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Ich habe den lieben Gott gesehen

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02.11.2001
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Ich habe den lieben Gott gesehen

Die Splitter der eingeschlagenen Scheibe liegen verteilt über den Stoff der Vordersitze. Ein Sternenhimmel auf den Vordersitzen. Jeder davon ist ein kleiner Mond und eine große Sonnenfinsternis. Wir verstehen noch nicht. Noch nicht. Der Pick Up hat keine Räder und der Lack auf seiner Ladefläche ist grau und zerschunden von all dem Müll, den sie ihm über die Jahre aufgeladen haben. Den er von dem einen Punkt zum nächsten bringen musste. Nur weil dort wer darauf gewartet hat. Nur weil es dort wer ohne dem nicht ertragen hat.
Das Lachen irregeleiteter Ratten liegt so schnell danach schon auf dem Zahn der Zeit, der auch hier wie überall zu nagen begonnen hat. Der Schrottplatz ist voll von diesen Nagespuren.
Stellen wir uns bitte die Szenerie vor, ja?
Der Mond, der irgendwie darüber hing, ist auch noch da.
Ein Mond, dem man alles glauben kann und doch viel weniger. Hinter den Hügeln liegt Flugrost. Spuren des Wolfsrudels kreuzen sich darin. Das Heulen zum Mond hat nichts besser gemacht. Es muss erwähnt werden. Er ist der Einzige, der darüber berichten könnte. Er hatte einen unbezahlbaren Logenplatz in diesem Nachthimmel. Er sah auf den Pick Up und er konnte danach die Wölfe zählen. Das Heulen hat alles übertönt.
Also gehört auch das Heulen zum Charakter dieses Bildes, das als Geschichte verkannt werden wird. Nur Mut, flüstern wir uns zu. Nur Mut. Nun gut. Wir sind damit schon mittendrin und weiter, als wir wollten. Aber wir brauchen noch nicht von Furcht sprechen. Die Angst, die diesem Schrottplatz innewohnt, krümmt sich schon länger im Pick Up. Lippen im letzten Schrei erstarrt, ein Rest von Wärme. Unter den versengten Achseln, zwischen den Beinen? Nichts hält uns davon ab, einen Blick auf die hinteren Sitze zu werfen. Wenn wir das tun, wird es nach Mitternacht sein, wird es mit dem Nebel losgehen, werden die Wölfe schon gerissen haben. Und für die Ratten wird es beim Pfeifen bleiben. Wenn wir also nicht auf die Angst hören und mit dem rastlosen Mut der frühen Stunde unsere Nasen auf dem Glas der Seitenscheibe platt pressen, werden wir wieder dazulernen. So, wie es immer in den Nächten hier draußen ist. Wenn Einer seine Lehre verkündet hat und die Beweise ihrer Wahrhaftigkeit zurücklässt. Das Praktizieren eines Lernens mit all seinen lächerlichen Konsequenzen für die Zukunft. Das Vergessen können, das aber so wie der Mond nur eine Scheibe ist. Aber zurück liegt und damit weiter vor uns, als wir glauben.
Sind wir soweit? Keine Absätze, kein unnötiges Trennen von Zusammengehörigkeiten, von sich Gefundenem. Alles klar. Alles einig.
Die Seitenscheibe, der Nebel, unsere plattgedrückten Nasen, die Neugier, die noch immer alles besiegt hat? Etwas, das wir manchmal Grauen nennen, etwas, von dem wir in kranken Nächten geträumt haben? Bitte umdrehen und artig guten Abend sagen. Jetzt steht das Es hinter uns, klopft mit spitzen Fingerkuppen gegen unsere nass geschwitzten Schädel und wir alle hier vor diesem Pick Up, wir alle und auch das Es, wir fragen uns in dieser Schrottplatzidylle, wie es dazu kommen konnte. Warum die Innenseiten der nicht geborstenen Scheiben beschlagen sind, das fragen wir uns, wo doch an diesem Ort ansonsten von Leben keine Spur zu finden ist.
Halt, aufgepasst. Nicht die Augen schließen, nicht jetzt, wo doch der Spaß mit dieser unverrückbaren Wahrheit beginnt.
Wir müssen es uns wieder vergegenwärtigen.
All das. Den Mond, das Wolfsheulen, die Glassplitter auf den Vordersitzen.
Es sind zwei Stunden nach Mitternacht. Es ist purer Zufall, dass wir sie so schnell gefunden haben. Wir von der Frühschicht. Aber nicht wirklich wichtig für den Rest von all dem hier, von einem Rest an verbliebenem Anstand, der sich nach wenigen Momenten des darüber Nachdenkens selbst beseitigen wird.

