Mitglied
- Beitritt
- 21.04.2014
- Beiträge
- 581
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 11
Ich erschoss den Dalmatiner, weil mein Vater das so wollte
Die Vorfreude starb an diesem Ort. Es stank nach Kot. Jaulen und Gebell waren ohrenbetäubend. Ich hielt den Kopf gesenkt, stierte auf den Schlamm, der an den Stiefeln meines Vaters klebte. Er gab mir einen Ruck und als ich zu ihm aufschaute, fummelte er einen Flachmann aus der Jacke, nahm einen Schluck und strich sich mit Zeigefinger und Daumen den gewichsten Oberlippenbart. „Such dir einen aus“, sagte er.
Aber ich konnte mir keinen aussuchen, das ging nicht. Aussuchen hieße, die anderen nicht auszusuchen.
„Wie wär‘s mit dem?“ Das Metallfläschchen richtete er auf eine der vergitterten Zellen weiter hinten. „Wie in dem Film, den du so gern hast.“
Zuhause führte er den Hund in den Zwinger. Dem schien es nichts auszumachen, der kannte das schon, er wedelte sogar. Es war lange keiner dort gewesen. Die Streben waren rostrot zerfressen. Mein Vater jagte nicht mehr mit Hunden, er ging überhaupt nicht mehr zur Jagd. Er fuhr mich auch nicht mehr zur Schule – nichts.
„Schau mal, ob du was zu Fressen findest. Aber nicht rauslassen!“
Ich fand schrumpelige Wiener im Kühlschrank und fädelte sie dem Hund durchs Metallgitter entgegen. Als der heranstürmte und mir eine Reihe vergilbter Zähne präsentierte, ließ ich das Würstchen fallen. Mein Vater stand am Küchenfenster und schaute zu, eine Dose Bier in Händen.
Am Abend steckte er sich eine Kippe an, schloss den Waffenschrank auf und drückte mir die Repetierbüchse in die Hand. „Geladen“, sagte er. Asche fiel auf den Boden. Das Linoleum war übersät mit Fußspuren. Die Rauten der Stiefel überdeckten alles andere. „Komm!“ Und als wir vorm Zwinger standen, wusste ich, dass wir den Hund nicht mit zur Jagd nehmen würden, weil der vermutlich zu alt und gar nicht ausgebildet war. Und weil mein Vater noch nie mit mir zur Jagd gegangen war. Und als er Toby, so hatte ich den Hund schon innerlich getauft gehabt, und als er Toby am Halsband nach draußen führte, anleinte, die Leine an das rostzerfressene Gitter band, und zwei, drei Schritte zurücktaumelte, zwinkerte mir mein Vater zu. Vielleicht stach ihn Rauch in den Augen, aber dann nickte er mir zu. Also legte ich an, entsicherte und drückte ab.
Mein Gesicht zog sich zusammen, vielleicht weil Toby wieder gewedelt hatte. Eine einzige Träne schaffte es nach draußen und doch fühlte ich mich schlecht, weil die eine es eben geschafft hatte, weil mein Vater das gesehen haben musste. Aber als ich seine Hand auf der Schulter spürte, den angenehmen Druck, nicht den unangenehmen, wusste ich, dass alles gut war. Da erinnerte ich mich daran, dass auch er das Gesicht verzogen hatte, nachdem meine Mutter gestorben war.
Ich stellte keine Frage. War so ein Gefühl, dass man das nicht machen durfte, dass da die Antwort schon drinsteckte. Ich erschoss den Dalmatiner, weil mein Vater das so gewollt hatte.
Und als er dann anfing, wieder in den Wald zu gehen, und mich Jahre später mitnahm, mittlerweile das eigene Gewehr geschultert, war mir das alles in den Sinn gekommen.
Mein Vater hob die Hand, dann das Gewehr, kein Laut war zu hören. Ich schaute durchs Zielfernrohr. Beim Ansprechen dachte ich erst an einen Knopfer, änderte aber mein Urteil. Ein Bockkitz eher. Die Decke lackschwarz. Ich hatte noch nie ein schwarzes gesehen. Es rupfte an verkrüppelten Laubtrieben, hielt inne und glotzte mich an. Die Kiefer mahlten. Keine Ricke weit und breit. Ich rechnete mit dem Schuss, hörte aber nichts. Schwenkte den Lauf nach rechts und nahm meinen Vater ins Visier. Auch er sah zu mir rüber, den Drilling jetzt abgesenkt. Der Schnauzer war grau geworden, das Haupthaar licht und die Haltung nicht mehr so straff. Mein Vater nickte und ich verstand. Also nahm ich das Kitz ins Fadenkreuz; schön breit stand es da. Dann eine Bewegung. Die Ricke trat wie aus dem Nichts ins nahe Umfeld. Natürlich war meinem Vater das nicht entgangen. Ich wusste, er wartete nur auf mich. Aber ich wollte oder konnte nicht, brach ab und sah wieder zu ihm. Er hatte mir den Rücken zugewandt, die Waffe im Anschlag. Und ich folgte einem Impuls. Übergab für einen Moment das Kommando an jemanden, von dem ich gar nicht wusste, dass er mit an Bord war. Einem blinden Passagier, einem Zocker, der lauernd aus dem Schatten sprang und ein Programm ablaufen ließ: Zielen, entsichern, Abzug nach vorn drücken. Das ging ganz schnell. Jeden Moment konnte mein Vater sich wieder umdrehen oder abdrücken oder was auch immer. Und dann war es auch schon vorbei. Die Kontrolle war zurück. Ich nahm den Finger vom Abzug, schwenkte herum und suchte gewachsenen Boden, einen Kugelfang.
