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Ich glaub, ich hab Angst.
''Ich glaub, ich hab Angst.''
Manchmal sag' ich das.
''Ich glaub, ich hab Angst.''
Ich weiß gar nicht, warum. Warum hab ich Angst? Oder, warum glaube ich, Angst zu haben. Wovor hab ich Angst? Was gibt es denn, wovor ich Angst haben könnte?
''Vielleicht vorm Leben.''
Das ist dann immer seine Antwort. Vorm Leben. Vor dem, was kommt, vor dem, was war, vor dem, was ist.
Ich bin heute raus gegangen. Nur zum Lidl, um einzukaufen. Toast, Tomaten, Kekse, Kaugummis. Milch. Einmal Laktosefrei und einmal Sojamilch mit Vanillegeschmack. Man gönnt sich ja sonst nichts. Für nur Neunundneunzig Cent.
Ich hab manchmal Angst davor, raus zu gehen. Die Sicherheit der Wohnung zu verlassen und mich auf die Straßen Berlins zu trauen. Und dann sag ich mir, ey, Mann, komm runter, sag ich mir, das ist Prenz'lberg, no big deal. Und er lacht und sagt: ''Alter, du willst studieren. Du willst leben. Wie soll das gehen, wenn du dich nicht mal traust, nach draußen zu gehen. Wenn du dich nicht traust, die Leute vom BAföG einfach mal anzurufen, ob der Antrag schon durch ist. Wenn du erst wartest, bis die Stimmen im Treppenhaus verklungen sind, bevor du die Wohnung verlässt. Du könntest ja dem Vermieter begegnen. Wenn du dich nicht traust, einfach das Fahrrad zu nehmen um nach Gesundbrunnen zu fahren, weil du immer wieder daran denken musst, wie du als Achtjähriger auf die Nase gefallen bist.'' Es war ein Tag bevor meinem neunten Geburtstag. Wir wollten ins Schwimmbad gehen, ging aber nicht, weil ich mir den Zahn ausgeschlagen habe. Samt Wurzel. Ich glaub, es hat ziemlich wehgetan.
''Und wie soll das funktionieren, mit dem Leben,'' sagt er, ''wenn du anstatt dich nach Jobs um zu gucken ewig irgendwelchen Mist auf Netflix anschaust, dann zwischendurch auf den Balkon gehst, um eine zu rauchen und dann darüber nachdenkst, die Zigarette auf deinem Arm auszudrücken. Aber du tust es nicht, denn selbst das traust du dich nicht.''
Ich denke, ich hab Angst. Und wahrscheinlich ja, wirklich vor dem Leben. Das ist bis jetzt furchtbar anstrengend.
Meine Therapeutin hat mich letztens gefragt, ob ich überhaupt eine richtige Pubertät hatte. So mit Eltern anschreien, Türen knallen, das ganze Paket. Und ich sage, na klar, ich mein, ich hab meine Eltern nie angeschrien, das hätt' ich mich gar nicht getraut, und Türen hab ich auch nicht geknallt, aber ich hab ganz schön rumgezickt. Und ich hab nicht mit meinen Eltern gesprochen. Das zählt doch.
Wahrscheinlich ging meine Pubertät einfach den dunkleren Pfad entlang. Sie wissen schon. Immer die Klinge eines Cuttermessers im Rucksack, in ein Taschentuch gewickelt. Nur schwarze Klamotten, nachts solche Dinge googlen, wie die Blue whale challenge oder Suicide Room. Ich find' das ziemlich pubertär. Oder auch nicht.
Ich frag mich manchmal, wo ich jetzt wäre, wenn alles anders gelaufen wäre. Wenn ich zum Beispiel im richtigen Körper geboren wäre. Wenn ich als Kind angefangen hätte, Judo oder Karate oder so etwas zu machen. Wenn ich meine Mathehausaufgaben in der sechsten Klasse gemacht hätte.
Es hätte mir hunderte von Therapiestunden und Gängen zu Ämtern und anstrengenden Emails erspart. Es hätte mich vielleicht vor einer ziemlich ungesunden Einstellung vor Essen bewahrt. Ich hätte vielleicht eine Empfehlung für das Gymnasium bekommen und wäre vielleicht nicht davon überzeugt gewesen, dass ich das Abi niemals schaffe. Vielleicht wäre es mir möglich, einfach in die Bar, die zwei Straßen weiter von meiner Wohnung liegt, zu spazieren und zu fragen, ob sie einen Job frei haben.
Und ich mein, ich hab mein Abi geschafft. Sogar in Mathe. Ich war ein Jahr im Ausland. Ich hab eine Handvoll an Freunden, die mir unheimlich lieb sind. Ich fang bald mein Studium an und hoffentlich auch die Hormontherapie.
Und wovor hab ich Angst?
''Vielleicht doch nicht vorm Leben,'' sagt er. ''Vielleicht hast du doch einfach Angst vor dir selbst.
Du hast Angst, mit fremden Menschen zu sprechen, weil du nicht weißt, was sie von dir halten. Weil du denkst, sie finden dich anstrengend oder nervtötend oder naiv oder zu anhänglich. Weil es dir schwerfällt, Freundschaften zu schließen, weil du irgendwann, wenn du jemanden sehr schätzt, ihm zu viel erzählst. Du erzählst ihm zu viel, aber eigentlich nie das, was du erzählen solltest. Und wenn du es tust, bereust du es im nächsten Moment und am nächsten Morgen sagst du, ey, Mann, sorry, das war nur, weißt' schon, mein üblicher Blödsinn.
Du hast Angst, dass du die Zigarette irgendwann doch auf deinem Arm ausdrückst. Und du musst an die Klinge denken, die immer noch in ein Taschentuch gewickelt in deinem Zimmer liegt, die du bis nach Berlin mitgenommen hast und du hast Angst davor, dass es irgendwann doch wie eine wirkliche Möglichkeit erscheint. Angst davor, was ist, wenn du nicht schlafen kannst.''
Und er hat Recht.
Wäre dies ein Text, den ich für meine Mutter schreibe, würde jetzt irgendetwas hoffnungsvolles kommen. Etwas in die Richtung von, ich weiß, dass ich das schaffen kann oder so etwas.
Aber ich schreibe nicht für meine Mutter. Und Fakt ist, dass ich einfach nur müde bin.
Er lacht und deutet auf die Packung Tabak, die vor mir auf dem Küchentisch liegt.
''Und? Noch ein Versuch?''