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Ich brauche frischen Wind.
Deutschland, 20. Mai, 5:17 Uhr.
Ich kann nicht schlafen.
Ich wälze mich nur hin und her und Tom klaut mir ständig die Decke.
Eigentlich hatte ich gedacht, mit dem Ende der halb verhassten, halb belächelten Schulzeit würde ich zur Langschläferin mutieren und vor 11 Uhr nicht einmal die Augen öffnen.
Falsch gedacht.
Denn nun richte ich mich stöhnend auf. Zu einer Zeit, zu der nicht mal der Wecker geklingelt hat, als ich noch im Abi-Stress war!
Fluchend klettere ich aus dem Bett.
Ein Fehler, wie ich eine Sekunde später feststellen muss.
Mein Kreislauf ist eindeutig im Keller – die kleinen, mir wohlbekannten Punkte tanzen nur so vor meinen Augen.
Torkelnd schaffe ich es bis zum Dachfenster.
Mit einem kräftigen Ruck öffne ich es und eine Böe frischen Windes haucht mir entgegen. Frischer Wind.
Etwas, das ich in meinem Leben unbedingt brauche.
Es ist diese innere Unruhe, die mir den Schlaf raubt.
Diese innere Unruhe, die ich verspüre, seitdem ich mein Abschlusszeugnis in der Hand gehalten habe.
In diesem Augenblick habe ich mich nämlich gefühlt, wie eine langjährige, gute Mitarbeiterin, die plötzlich auf der Straße steht.
Mit all ihren Fähigkeiten, ihren Werten und ihrem Wissen, mit dem sie nun nichts mehr anzufangen weiß.
Zwölf Jahre Anstrengung für diesen Moment.
Für diesen Moment, in dem mir plötzlich erschreckend klar wird, dass ich nicht weiß, wie es mit mir weitergeht.
In dem ich nicht mehr weiß, was ich eigentlich je vom Leben wollte.
In dem mich mein 1,2er Schnitt mit trauriger Leere anstatt mit unbändiger Freude erfüllt.
Zwölf Jahre Arbeit für diesen Schnitt, der mir zwar viele Türen öffnet, jedoch keinerlei Auskunft darüber gibt, was ich eigentlich will.
Zwölf Jahre Arbeit um zu erkennen, dass das Resultat meiner Arbeit rein gar nichts über mich aussagt.
Nicht einmal, ob ich wirklich intelligent bin, fleißig war oder einfach nur Glück hatte.
Ich habe mich nicht selbst gefunden.
Ich kenne mich selbst gar nicht.
Ich weiß, was mich interessiert – aber es ist so viel, dass ich nicht weiß, worauf ich mich konzentrieren soll.
Es ist alles so schwierig.
Alles verschwimmt vor meinen Augen, so unklar ist plötzlich alles.
Dieser Moment hat alles verändert.
Meine Familie macht mir Druck.
Ich bin den ständigen Blicken meiner Mutter ausgesetzt, die jeden Tag darüber jammert, dass ich mich noch nicht um einen Studienplatz bemüht habe. Den Blicken meines Vaters, die voller Hoffnung auf mir ruhen und mir vermitteln, dass ich mit meinem Leben mehr anfangen soll, als er, weil er nie die Möglichkeiten hatte und ich sie ja habe.
Den Blicken meiner sechzehnjährigen Schwester, voller Bewunderung und Neid zugleich, die von mir erwartet, dass ich mit meinen Möglichkeiten wahre Wunder vollbringen werde.
Das alles bringt mich nicht weiter, es drängt mich nur in eine Ecke.
Und ich verstaube in dieser Ecke.
Seit diesem Moment in der Aula, als ich oben auf dem Podest stand, das Abschlusszeugnis in der Hand, meine Familie in der ersten Reihe, knipsend, als wäre ich ein Hollywoodstar in meinem Second-Hand Ballkleid – seit diesem Moment ist alles anders.
Rückblende.
Ich stehe mit meinem Sektglas in der Hand neben Malena, die aufgeregt schnattert. „Und dann hat er mit tatsächlich diesen Praktikumsplatz in der Kanzlei angeboten! Obwohl ich ja nicht mal ein Semester Jura studiert habe!“
Von der ganzen Aufregung (und vielleicht von ein, zwei Gläschen zu viel) hat sie ganz rote Wangen.
Doch ihre hellblauen Augen strahlen vor Freude.
Herr Eckner, unser Sowi-Lehrer, mit dem sie schon seit einer halben Stunde Konversation betreibt, nickt anerkennend und klopft ihr väterlich auf die Schulter.
Uh, ich bin neidisch.
Oder auch nicht.
Diese speckige Hand auf meiner Schulter brauch ich echt nicht.
Doch da wendet sich mein geliebter Lehrer plötzlich mir zu.
„Und Sie, Fräulein Hellenstein?“
FRÄULEIN Hellenstein?
In welchem Jahrhundert leben wir denn?
Herr Eckner schaut mich erwartungsvoll an.
Da fällt mir auf, dass ich gar nicht weiß, was er eigentlich gefragt hat.