Der Schuss brachte Leben in den Wald. Es raschelte und knackte und Vögel stoben davon.
„Passiert“, meinte er. „Vielleicht haben wir morgen Glück.“
Dass ich nur noch ins Auto wollte, weg von hier, wieder in die City, nicht hier bei ihm, sagte ich nicht gleich. Erst nachdem er mir ein weiteres Bier entgegenstreckte.
„Wolltest doch das ganze Wochenende bleiben.“ Er nahm einen Schluck und strich sich Schaum aus dem Bart. „Hast noch nie daneben geschossen.“ Dann zündete er sich eine Kippe an, hustete Schleim nach oben und schluckte.
Die Wohnung war kalt und leer und mein Kokon. Ich drehte die Heizung auf, ließ mich vom Flimmerkasten berieseln und leerte eine halbe Flasche Wodka.
Es war immer dasselbe. Alle paar Monate schwor ich mir aufs Neue, nie wieder bei ihm aufzutauchen. Weil ich immer Gefahr lief, die Kontrolle zu verlieren. Weil da Dinge hochkamen, die nicht hochkommen sollten. Weil ich dann an meinen eigenen Jungen denken musste, an die Scheidung, weil ich es nicht auf die Rolle bekam. Weil ich mich fragte, ob der Apfel nicht weit vom Stamm fallen konnte. Weil ich mir sicher war, dass er es konnte, und weil ich mir sicher war, dass er es nicht konnte. Und wenn ich an meine Mutter dachte, flogen schon mal Flaschen oder es rannen mir Tränen die Wangen runter. Das kam mir dann unmännlich vor. Und ich wusste, wie gestört der Gedanke war.
Nie hatte er mich besucht, seit Miriam und Bastian ausgezogen waren. Das hatte er zuvor auch nur deswegen, weil meine Exfrau so beharrlich gewesen war. Als mein Vater die Hand auf Bastians Köpfchen gelegt hatte, war ich in die Küche geeilt, hatte ein Bier aus dem Kühlschrank genommen, weil seine Hände anderes anpatschen sollten, nur nicht den Kopf meines Sohnes.
Und jetzt stand er einfach so da, nahm den Filzhut ab und blickte direkt in die Kamera vor dem Eingang.
Wir unterhielten uns über den FC, er glaubte nicht an Aufstieg. Er rauchte und ich versuchte erst gar nicht, ihn zu ermuntern, das doch bitte auf dem Balkon zu erledigen. Wir unterhielten uns, als wär’s das Normalste auf der Welt, als wenn wir das schon immer gemacht hätten, als wäre so ein Vater-und-Sohn-Ding am Laufen. Und als er dann auf Grenzzäune und Afghanistan zu sprechen kam, reichte es mir. Keine Zeit. Termine. Verabredungen. Ich begleitete ihn Richtung Tür. Dass ich mich gefreut hätte, sagte ich. Und als er schon beinahe im Treppenhaus stand, blieb er stehen. „Zeit hab‘ ich auch nicht.“ Und da fiel mir auf, wie hohlwangig und zerbrechlich er aussah, wie grau nicht nur der Bart und die spärlichen Flusen waren, die er wieder unter dem Filzhut verborgen hatte. Und schon hielt er sich am Geländer fest und nahm aufrecht die ersten Stufen. Dass ich anrufe, sagte ich. Er drehte sich nicht um, hob die Hand zum Gruß und verschwand aus meinem Blickfeld.
„Red mit mir!“ Miriam hatte die Hände in die Hüften gestemmt. „O ich vergaß! Schweigen ist Trumpf, stimmt’s? Damit stichst du alles.“ Sie hatte mit dem Finger auf mich gezielt. „Ich sag dir mal was, wenn du irgendwann in der Kiste liegst, hast du die ganze Hand voll Trümpfen – und was bringt‘s dann noch?“
Sie hatte recht gehabt, dennoch war es nicht anders gegangen. Ich hatte erst alle ausspielen müssen, bevor ich so weit gewesen war.
Aber man musste nicht gleich das Zeitliche segnen, man konnte einfach den Zeitpunkt verpassen. Das Resultat war dasselbe.
