne gebissen - umsonst.
Meine Tränen sind nicht minder stark aus mir geschossen, wie mein roter,
warmer Lebenssaft. Aber dann ging alles ganz schnell, tat gar nicht mehr
weh.
Vielleicht war es auch nur diese ungewohnte angenehme Wärme, die das Blut
auf meiner Haut erzeugt.
„Rosa Schwarz“, beide Arme, der Kopf und die Finger, bei vierzig Narben
habe ich aufgehört zu zählen.
Was seit ihr nur für Menschen, dass ihr euer eigen Fleisch und Blut so
misshandelt!
Mussten nicht alle Spiegel auf der Stelle zerspringen in denen solche
Ungeheuer ihre Unschuld zu finden hoffen!
Vater, besuche heute zum ersten Mal die große Wiese auf der du irgendwo
anonym begraben liegst.
Mutter hat mir bis heute nicht verziehen, dass ich nicht zu deiner
Beisetzung gekommen bin.
Was interessiert mich Mutter. Habe sie fast drei Jahre nicht mehr gesehen
und gesprochen.
Sie hat uns allen die Möglichkeit genommen einen Ort aufzusuchen an dem
wir dich zur Rede stellen können.
Ja, und vielleicht sogar auch um dich weinen.
Muss jetzt in die Weite sprechen und hoffen du hörst mich dort irgendwo.
Selbst im Tod deine Feigheit, die nicht minder schwer wiegt wie deine
Gewalttaten zu deinen Lebzeiten.
Wir sollten dich für immer vergessen - hätten wir dich doch nur nie kennen
lernen müssen...
Dein Todestag, der Geburtstag von einem deiner Söhne, wie sollen wir dich
da jemals vergessen?
Ich will dich nicht vergessen! Will das Gespräch mit dir. Will dich
anschreien.
Was soll ich anschreien? Wohin soll ich schreien.
Nirgendwo ein Kreuz mit deinem Namen darauf.
Du hast deine Erlösung gefunden!
Egal wo.
Egal wie.
Was ist mit meiner Erlösung, meinem Seelenfrieden?
Warte Vater, will mich zu dir auf die Wiese setzen.
Es ist so wunderschön hier.
Alles so sauber und gepflegt, so friedlich.
Bist du wirklich hier an diesem Engelgleichen Ort?
Vater, darf nicht vergessen um des Vergessens Willen.
Nicht verdrängen, was du mir angetan hast.
Verzeihen will ich dir, um meines Sohnes Zukunft Willen.
Möchte mit der Wahrheit in ein Beduinenzelt ziehen.
Loslassen lernen von Menschen, die meine Gefühle missbrauchten.
Das Lachen meines Kindes für meinen Neubeginn mit mir nehmen.
Kinder bedeuten die Freude am eigenen Leben…