Peinlich!
Malena stößt mich in die Seite und zischt mir irgendetwas zu, aber auf der Bühne beginnt nun das Orchester zu spielen, sodass ich nichts verstehe.
„Was?“, frage ich laut, um die Möchtegern-Musikanten zu übertönen.
„Er fragt dich, was du nach dem Abi machst“, zischt Malena in der doppelten Lautstärke zurück.
Okay, jetzt hat es wohl auch der letzte Idiot mitbekommen.
„Achso, ja…“ stammle ich, peinlich berührt. „Was ich nach dem Abi mache…“
„Ja. An welcher Uni haben Sie sich denn eingeschrieben? Oder bevorzugen Sie doch eher eine Ausbildung?“ Er missversteht mein Schweigen als Aufforderung weiter nachzufragen. „Vielleicht versuchen Sie es auch erst einmal mit einem Praktikum? Manche Praktika werden ja heutzutage sogar schon bezahlt...“
Dann läuft mir ein eiskalter Schauer über den Rücken.
Ich hab doch keine Ahnung, was ich sagen soll.
Mein Kopf ist plötzlich so leer wie ein Klassenzimmer am Sonntagmorgen.
Ich kann jetzt nicht lügen, wenn Malena neben mir steht und genau weiß, dass ich noch keinen Plan habe.
Was sag ich denn jetzt?
Mir wird schwindelig.
Bestimmt bin ich schon ganz blass, denn sowohl Herr Eckner als auch Malena starren mich etwas besorgt an.
In meiner Hilflosigkeit weiß ich keinen anderen Ausweg.
Ich taumle ein wenig hin und her und lege mir eine Hand auf die Stirn. Mit zusammengekniffenen Augen erkenne ich, dass bei den Umstehenden schon die ersten Alarmglocken schrillen.
Na gut, denke ich.
Und in der Hoffnung, dass mich jemand auffängt, lasse ich mich ganz langsam fallen.
Darin hab ich Übung.
Und Tom hat darin Übung, mich aufzufangen.
„Scheiße, Mina, was machst du denn nur?“
Etwas Nasses klatscht auf meine Stirn, wahrscheinlich ein in Mineralwasser getränktes Stofftaschentuch.
Hoffentlich kein benutztes, denke ich und schrecke bei diesem Gedanken hoch, sodass das Tuch von meiner Stirn auf mein blaues Seidenkleid fällt.
Es ist Second-Hand, ja – aber dennoch echte Seide!
Scheiße, meine Mutter wird mich umbringen. Wasserflecken auf Seide sind ein echtes No-Go, der sogenannte Worst Case.
Also schnell den Drang nach frischer Luft äußern und mit Tom im Schlepptau nach draußen flüchten.
Hier bin ich auch vor Herrn Eckner und seinen bekloppten Fragen sicher.
Na gut, so bekloppt waren die leider auch nicht.
Ganz im Gegenteil.
Unruhig stapfe ich auf meinen hohen Schuhen hin und her.
Tom steckt sich eine Zigarette an.
Obwohl dieser Qualm sich nicht mit meiner Lunge verträgt, schnorre ich mir auch eine.
Und Überraschung: Es kommt zu einem mittelschweren Hustenanfall.
„Ach, Mina“, sagt Tom und klopft mir auf den Rücken.
‚Ach, Mina‘, äffe ich ihn in Gedanken nach.
„Ich wollte nur ein bisschen Abwechslung in mein Leben bringen“, keuche ich. Und das ist nicht mal gelogen.
Ich schnipse meine angefangene Zigarette auf den Boden und lasse sie dort verglühen.
Ich beginne, wieder rastlos auf meinen wirklich viel zu hohen Schuhen über den dunklen Schulparkplatz zu wandern. Meine Schritte hallen laut von den Wänden der Turnhalle wider.
Mein Adrenalinspiegel scheint mit jeder Aktivität, die ich unternehme, um gegen meine innere Unruhe vorzugehen, noch mehr zu steigen.
„Wie schnell kannst du mit diesen krassen Schuhen eigentlich laufen?“, fragt Tom, der im leichten Joggingtempo plötzlich neben mir auftaucht. „Die Frage ist wohl eher, wie schnell ich ohne sie laufen kann.“ Ich streife die Plateau-Schuhe ab, nehme sie in eine Hand und halte damit auch den Saum des Kleides hoch.
„Wer zuerst bei deinem Auto ist“, rufe ich und sprinte wie eine Bekloppte los. Tom reagiert zwar verständlicherweise ein wenig zeitverzögert, hat mich jedoch dank meiner intelligenten Schuhwahl noch vor seinem Auto eingeholt und gewinnt.
In gespielter Enttäuschung lehne ich mich gegen den Wagen und verdecke mein Gesicht mit den Händen. Das Blut in meinen Wangen pulsiert. Meine bloßen Füße schmerzen vom Sprint über den Asphalt. Und mein Adrenalinspiegel scheint immer noch unnatürlich hoch zu sein.