Nicht vergessen. Nichts vergessen. Wegen dem Bild, dem gesamten.
Wegen diesem Gemälde, das viele von uns, die auch mitten im Alltag stecken, als zutiefst verwerfliche Geschichte ablehnen werden.
Es ist zu befürchten. Aber nichts desto trotz aufgeschrieben, um gefunden zu werden. Die richtige Atemtechnik und dann lesen, ja? Gut. Einmal noch so lange wie bis hierher. Dann sind wir angekommen. Aber langsam, langsam. Es wartet nur eine weitere Wahrheit.

Ihr blondes Haar. Ihr langes blondes Haar ist festgeknotet an den Türgriffen. Sie ist nicht nackt hierher gekommen. Sie hat sich das nicht angetan. Sie hatte einen guten Tag bis der Hunger kam. Sie hatte vor Stunden dieses Lächeln beim Bezahlen ihrer Pizza. Bitte mit etwas mehr Salami, hatte sie gelächelt. Kein Knoblauch. So sagte ihr Lächeln.
Ihr Augenaufschlag dabei.
Das Messer danach hat ihr alles abverlangt an Auflehnung, an übrig gebliebener Ahnung von dem , was die zerschlissenen Rücksitze des Pick Up für sie hergeben würden, welche Ideen darauf lauern, an ihr verwirklicht zu werden. Zu dem allen die passenden Worte finden ist gar nicht einfach. Das alles hier ist nicht einfach. Doch weniger geht im Augenblick nicht. Noch nicht. Konzentration. Dämmerung, komm. Wir spüren schon ein klein wenig die Abart dieses längst weitergewanderten, vergriffenen Geistes. Fortwährend schöpft er aus dem Vollen.

Also zum wiederholten Male.
Nur eben darum, dass niemand vergisst auf das Drumherum.
Die Wölfe danach, der Schrottplatz, die Leere in dieser verfaulenden Welt. Ihre makellose Haut davor. Es ging aber nur um diese eine Pizza für den Abend. Um ein Wannenbad danach. Weiches, weißes Frotteetuch, Nachtcreme, ein neues Kapitel im Bestseller, der Wecker für den Morgen. Darum ging es. Dass aber daraus so viel mehr werden würde....
Es ging anders weiter nach dem Kauf der Pizza. Am Parkplatz. Der Schlag von hinten. Das Erwachen. Der Gestank. Das Gesäß des Mannes über ihr. Das Heulen draußen. Das Zischen des Lötkolbens. Immer wieder die gnädige Ohnmacht. Dass das daraus entstand, konnte niemand wissen. Unser Gewissen sagt Wissensnotstand dazu. Davor. Danach stehen wir da mit platt gedrückten Nasen und wissen nichts über die Länge von ein paar schnellen Minuten in einem verschrotteten Pick Up.
Sie gibt ein Bild für Götter ab, nach dem Erlöser, den Wölfen, den Ratten.
Ihr Germanistikprofessor vergöttert sie.
Auch Mario, der Pizzamann, denkt an sie, wenn er keuchend unter der Dusche kommt.
Doch mit diesen Bildern ist nicht zu spaßen. Es musste nur erwähnt werden. Es geht um das Erkennen der Tragweite dieser Geschichte. Wir wissen nicht ihren Namen. Auch unser Entsetzen darüber ist namenlos. Die Drähte an ihren Handgelenken, nein, an den blanken Knochen ihrer Unterarme – so muss es gesagt werden – haben die Farbe der Türgriffe. Doch, ja, stellen wir fest. Nur um nicht in den Nebel zu schreien.
Genau genommen müssen wir verzinkter Stahldraht dazu sagen. Es ist die handelsübliche Bezeichnung für dieses Produkt, das uns die Baumärkte als Meterware anbieten.
Und wir merken, dass über das, das hier unter dem Mond liegt, nicht weiter gesprochen werden muss. Das große Es, das hinter uns steht, ist die Phantasie, ohne der es auch jetzt nicht weitergehen würde. Die Farbe ihrer Haarsträhnen tut nichts zu dieser Sache hier. Wir hätten auch kastanienbraun dazu sagen können. Es wäre trotzdem nicht anders ausgegangen. Auf dem Tachometer des Pick Up lesen wir die stolze Zahl einhundertachtundzwanzigtausend. So viele leere Kilometer. Toter Schrott, in einer Nacht dann voll mit schreiendem Leben. Einhundertachtundzwanzigtausend Kilometer Irrfahrt. Der Schrottplatz ist ihr Hafen. Der Pick Up ihr Ankerplatz. Vor Anker gegangen, so sagen die Seeleute dazu. Stahldraht als Ankerkette.

