Ich hab mich geirrt
ICH HABE MICH GEIRRT
Hallo, da bin ich.
Ich weiß, ich bin fast eine Stunde zu früh dran – aber ich wusste, Du würdest hier sein.
Diese altehrwürdigen Gebäude machen mir immer ein wenig Angst. Ich fühle mich so beklommen, so mickrig. Ach, Du weißt schon, was ich meine.
Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll! Es ist schwierig, in so einer Situation die richtigen Worte zu finden.
Siehst Du das auch so?
Ich frage mich, wie das alles hat passieren können. Und das uns!
Ja – sonst waren es immer die Anderen: Brigitte, Gaby, oder Volker.
Mir tat es immer leid... Sehr leid. Ich habe versucht zu trösten und zu helfen, aber irgendwo, ganz tief in mir, war ich immer froh, dass es nicht uns passiert war. Beschämend? Ja, das stimmt. Aber es ist wahr. Besser sie, als ich. Das war es, was ich dachte.
Du siehst blass aus, Christian... Aber ich auch – oder nicht?
Neunzehn war ich, als wir uns zum ersten mal begegneten, und Du warst einundzwanzig, stimmts? Das war 1984.Wir waren soooo jung.
Unsere erste Wohnung war natürlich eine Dachwohnung. Weißt Du noch? Wir hatten keine Betten, nur Matratzen, aber auf diesen Matratzen hatte ich den besten Sex meines Lebens.
Bis auf den Tisch, den Wolfgang uns zur Einweihung schenkte, war jedes einzelne Möbelstück gebraucht –
erinnerst Du Dich?
Später kam dann das Haus. Unsere Hochzeit. Und dann...Lea. Unsere Tochter. Ein Wunschkind.
Liebe – Liebe – Liebe !!
Und Sex! Guter Sex. W i r k l i c h guter Sex.
Gespräche! Lange Nächte voll tiefsinniger, alberner, tröstlich-törichter und interessanter Gespräche. Unterhaltungen, die süchtig machten. Dazu Rotwein, Kerzenlicht - es war wundervoll.
Du sagst nichts.
Ich weiß gar nicht mehr, wie das anfing, dass wir nicht mehr miteinander schliefen... Oder nur noch sehr selten.
Und wie kam es, dass unsere Gespräche so banal wurden?
Lea`s Schule, Lea`s Tanzkurs, Lea´s Karateverein. Lea! Lea! Lea!
Sie war das Bindeglied, dass uns noch zusammenhielt, oder nicht Chris?
Natürlich. So war`s.
Hier , ich habe Dir ein Foto mitgebracht. Unser letzter Urlaub auf Mallorca. Lea, Du und ich. Du kannst es behalten, als so `ne Art Abschiedsgeschenk.
Ich wollte nie, dass Lea ohne Vater aufwächst. So wie ich – ein Scheidungskind. Sie ist doch erst zehn. Wechselt jetzt die Schule.
Musste das sein, Christian?
Keine Antwort.
Na gut. Sie wird`s genauso packen müssen wie ich. Oder?
Schon seltsam, wie man sich gegenseitig nervt , was? Fast zwanzig Jahre sind eine lange Zeit, Chris. Und einmal waren wir sehr, sehr verliebt.
Und glücklich.
Dann zufrieden.
Dann pflichtbewusst.
Wir haben das Unwichtige wichtig, und das Wichtige unwichtig werden lassen. So ist es doch, oder siehst Du das anders, hm?
Keine Komplimente mehr von Dir, Chris. Pflichtkuss Begrüssung, Pflichtkuss Abschied . Beim gelegentlichen Sex keine Küsse...
Sieben Minuten und dreißig Sekunden hat es beim letzten Mal gedauert, wusstest Du das? Für Dich – nicht für mich. Ich ging leer aus. Aber wenigstens habe ich in dieser Zeit das Menü für unsere Wochenendgäste zusammengestellt.
Wo ist das Glück und die Liebe geblieben, Christian?
Nur Dein Schweigen....