Ich ziehe Tom, der immer näher kommt, zu mir heran, umschließe mit meinen Händen sein Gesicht und beginne ihn – noch immer an seinen kleinen silbernen Toyota gelehnt – hemmungslos zu küssen.
Ich spüre, wie sehr es ihm gefällt.
Wie ihm das den ganzen Abend gefehlt hat.
Er lässt seine Hände von meinem Rücken zu meinen Hüften gleiten.
Er beginnt mein Kleid hochzuziehen.
Als er schon bei meinem Bauch angekommen ist, löse ich mich von ihm, ziehe hastig mein Kleid hinunter und flüstere: „Nicht hier“.
Der enttäuschte Ausdruck auf seinem Gesicht ist mir egal.
Es ist nicht das, womit ich meine Rastlosigkeit im Zaum halten kann.
Ich suche nach etwas Anderem. Nach etwas Neuem.
Und ich stürme in die festliche Turnhalle zurück – mit unnatürlich hohem Adrenalinspiegel.
An diesem Abend habe ich es nicht gefunden.
Wieder in der Gegenwart. Am Dachfenster.
Von draußen vernehme ich ein fröhliches Pfeifen.
Ich strecke meinen Kopf ein wenig weiter aus dem Fenster und beobachte, wie Herr Ludwigs von gegenüber die Zeitung aus dem Briefkasten zieht, sich neben seine Katze Mischa auf die Gartenbank setzt und fröhlich pfeifend die neuesten Meldungen des Tages studiert.
Ich sehe, wie zufrieden er ist.
Wie zufrieden er in seiner Routine ist.
Und das zerreißt mich förmlich.
Ich will keine Routine, nie wieder!
Ich will etwas anderes, das weiß ich genau.
Ich weiß nur nicht, was.
Nur, dass es auf keinen Fall Routine ist.
Da ist so ein Ziehen in mir - ich verzehre mich nach etwas - da ist eine ungestillte Sehnsucht in mir. Etwas, das in mir seinen Platz sucht.
Etwas, das weit reisen muss, um diesen Platz zu finden.
Die Erkenntnis durchzuckt mich wie ein Blitz.
Ich muss weg hier!
Weit weg.
Weg von allem.
Und vor allem: von allen.
„Hey“, sagt Tom leise hinter mir und schlingt mir die Arme um die Taille. „Was machst du denn hier am Fenster? Ist dir wieder schwindelig?“ Ich nicke nur und denke, dass dieser Schwindel heilsam ist.
„Komm wieder ins Bett“, sagt er sanft und will mich mitziehen, doch ich bleibe stehen, als wäre ich zu einer Salzsäule erstarrt.
„Ist alles in Ordnung?“, fragt er, jetzt ein wenig besorgt.
„Ja“, sage ich und weiß, dass das alles andere als wahr ist.
„Ich komme gleich, ich brauche noch ein bisschen frische Luft“, sage ich und weiß, dass ich auf dem schnellsten Weg verschwinden werde, sobald er wieder eingeschlafen ist.
Als ich unsere Haustür aufschließe, ist im Haus alles still und dunkel, nur der Anrufbeantworter blinkt unaufhörlich rot und beleuchtet den kleinen Tisch, auf dem unser Telefon steht. Im roten Licht erkenne ich einen Umschlag, auf den dick und fett mit Edding mein Name gekritzelt ist.
Ich öffne ihn. Ziehe das schmale Blatt heraus. Falte es auseinander.
Und lese. Einmal. Noch einmal.
Liebe Mina,
wenn du das hier liest, sind wir gerade auf dem Weg zum Flughafen. Wir fliegen wieder nach Italien. Zunächst werden wir ein paar Tage in Siena verbringen und danach mit einem gemieteten Wohnmobil ein paar Wochen durch die Toskana fahren. Hiermit laden wir dich herzlich ein, uns zu begleiten. Deine Eltern sind der Meinung, du solltest mit dem Zug fahren – die Anreise ist nämlich das Einzige, was du selbst bezahlen musst und dein Vater hat mal wieder die günstigste Zugverbindung ausgetüftelt.
Wir hoffen sehr, dass du nachkommst.
Deine Eltern waren recht zuversichtlich, sie haben eine gewisse Orientierungslosigkeit deinerseits angedeutet.
Ich bin mir sicher, dass du hier Zeit und Ruhe findest, zu träumen und zu dir zu finden.
Auf bald und fühl dich gedrückt,
Deine Lieblingstante Andrea.
Ich starre auf den Brief in meiner Hand und frage mich, seit wann meine Familie Gedanken lesen kann.
Italien, 22. Mai, 18:12 Uhr.
Da bin ich.
Endlich.
Wurde aber auch Zeit.
Ein paar Minuten länger und ich wäre in diesem elenden Zug erstickt.
Warum sollte man auch die Klimaanlange reparieren bei 40°C Raumtemperatur?
Die Bahn hat das nicht nötig!
Und jetzt steh ich hier am Bahnhof, bin um drei Abschiedsgeschenke reicher und um eine Erkenntnis weiser.