Warum es so kam?
Es ist der Alltag, der auch nächtens nicht zur Ruhe kommt. Es sind die verwirrten, unverstandenen Genies auf der Suche nach gerade diesem alltäglichen verstanden werden Wollen. Es kam auch hier, wie es so oft schon kommen musste. Es ist wieder nur eine unglückselige Verkettung einzelner Zufälligkeiten. Oder ein wirres Beispiel für Unverrückbarkeit. Die Pizza, ein Lächeln, der Mond und der Ort hier. Ein Professor und dessen Unaufgeräumtheit. Sein Warten auf das Irgendetwas, das zu passieren hat. Oder Mario. Seine langen schwarzen Wimpern. Einer von den Beiden, der nicht wusste wohin mit seinem Wahn? War es nicht so?
Gab es da noch wen? Einen Dritten gar? Dann erst die Wölfe?
Sag, Mond, war es sehr schlimm für das Mädchen?
Die Glassplitter sind der Sternenhimmel und das All darüber ist der Schrottplatz. So muss es sein. Alles verkehrt sich und richtet sich dadurch gerade.
Also kein Wannenbad. Kein neues Kapitel im Bestseller. Nie mehr das alles.

Ich habe den lieben Gott gesehen, lesen wir, geschrieben im eisgrauen Staub der Seitenscheibe. Von jemandem, der schon die neuen Abenteuer sucht und finden wird.

Sehen wir jetzt den schwarzen Vogel, der dicht über der Erde dieses historischen Bodens ihre Seele davonträgt? Wer wir sind? Noch mal also. Wir sind die von der Frühschicht. Wir finden das, was davon übrig bleibt.
Augen auf.
Hinschauen.
Bitte.

 

Hallo Aqua!

Düstere, gewaltige Szenerie, ein Aufruf zum hinsehen, ein Aufruf zur Ehrlichkeit.
Du zwingst Deine Leser dazu, die Augen aufzureißen, das bitterdunkel Bild nicht einfach flüchtig zu überfliegen und dann in die Ecke zu stellen.
Um die Handlung an sich geht es nicht. Sondern um das Verahlten des Betrachters. Sehr intensiv.

liebe Grüße, Anne

 

Hey Aqua,

ich stimme Anne zu, die Szenerie ist sehr intensiv. Mit einigen Deiner sehr kreativen Bilder kann ich leider nicht viel anfangen, und die Erzählstruktur übersteigt scheinbar mein Fassungsvermögen. Vielleicht mangelt es dazu an Konzentration hier im Büro...

Kleine Nebenbemerkung: Ich habe noch nicht versucht, jemanden mit Lötzinn zu fesseln. Aber ich habe das Gefühl, dass es nicht klappen würde, weil dieses Material doch recht weich ist und bei entsprechender Gewalteinwirkung reißen würde.