Wurde es begraben, unter der Schmutzwäsche, dreckigem Geschirr oder schmierigen Fenstern? Ist es beim Einkaufen verloren gegangen, in der Autowerkstatt oder ist es Dir beim Joggen aus der Tasche gefallen. Unbemerkt.
Weißt Du es, hmm?
Vielleicht ist es auch, weil ich älter werde. Nächstes Jahr werde ich vierzig. Oh Gott, vierzig!
Ja, ja ich weiß:
Ich sehe gut aus – für mein Alter.
Ich wirke jugendlich – für mein Alter.
Ich habe eine gute Figur – für mein Alter.
Für mein Alter....
Weiß Du was? Männer haben es da doch einfacher! Sie glauben, sie werden attraktiver und interessanter, wenn sie „reifer“ werden. Stimmst nicht, Chris? Männer altern nicht.
Deswegen können sie es sich beispielsweise leisten, gutaussehenden, leicht bekleideten jungen Frauen nachzu- starren. Selbst dann noch, wenn die eigene Ehefrau daneben sitzt.
Nicht wahr?
Du antwortest nicht.
Bloß, weißt Du: ich bin nicht so alt, dass ich blind oder senil wäre. Oh nein! Aber, dass ist jetzt eh egal.
Dafür werden Männer irgendwie... empfindlicher. Glaube ich jedenfalls.
Man kann kaum ein Wort sagen, ohne, dass sie eingeschnappt sind.
Ja – ja – ja! Ich weiß, ich weiß, Christian!
Du kannst es nicht mehr hören:
Klapp den Klodeckel runter...
Mach die Bartstoppeln aus dem Waschbecken weg...
Lass kein dreckiges Geschirr rumstehen....
Tu Deine Dreckwäsche in den Korb...
Du kannst es nicht mehr hören.
Ich kann es nicht ertragen...
Und dann unser letzter Streit. So banal!
„Häng das nasse Handtuch auf“ sagte ich, „ oder es....
Und Du?
Du bist mir ins Wort gefallen, hast gebrüllt: „Lass mich doch mit dem Scheiß endlich in Ruhe! Du nervst nur noch.!!“
Tür knallen, rein ins Auto – und weg warst Du.
Das war`s dann, was Christian?
Du bist so kalt.
Ohhh – ich werde mir wohl ein anderes Auto zulegen müssen. Naja, der andere Wagen war mir sowieso zu unübersichtlich, weißt Du?
Da! Die Anderen kommen. Ich kann sie hören.
Zeit, zu gehen.
Ich wollet Dir noch einmal von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen. Das hier ist wohl unser letzter „gemeinsamer Auftritt“ - oder vielleicht doch nicht?
Ich halte es nicht aus, so neben Dir zu stehen.
Du bist so still.
Noch eines: ich wünschte, ich hätte Dich an einen Stuhl gefesselt, bis wir wieder ein gutes Gespräch miteinander geführt hätten. Ich wünschte, ich hätte Dich gezwungen, mit mir zu schlafen, bis es Dir wieder Spaß
gemacht hätte. Ich wünschte, ich hätte Dir nach unserem Streit die Wut einfach weggeküsst. Ich wünschte, ich hätte nicht zugelassen, dass der Alltag unser Glück verschlingt.
Ich dachte, wir sind unverwundbar - anders als die Anderen.
Ich habe mich geirrt...
Alles, was ich wollte, war, Dich zu lieben und mit Dir alt zu werden.
Wie konnte ich so dumm sein, das auch nur einen Augenblick zu vergessen? Ich habe mich geirrt, als ich sagte, dass ich Dich nicht mehr liebe. Geirrt...
Und ich will Deine Hand nicht loslassen – aber ich muss es tun.
Also; leb wohl.
Ich hoffe wirklich, dass wir uns wieder sehen.
Und keine Angst: ich werde gut auf Lea aufpassen.
Ich werde versuchen müssen, ihr Vater u n d Mutter zu sein – jetzt, wo Du tot bist...