Die milde Sommerluft streift mich mit einem warmen Hauch und umschmeichelt mein Gesicht.
Mit einer Hand schirme ich mein Gesicht ab, weil die Sonne schon sehr tief steht und suche mit meinen Augen den Bahnhof ab.
Die großen Begrüßungszeremonien sind versiegt und die kleinen Touristengrüppchen haben sich verlaufen. Ich stehe beinahe alleine am Bahnsteig – bis auf einen älteren Herrn, der sich angeregt mit dem Kioskbesitzer unterhält und dabei wohl einen Witz nach dem anderen reißt, denn der Kioskmann kommt aus dem Lachen gar nicht mehr heraus.
Ich lausche ein wenig ihrem Gespräch. Und bereue es, dass ich nicht Mamas Italienisch-Lernprogramm auf meinen iPod geladen hab. Als ich gerade frustriert aufgebe, auch nur ansatzweise etwas verstehen zu wollen, erspähe ich einen schmächtigen, schwarzhaarigen Jungen, der direkt auf mich zukommt.
„Bist du, eh, Mina?“
Ich nicke verwirrt.
„Ich bin Enrico. Deine Tante schickt mich.“
„Aha“, sage ich und sehe mich nach einer versteckten Kamera um.
Doch da langt der schlaksige Junge auch schon nach meiner Reisetasche und ich muss ihm wohl oder übel folgen, wenn ich meine Klamotten jemals wiedersehen will.
Er läuft eilig – und ohne Schuhe, wie ich jetzt feststelle – über die verdreckten Steinplatten. Als mir meine Flip Flops beinahe die Füße durchtrennen, streife ich sie rasch ab und bereue es im nächsten Moment auch schon wieder.
Au! Die Steinplatten sind so heiß, dass ich schmerzerfüllt quieke.
Erstaunt dreht sich der kleine Italiener um.
Und grinst unverschämt, als er sieht, wie verzweifelt ich versuche, wieder in meine Flip Flops zu schlüpfen.
Den Gipfel der Dreistigkeit erreicht er, als er sich ohne ein Wort wieder nach vorne dreht und in einem viel zu hohen Tempo die Unterführung hinunterjagt.
Erst, als ich an der Treppe ankomme, merke ich, wie steil sie ist.
Verdammt, ich hab Höhenangst!
„Ey, Scusi oder Scusa oder wie das heißt – bleib sofort stehen!“, brülle ich hinunter, aber als Antwort kommt nur ein Echo.
Da mir kaum eine andere Wahl bleibt, beginne ich ganz langsam und Schritt für Schritt die Todestreppe hinunter zu watscheln. Ich muss wirklich aussehen wie die letzte Idiotin, denn unten, dort unten, ganz unten, am Fuß der Treppe - wo ich jetzt gerade nicht hinschauen möchte, weil ich sonst einen Schwindelanfall riskieren würde, der mich mein Gleichgewicht kosten könnte - höre ich jemanden laut und fröhlich lachen. Oh Mann, dieser unverschämte kleine Italiener ist anscheinend noch nicht im Stimmbruch, denke ich gehässig. Aber nein, das ist doch…?
„Andrea!“, kreische ich und lasse mich voller Begeisterung von der vorletzten Treppenstufe in ihre Arme fallen.
Zum Glück kann meine Lieblingstante so Einiges ab.
„Mina, meine kleine Ente!“, ruft sie und drückt mich fest an sich, um mich gleich wieder ein Stück von ihr wegzuhalten, nur um den Standardspruch „Du bist aber groß geworden!“ zum Besten zu geben – dabei bin ich schon seit zwei Jahren nicht mehr gewachsen.
„So und nun darf ich dir Enrico vorstellen? Das ist Enrico, der Sohn unserer italienischen Bekannten hier. Er wollte dich mal kennenlernen.“
Mit einem frechen Grinsen hält der kleine Schönling meine Reisetasche hoch.
Wahrscheinlich, um mir seine Stärke zu demonstrieren, denn ich habe meinen Laptop, zwei Flaschen Wein als Gastgeschenk und Schuhe zu jedem Anlass eingepackt.
Gerade als ich ihm die Tasche kopfschüttelnd abnehmen will, zerreißt ein lautes Hupen die Stille.
„Kommt Kinder, Martin wartet schon! Auf geht’s ins Abenteuer!“, ruft Andrea vergnügt und erklimmt auch schon die Treppe. Enrico hechtet im Rekordtempo hinauf und ich…
Ich bleibe einen kurzen Augenblick dort unten in der Unterführung stehen. Atme einmal tief durch. Bevor ich mich Schritt für Schritt die Treppe hinauf, Richtung Licht und Stimmen taste. Schritt für Schritt ins Abenteuer.
Als wir im Wohnmobil sitzen, könnte ich meinen Onkel für seine Musikauswahl killen.
Italienische Schnulzen in Dauerschleife.
Ich könnte kotzen.
Schnell stopfe ich mir Kopfhörer ins Ohr und versuche mit „Waves“ die Dauerbeschallung auszublenden.
