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Ich, der Vampir
Ich, der Vampir
Ich lag in meinem Bett, hatte den Mund halb offen. Das Blut tropfte mir von den Zähnen. Ich spürte, wie es in einem Rinnsal auf die Unterlippe lief, auf mein Kinn, den Hals hinunter und schließlich von meinem schwarzen Schlafanzug aufgefangen wurde. Ich öffnete meine Augen ein Stück weit und schloss den Mund. Ich schmeckte nun das Blut auf meiner Zunge, Eisen, es hatte einen widerlichen Geschmack. Was war geschehen?
Ich drehte meinen Kopf nach links, konnte nun meine Mutter sehen. Sie sah mich mit angstvoll aufgerissenen Augen an. Eine Träne nach der anderen kullerte ihr die Wangen hinunter. Sie war hysterisch, aber an jenem Tag noch hysterischer denn je. Ich richtete mich auf und lief ins Badezimmer, an meiner Mutter vorbei, ohne auch nur ein Wort zu sagen.
...
Ich betrachtete mich im Spiegel, der über dem weißen Waschbecken hing. Ich zitterte am ganzen Leib, ich war schockiert. Was ging hier vor sich? Die Panik stieg in mir auf, bis sie ihren höchsten Punkt erreicht hatte. Ich sah, wie nun auch mir eine Träne die rechte Wange hinunter lief. Ich war entsetzt von meinem Spiegelbild. Ich zeigte ihm die Zähne, als wollte ich sagen: „Geh mir aus den Augen, du ekelerregendes, hässliches Monster!“ Auf meinen spitzen Zähnen waren noch Blutreste zu sehen. Ich musste sie beseitigen, was würden die anderen Leute von mir denken? Es sah grausam aus! Zitternd schnappte ich mir deshalb meine Zahnbürste und quetschte eine ordentliche Portion Zahnpasta aus der Tube. Der Geschmack der Zahnpasta ekelte mich an. Das Blut hatte mir besser geschmeckt. Aber warum? Tausende Fragen schossen mir durch den Kopf. Ich war voller Verzweiflung, hatte Angst wie noch nie zuvor!
Ich lief hinunter durchs Wohnzimmer und vor die Küche. Dort saß meine Mutter und zum Ersten Mal an diesem Morgen fragte ich mich: „Wo ist eigentlich mein kleiner Bruder Nicki?“ Plötzlich überkam mich ein Schaudern, ein eigenartiges Gefühl: Wo war er? Ich machte mir richtig Sorgen. Eine Antwort darauf wusste ich allerdings nicht, aber ich dachte mir, dass meine Mutter mir vielleicht mehr sagen könnte. Mit dem Kopf in den Händen saß sie da am Küchentisch, schluchzend. Man merkte ihr an, dass sie nicht reden wollte. Aber warum? Was war mit ihr los? Was war geschehen? Sie hatte den ganzen Morgen noch nichts gesagt. Ich wollte sie nicht ansprechen, sie hatte schon so einiges getan, als man sie früher angesprochen hatte, wenn sie allein sein wollte. Ich musste es selber heraus finden.
Also ging ich zurück nach oben, in Nickis Zimmer. Dort lag er, als hätte ich es erwartet. Auf seinem kleinen Bett lag er. Er hatte die Augen zu und an seinem Hals bemerkte ich zwei Löcher. Sie sahen so aus, als hätte ihn jemand gebissen. Aber wer? Er schien zu schlafen, ich befürchtete aber, dass er tot sei. Ich liebte Nicki über alles. Aber ich verspürte keine Traurigkeit. Ich weinte nicht, ich hatte bei meinem Anblick geweint, aber nicht, als ich meinen Bruder, den ich über alles liebte, so vorfand. Ich hatte eine Ahnung, was vorging, aber ich wollte nicht weiter darüber nachdenken. Das Zittern, das mich die ganze Zeit begleitet hatte, hörte urplötzlich auf. Meine Panik war verschwunden und plötzlich überkam mich eine unbeschreibliche Müdigkeit. Ich ging in mein Zimmer und legte mich in mein Bett. Es war ein traumloser Tag.
...
Ich hatte den Mund halb offen. Das Blut tropfte mir von den Zähnen. Ich spürte, wie es in einem Rinnsal auf die Unterlippe lief, auf mein Kinn, den Hals hinunter und schließlich von meinem schwarzen Schlafanzug, den ich immer noch anhatte, aufgefangen wurde. Ich schloss den Mund. Das Blut schmeckte köstlich, im Gegensatz zu gestern. So gut, dass ich den starken Wunsch empfand, noch mehr zu trinken. Es war Mitternacht. Ich war zu einem richtigen Nachtgespenst geworden, morgens todmüde und abends munter wie ein kleines Kind. Ich stand auf, behielt meinen Schlafanzug gleich an. Ich lief auch nicht ins Badezimmer, ich wusste nun wie ich aussehe und wie ich war, meine Zähne wollte ich nicht putzen, aus Angst, ich würde dann den köstlichen Geschmack des Blutes verlieren.
Ich ging nach unten. Vor der Wohnzimmertür blieb ich stehen. Im Wohnzimmer saß jemand auf dem Sofa. Von hinten sah er aus wie Nicki. Oder war es Nicki? Im Inneren regte sich bei mir etwas. War es etwa Freude? Ich konnte es nicht glauben, dass ich überhaupt noch schöne Gefühle empfinden konnte. Der Junge drehte sich um. Es war Nicki. Er kam zu mir und schaute mich an. Mein Herz, dass eiskalt geworden war, machte trotz allem einen riesigen Sprung und schien sich für einen Augenblick lang aufzuwärmen. Ein hämisches Grinsen lag auf Nickis Mund und seine Augen glitzerten. Ich starrte ihn an und bemerkte abermals die zwei Löcher an seinem Hals. Sie waren also immer noch da. Ich wusste ja nun, woher sie stammten. Nicki war der erste, der zu Wort kam, aber alles was er sagte war nur: „Nun sind es wir beide, du und ich, beide von der gleichen Sorte.“ Ich wusste was er meinte und zu Zweit würde das neue Leben richtig Spaß machen, soweit es überhaupt Spaß machen konnte.
Ich sah hinüber zur Küche. Dort lag meine Mutter, auf dem Boden, die Augen zu. Ich lief zu ihr, mein Bruder kam mir nach, ohne ein Wort zu sagen. Sie war nicht tot, dass wusste ich. Sie schlug die Augen auf, langsam. Sie blickte zu mir und meinem Bruder hinüber. „Ich habe Hunger“ , sagte sie. Sie hatte Hunger. Auch ich hatte Hunger. Nach Blut. Das Verlangen wuchs stetig.
Meine Mutter stand auf und wir drei, Nicki, meine Mutter und ich, gingen in unseren Schlafanzügen nach draußen, suchten nach einem Opfer, suchten nach Blut, dass wir bald bekommen würden. "Bald werden wir zu viert sein, es dauert nicht mehr lange!"