Fazit: Anspruchsvolle Lektüre, aber die "Mühe" wird am Ende belohnt.

Uwe

 

Hallo Maus, hallo Uwe,

danke euch beiden, dass ihr euch der Geschichte angenommen habt. Es ist wieder einmal ein Versuch, anders zu erzählen. Obwohl die Düsternis des Alltags immer diesselbe ist. Auch die Mühe, sich darin durchzukauen. Über das Prädikat "anspruchsvoll" freue ich mich sehr.
Mit dem Lötzinn hast du recht, Uwe. Ich habe ihn wegen dem dadurch zu benutzenden Lötkolben gewählt. Eine schwarze "Hommage" an alle Arten von zweckentfremdeten Drähten auf dieser Welt.

Liebe Grüße - Aqua

 
Zuletzt bearbeitet:

Hi aqua,

athmosphärisch dicht, sprachlich anspruchsvoll, und erst nach mehrmaligem Lesen habe ich Deine Gedankensprünge nachvollziehen können und auch verstanden, was Du eigentlich sagen wolltest. Hat wirklich Klasse...

Nele

 

Danke, Nele, dafür, dass du dich durchgeackert hast.
Ich gebe zu, es ist nicht ganz so einfach.
Ich hoffe, damit zum Nachdenken anregen zu können. Oder hie und da Sprachlosigkeit, in welcher Form auch immer, zu bewirken.

Liebe Grüße - Aqua

 

Hallo Aqualung

Eine grandiose Geschichte. Atmosphärische äußerst dicht, gerade durch die etwas andere Erzählstruktur und gerade dadurch auch so gut.
Sprachlich, wie eigentlich immer, herausragend.

Gruß
deMolay

 

Danke, deMolay,

Kritiken wie deine eine ist, bestärken mich darin, in diesem Sinne weiterzumachen. Ich wünsche dir noch einen schönen Tag, deMolay.

Liebe Grüße - Aqua

 

Hallo Aqua

ich war schon von deiner Geschichte beindruckt als ich sie auf der Donauinsel gehört habe. Es gibt wohl nicht viel mehr darüber zu sagen was nicht oben schon gesagt wurde.

..nur eins. Lötzinn ist eigentlich zu weich um damit jemanden zu fesseln, besonders bis auf die Knochen. Ich kann nichts dafür, solche sachen zerstören für mich mit einem Schlag die aufgebaute Atmosphäre. Ich beginne an andere Dinge zu denken, und der rest Geschichte gleitet in meinen Hinterkopf, um von rationellen Gedanken zugeschüttet zu werden.

Grüße von einem unverbesserlichen Realisten.

 

Hallo Aqualung!

Die Geschichte wirkt auf mich wie ein Bild, eine Beschreibung von Sequenzen. In diesem Sinn ist sie schön, wie auch eine grausame Oper schön sein kann. Ich habe den Eindruck, es geht dir mehr um die Ästhetik der Momentaufnahmen, als um einen ausgefeilten Handlungsstrang, oder gar irgendeine bestimmte Aussage.

Ich mag den Text. Stilistisch perfekt beschreibst du die Ästhetik des Widerwärtigen, Schrecklichen. Das geht unter die Haut.

lg
klara

 

Hallo Porc, hallo Klara,

vielen Dank, dass ihr euch diesen Text nach der Donaulesung nochmals angetan habt. Das mit dem Lötzinn hab' ich geändert, hast recht, Porc.
Ja, ich wollte mehr oder weniger Momentaufnahmen skizzieren, Klara. Das große Bild soll sich der Leser selbst auf seine Interpretation hin zusammensetzen können. Die Eckpfeiler Schrottplatz, Vergewaltigung und Folter mit Todesfolge und zwei eventuell in Betracht kommende Mörder sind vorhanden. Oder noch ein Dritter....
Der Rest ist Bilder entwerfen, die den Leser erreichen.

Liebe Grüße an euch - Aqua

 

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