Enrico hält mir eine Tüte mit Pistazien unter die Nase.
Ich schüttle genervt den Kopf.
Und sehe, dass sein Mund sich bewegt und vermutlich Worte formt, doch die Musik ist so laut, dass ich ihn nicht hören kann.
Also belasse ich es dabei und drehe meinen Kopf zum Fenster.
Lasse Felder, Olivenbäume und bescheidene Bauernhäuser an mir vorbeiziehen.
Der rote Abendhimmel taucht alles in ein mystisches Licht und ich beginne mir philosophische Fragen zu stellen.
Wer bin ich?
Und – was – verdammt nochmal - mach ich hier eigentlich?
Ich fahre mit meiner verrückten Patentante, ihrem chronisch gut gelaunten Ehemann und einem italienischen Schleimbolzen durch die toskanische Einöde und will mich selbst finden?
So im Nachhinein klingt das wie das Drehbuch für den nächsten Kino-Flop.
Ein Kino-Flop mit mir als Hauptdarstellerin, Regisseurin und Drehbuchautorin in einem.
‚Ach Mina‘, höre ich Toms Stimme in meinem Kopf.
Ja, ach Mina. Das kannst du laut sagen, Tom.
Da wird mir ein Kopfhörer aus dem Ohr gerissen und ehe ich reagieren kann, spüre ich auch schon etwas Nasses an meinem Ohr.
„Enrico!“, kreische ich und im nächsten Moment kugelt sich meine schmächtige und irrsinnig witzige italienische Klette vor Lachen.
„Das hast du jetzt nicht wirklich gemacht?“, keife ich. Doch hat er. Dieser kleine italienische Bastard hat tatsächlich mein Ohr angeleckt!
Als mein böser Blick schon fast minutenlang auf ihm haftet, kriegt er sich endlich ein vor Lachen.
„Ich wollten nur mal, eh, versuchen, ob dir das gefällt“, sagt er und prustet wieder los.
Oha, da hab ich es ja mit einer richtigen Spaßkanone zutun.
Eins weiß ich jetzt schon: Mein Schlafplatz wird möglichst weit weg von seinem sein.
Meine Tante dreht sich auf dem Beifahrersitz um und strahlt uns an. „Ihr habt richtig Spaß dahinten, oder?“, fragt sie fröhlich in die Runde.
Oh ja, unheimlich, denke ich, mache aber nur das Daumenhoch-Zeichen, damit mir kein bissiger Kommentar über die Lippen kommt.
Ich mag meine Tante schließlich und kratzbürstig bin ich oft genug.
Das Lächeln meiner Tante wird breiter.
„Ihr scheint euch so gut zu verstehen, Mina, dann macht es dir doch bestimmt nichts aus, mit Enrico das Hochbett zu teilen? Dann könnt ihr vorm Einschlafen noch ein bisschen quatschen.“
Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen, denke ich, aber ich ziehe meine Mundwinkel brav in die Länge und nicke.
„Kinder“, ruft mein Onkel jetzt durch das Wohnmobil. „Wir erreichen gleich den Strand. Habt ihr Lust auf einen kleinen Abendspaziergang am Meer?“
Ohne Enrico? Klar!
Der kennt den Strand doch schon, der muss nicht mit.
Doch als ich ihm einen hoffnungsvollen Seitenblick zuwerfe, nickt er meinem Onkel eifrig durch den Rückspiegel zu.
Mist!
Das Erste, was ich vernehme, als wir aus dem Wohnmobil treten, ist das laute Zirpen der Grillen um mich herum.
Ehrlich gesagt finde ich es ziemlich gruselig, die ganze Zeit etwas zu hören, das ich gar nicht sehen kann.
Folglich sind Grillen nicht so meine Lieblingstiere.
Vor allem seit ich weiß, wie groß diese Viecher werden können, leide ich in ihrer Gegenwart unter Angstzuständen.
Aber jetzt versuche ich mich zusammenzureißen und mich auf das Geräusch der Wellen zu konzentrieren, das mit jedem Schritt intensiver wird.
Ich sauge den Geruch von trockener Erde und salziger Luft ein und watschle mit meinen Flip Flops über den mit Kiefernadeln bedeckten Boden.
Enrico, der kontinuierlich mit mir Schritt hält, gibt nicht den geringsten Laut von sich, obwohl die Nadeln unerträglich in seine Fußsohlen bohren müssen.
Gerade beginne ich Mitleid für ihn zu hegen, da erreichen wir den weichen Sandstrand und er stupst mich in die Seite und ruft: „Komm Mina, Wettrennen!“ Ich will ihm gerade einen Vogel zeigen, da rennt er auch schon los. Um nicht wie eine Bescheuerte hinter ihm her zu gaffen, entschließe ich mich im Bruchteil einer Sekunde, das Gleiche zu tun (noch bescheuerter). Aus einiger Entfernung registriere ich, dass Enrico sich wohl in den Sand hat fallen lassen und im nächsten Moment stolpere ich auch schon über sein ausgestrecktes Bein.