Ich saß im Auto und würgte Nelly Furtado im Radio ab. Fischte nach Fragen, die wie ein Schwarm Piranhas unter der Oberfläche schwammen. „Mama ist gestürzt, ja? Die Treppe runter?“ Ich lachte auf. „Wolltest du sie wirklich ins Krankenhaus fahren? Wieso dann der Koffer? Wieso hast du sie angeschrien? Warum hat sie Rotz und Wasser geheult?“ Ich klammerte mich ans Lenkrad wie an ein Rettungsseil. Draußen flog die Landschaft an mir vorüber. Der Volvo fuhr die kurvenreiche Landstraße wie von selbst. „Ein Hirsch ist euch vors Auto gesprungen? Ausgerechnet!“ Dann hämmerte ich zu jedem Wort aufs Armaturenbrett. „Hast du getrunken?“
Im Wald schmierten kahle Buchen und krüppelige Kiefern übers Beifahrerfenster. „Du gewalttätiges, versoffenes Arschloch! Scheiß-Vater! Scheiß-Ehemann!“ Ich trat das Gaspedal durch und sah wieder nach vorn. „Dann das mit Toby. Wie kann man ... All deinen Dreck hast du auf mir abgeladen. So was von schwach. Zerfressen.“ Als der Hänger vor mir auftauchte, stieg ich in die Eisen und brüllte die Windschutzscheibe an: „Du hast sie umgebracht!“
Der Lastwagen fuhr keine sechzig, ich fluchte, überholen ging nicht. Nach dem Runterschalten sammelte ich mich wieder. Feilte an den Worten, die für ihn bestimmt waren.
Das Haus sah aus wie immer. Unten der Bruchstein, die Veranda, auf der meine Mutter gerne ins Tal gesehen hatte. Oben der Holzständeraufbau mit Balkon auf breiter Front. Die Zeit hatte das Gebälk abgeschliffen und grau werden lassen. Ich parkte neben dem Gerätehaus, wo früher der Zwinger gestanden hatte, stieg die Treppe hoch und klingelte. Nichts. Sein Toyota stand vorm Haus, also ging ich zur Rückseite und klaubte einen losen Stein hervor. Der Schlüssel lag wie immer in der Kerbe.
Im Haus roch es nach Erbrochenem und Kot und faulem Obst. Die Badezimmertür stand offen, gefunden hatte ich ihn aber oben im Bett. In braunbeschmutzten Unterhosen, ein Bein hing herunter. Die Wollsocke hatte ein Loch, der große Zeh lugte hervor und tupfte auf den Boden. Die Atmung rasselte, Antwort gab mein Vater nicht, da konnte ich rütteln, rufen, machen, was ich wollte. Stabile Seitenlage, dachte ich, und als der Notarzt mit Gefolge endlich eintraf, stellte man mir Fragen, die ich nicht beantworten konnte. Dann schickten sie mich weg. Und als sie ohrenbetäubend davonbrausten, saß ich noch immer auf der Veranda, wo meine Mutter so gerne gesessen hatte, und blickte wie sie ins Tal hinunter, folgte dem blau blinkenden Rettungswagen, bis er außer Sicht war.
Die Ärzte hatten meinen Vater ausgeweidet, jeden Muskel entnommen und alle Fettzellen verbrannt. Anschließend hatten sie ihn wieder mit Haut bezogen, wie man eine Leinwand über ein Holzgerüst spannt.
Der Sauerstoffschlauch pfiff in der spitzgewordenen Nase, der Monitor piepste. Mein Vater wollte etwas sagen. Ich wusste, dass jetzt die Zeit zum Reden gekommen war. Das Frage-Antwort-Spiel. Das Finale. Er öffnete den Mund und ich hörte, wie Luft daraus entwich. Mehr nicht. Ein, zwei Wochen ging das so – dreizehn Tage.
Schließlich stand ich am Grab – Miriam und Bastian und der Pfaffe, dessen Worten ich nicht folgen konnte. Es war gut, dass sie mich nicht mit ihm alleine ließen. Eine Frau mit weißem Dutt, drei, vier Reihen weiter hinten steckte eine Kerze an und stellte sie vor ein Holzkreuz. Den Namen darauf konnte ich nicht lesen. Sie sah kurz zu uns herüber. Sonst war da kein Mensch. Wen hätte die Zeitungsannonce schon interessiert? Ich wusste es nicht und meine Schläfen pochten.
Miriams Stärke imponierte mir. Sie hatte meinen Vater nie gemocht, ihn weniger gekannt als ich, und es war nicht alles rund gelaufen nach der Scheidung. Das war noch immer so. Dennoch stand sie hier, mit Bastian, und ich wusste von diesem Augenblick an, dass wir Frieden finden konnten. Und als Erde von der Schaufel ins Loch prasselte, wo tiefer unten meine Mutter lag, brach ein Wall in mir, der von Jungenhänden erbaut worden war und es über die Jahre zum Hoover-Damm gebracht hatte.
Wir sind dann Essen gegangen. Bastian hatte in seinem Piratenteller die Pommes hin- und hergeschoben. Ich wollte wissen, wie es ihren Eltern ging. Wir redeten über die Arbeit. Und meinen Sohn fragte ich nach Freunden und den Kindergarten aus.
Nachdem mir der Kellner die Kreditkarte zurückgebracht hatte, setzte ich mich in die Hocke, legte Bastian die Hand auf die Schulter und blickte ihm in die Augen. „Gehen wir zwei am Samstag in den Zoo?“ Und er nickte.