„Au!“, ich lande mit einem lauten Platsch auf dem Bauch.
Die tollpatschige Ente Mina hat soeben bei ihren ersten Flugversuchen eine Bruchlandung hingelegt.
Da spüre ich Hände an meinem Rücken, die mich zur Seite drehen, mein Kinn umfassen - und dann beugt sich Enrico zu mir herunter und küsst mich.
Seine Lippen schmecken salzig und ich studiere ihre Kontur, weil ich seit zwei Jahren niemand anderen mehr als Tom geküsst habe und ich seine Konturen auswendig kenne. Enricos nicht. Enricos sind neu. Gewölbter. Irgendwie fester. Aufregender.
Seine Bartstoppeln kitzeln an meiner Oberlippe.
Seine Hand fährt durch mein Haar und streift dann meine Wange. Ganz sanft.
Und dann schlage ich die Hand weg. Weg von meiner Wange. Entziehe meine Lippen seinen Lippen. Schiebe mich mit den aufgestützten Armen von ihm weg. Schaue in sein Gesicht, seine großen Augen, die kurz traurig dreinblicken, sein Mund, der offensteht. Nur ganz kurz schaut er mich so an. Dann breitet sich wieder das schelmische Grinsen auf seinem Gesicht aus, wie um den vorangegangenen Moment ins Lächerliche zu ziehen.
Dann steht er auf. Und geht.
Bella Italia.
Dass ich nicht lache.
Das kann doch alles nicht wahr sein.
Jetzt liege ich hier im stickigen Wohnmobil, auf einem komfortablen Hochbett mit einer gefühlten Breite von 30 cm und so ganz ohne Absicherung vor einem Fall in die dunklen Tiefen unter mir, in denen Enrico laut schnarchend lauert.
Trotz unzähliger Schweißausbrüche klammere ich mich an meine Bettdecke – genauso, wie sich ein kleines Kind sich an seine Mutter klammert, sobald der Arzt die Spritze zückt.
Eine Mücke umkreist mein Ohr und ich befürchte, dass sich das surrende Ding zum Landeanflug auf ‚Mina Airport‘ vorbereitet.
Ich werde noch wahnsinnig.
Ich will schlafen, verdammt nochmal!
Drei Minuten später gebe ich es auf, wickle mich unnötigerweise in meine Decke und tapse unbeholfen durchs Wohnmobil. Als ich mich langsam an der kleinen Küchenzeile entlang taste, schaffe ich es doch tatsächlich einen Kochtopf scheppernd zu Boden zu werfen. Aus dem hinteren Teil des Wohnwagens kommt ein verschlafenes „Was zum…?“ und noch während ich am Boden hocke und vergeblich nach dem Topf taste, leuchtet mir plötzlich der dünne Lichtstrahl einer Taschenlampe ins Gesicht.
„Mina, was machst du denn da?“, fragt meine Lieblingstante halb belustigt, halb besorgt.
„Ich kann nicht schlafen“, sage ich, als ob das eine Erklärung für mein ungeschicktes Verhalten wäre.
„Dann geht’s dir wohl nicht anders als mir. Komm, lass uns ein bisschen nach draußen gehen und die Sterne zählen.“
„Wie in alten Zeiten?“, frage ich lächelnd und erinnere mich zurück an mein fünfjähriges Ich, das Andrea „Weißt du wie viel Sternlein stehen?“ vorsingt und eine Pringles-Packung als Mikrofon benutzt.
„Ach, du warst schon ‘ne Süße“, sagt Andrea und zieht mich mühelos vom Boden hoch.
Kaum aufgerichtet, überfällt mich ein Schwindel und ich schwanke gefährlich weit nach links, wo die Kante eines Regals nur darauf wartet, mich aufzufangen.
Zum Glück reagiert meine Tante immer geistesgegenwärtig,
fängt mich auf,
hakt mich unter,
führt mich nach draußen.
Dort darf ich mich auf Martins riesiger Sonnenliege ausstrecken (die mir gemütlicher erscheint als das Hochbett) und Andrea deckt mich sorgfältig zu, fast liebevoller als meine Mutter das je getan hat. Dann setzt sie sich in den Liegestuhl neben mir und betrachtet schweigend den tiefschwarzen, mit leuchtenden Sternen gesprenkelten Himmel.
„Darf ich dich mal was fragen?“, sagt sie plötzlich.
„Klar.“ Ich gähne. Und schließe für einen kurzen Moment die Augen.
„Hast du Heimweh?“
Ertappt öffne ich die Augen.
„Ein bisschen“, gebe ich kleinlaut zu, wobei ich in dieser Hinsicht zu einer maßlosen Untertreibung neige.
Ich habe regelrechte Sehnsucht nach meiner Familie, nach Tom, nach meinem eigenen Bett. Sogar nach geregelten Strukturen und Tagesabläufen.
Einfach nach allem, das ich erst einmal hinter mir lassen wollte.
„Möchtest du darüber reden?“
Meine Augen beginnen zu brennen.
„Ich weiß nicht.“
Eine Träne bildet sich in meinem Augenwinkel.
„Hey, ich bin doch deine Lieblingstante. Deine persönliche Kummerkastentante.“
Die Träne bahnt sich ihren Weg über meine Wange.
„Du bist viel zu nett zu mir, Andrea…“
Sage ich mit zitternder Stimme und nun lassen sich die Tränen nicht mehr aufhalten.
„Ach, Mina…“ Bei diesen Worten muss ich besonders laut schluchzen. Toms Worte. Tom. Mein Tom.
Tausend Kilometer. Weit. Weg.
„Mein ganzes Leben steht irgendwie auf wackligen Beinen und ich habe das Gefühl, jeden Tag ein bisschen mehr zu fallen, Andrea. Ich kralle mich an der Hoffnung fest, aber ich muss ständig Angst vorm endgültigen Absturz haben. Nichts bringe ich zu Ende, ich hab bisher nicht einmal eine Bewerbung losgeschickt. Meine Eltern sind total verzweifelt.
Aber ich kann einfach nichts tun, ich bin wie gelähmt.“
Ich weiß nicht mehr genau, ob meine Worte Sinn ergeben, das mitfühlende Gesicht meiner Lieblingstante verschwimmt vor meinen Augen.
Ich bin wohl doch noch ziemlich kindlich, denke ich – und lasse mich einfach treiben.
Auf dem Rücken im marineblauen Mittelmeer.
Die Sonne wie eine Wärmeflasche auf meinem Bauch.
Ich schließe die Augen und denke an die Nacht zurück.
An die Nacht, in der ich Andrea alle meine Sorgen gebeichtet habe.
An die Nacht, in der ich geheult habe wie ein Kleinkind.
An die Nacht, in der ich kapiert hab, dass ich so nicht weiterkomme.
Ich habe endlich eingesehen, dass… Platsch!
Eine ganze Wasserfontäne spritzt mir ins Gesicht und Salzwasser läuft mir in die Nase. Ich huste und pruste und blinzle hektisch, rudere mit den Armen, um das Gleichgewicht zu halten, spüre die scharfkantigen Muscheln am Meeresgrund, als ich versuche Halt zu gewinnen.
„Enrico, du kleiner Bastard“, kreische ich augenreibend, höre aber nur sein sich entfernendes Lachen.
Na warte.
Als ich mit rotgeränderten, brennenden Augen und einer unbändigen Wut im Bauch durch das flache Wasser Richtung Strand wate, male ich mir schon die schönsten Horrorszenarien aus, die Enrico durchleben wird, wenn ich ihn in die Finger kriege.
„Mina!“ Meine Tante schirmt mit der flachen Hand ihre Augen vor der Sonne ab und blickt suchend den Strand hinunter.
„Huhu, hier bin ich“, rufe ich und winke.
„Schnell, schnell, raus aus dem Wasser! Jetzt geht’s los nach Siena, Enricos Eltern laden uns alle ein!“
Hm.
Eindeutig schlechte Bedingungen für eine ausgiebige Folter.
Nach einer schnellen Dusche wähle ich bewusst ein kaum getragenes knielanges Sommerkleid aus, das Malena liebt, weil sie das bunte Blumenmuster so niedlich findet und Tom hasst, weil man davon - Zitat - „Augenkrebs bekommt“.
Der Kauf dieses Kleides war bloß eine Trotzreaktion auf Toms Worte, der gleich gesagt hat, er würde sich von mir trennen, wenn dieses geblümte Kleidungsstück mein Eigen würde.
Tja.
Jungs und ihre leeren Drohungen.
Jedenfalls bin ich voller Hoffnung, dass ich mit diesem Kleidchen sogar bei Enricos italienischer Mama gut ankommen werde, schließlich ist es weder zu kurz, noch lässt es tief blicken – und ein bisschen spießig wirkt es auch.
Ich werde den Inbegriff eines braven, zurückhaltenden deutschen Mädchens darstellen.
So werden mich alle niedlich finden, aber durch meine offenkundige Reserviertheit werden sich die Leute scheuen, mich mit italienisch gefärbtem Deutsch in Grund und Boden zu reden.
Ich bin ein Genie.
Mamma Mia.
Diese deutschen Mädchen und ihre Freizügigkeit!
Wäre ich mit 18 Jahren so rumgelaufen, hätte meine Mutter wohl umgehend für meinen vorzeitigen Tod gesorgt.
So ein kurzes Kleidchen! Und natürlich muss alles zur Geltung gebracht werden, was da ist - wie sonst sollten diese hellhäutigen Mädchen auch die Blicke der italienischen Männer auf sich ziehen?
Dass Andrea sie so mit hergebracht hat. Aber die Arme konnte sich wahrscheinlich mal wieder nicht durchsetzen. Viel zu nachgiebig ist sie, die Gute.
Und meinem Enrico scheint es auch noch zu gefallen. Er schaut sie an, als existierten seine zahlreichen Sommerromanzen gar nicht (was erstaunlich ist, denn fünf verschiedene Mädchen, die man parallel trifft sind allein aufgrund des Stressfaktors, der daraus resultiert, nicht so leicht zu vergessen). Sein Blick haftet nur auf ihr und – was noch erstaunlicher ist – in Minas Fall reicht sein anerkennendes Pfeifen und seine ungeteilte Aufmerksamkeit nicht aus, um irgendeine Art von Interesse bei ihr zu wecken.
Ich stelle eine Schüssel mit dampfenden Spaghetti auf den Tisch, während Enrico ihr die duftende Soße aus Eigelb und Speck anbietet.
Die einzige Gefühlsregung, die ich bei Andreas verzogener Nichte ausmachen kann, ist eine starke Abneigung gegen meine köstliche Carbonara-Soße, die eigentlich eine willkommene Abwechslung zur typischen Bolognese-Sauce und Spaghetti Napoli darstellen sollte.
Mit einem skeptischen Blick und einer abwehrenden Handbewegung lehnt sie meine perfekt abgestimmte Kreation ab.
„Nein, danke, ich bin Vegetarierin.“
So, so, das verwöhnte Fräulein ist sich also auch noch zu fein, Fleisch zu essen.
Enrico wirft mir einen flehenden Blick zu – das Mädchen scheint es ihm wirklich angetan zu haben.
Tja, der Flegel sollte auch mal lernen, dass man im Leben nicht alles haben kann!
Mit einem giftigen Blick nehme ich Enrico den Topf aus der Hand und fülle Mina demonstrativ eine volle Kelle mit Soße auf ihre mickrige Portion Spaghetti.
„Probier es doch erst einmal“, fordere ich sie mit einem breiten Lächeln auf.
Den drohenden Unterton hat sie anscheinend wahrgenommen, denn ihr Gesicht verfärbt sich rot und sie weiß eindeutig nicht, wie sie reagieren soll.
„Nee, Francesca, lass mal“, mischt sich Andrea ein. „Das Kind isst kein Fleisch, das steht fest. Da kann man sie nicht zwingen. Vielleicht hast du ja noch ein wenig Pesto oder Oliven da, sowas kann Mina sich ja unter die Spaghetti mischen.“
Die kleine Göre kann sich nicht einmal selbst rechtfertigen.
Nun gut.
Ich nicke und verschwinde brummelnd in der Küche.
Enricos Mutter knallt ein Glas mit eingelegten Artischocken vor mir auf die Tischplatte.
Na lecker.
Etwas Abstoßenderes hat sie also nicht gefunden?
Aber da ich mit einer solchen Situation schon gerechnet habe, ist mein ausgefeilter Fluchtplan bereits entwickelt.
Teil eins. Vortäuschen. Ich halte mir den Bauch, sage mit einem gequälten Lächeln: „Danke“. Dann nehme ich die Hand von meinem Bauch und drehe damit den Verschluss des Artischocken-Glases auf, fische mit meiner Gabel drei triefende Widerwärtigkeiten heraus und lasse sie auf meinen Teller flutschen. Es muss zumindest so aussehen, als ob ich Interesse daran hätte.
Es folgt Teil zwei. Mit einer Gabel das glänzende Öl aus der Artischocke quetschen (Ekelfaktor hoch hundert!) und mit einem Messer einen Bruchteil des triefenden Etwas abtrennen – zum „Probieren“.
Auf die Gabel damit und zum Mund führen.
Das Gesicht schmerzerfüllt verziehen.
Eine Hand schnellt wieder zum Bauch.
„Mina, was ist los?“
Besorgtes Gemurmel.
Und los, Teil drei.
„Mein Bauch, ich…“ Das Gesicht in eine schmerzverzerrte Grimasse verwandeln.
„Ich… Ich hab so starke Bauchschmerzen. Ich muss mich kurz hinlegen.“
Martin wirft mir einen besorgten Blick zu und Andrea streicht mütterlich die Haare aus meiner Stirn.
„Dann leg dich doch kurz hin. Sie darf sich doch bestimmt hier irgendwo kurz ausstrecken, Francesca?“
Na super.
Jetzt haftet schon wieder der skeptische Blick von Enricos Mutter auf mir.
Was hab ich der eigentlich getan?
Dann sagt sie irgendetwas auf Italienisch zu Enrico, das ich mir trotz mangelnder Sprachkenntnisse anhand des dominanten Befehlstons zusammenreimen kann.
Bestimmt sowas wie „Bring die verwöhnte Göre auf ihr Zimmer“ oder so.
Als ich die Augen öffne, fällt ein Lichtstrahl so auf mein Gesicht, dass ich die Augen sofort wieder zusammenkneifen muss. Ich schirme mit einer Hand meinen Blick ab und schaue mich um.
Ein schmales Zimmer, ein abgetretener Holzboden, terrakottafarbene Wände, Möbel aus dunklem Holz.
Vor dem winzigen Fenster hängen Rollläden aus Bast, durch deren breite Lücken die Sonne in voller Helligkeit hindurch scheint.
Diese Dinger waren ja wirklich eine äußerst sinnvolle Investition, denke ich gerade, als die Tür aufgerissen wird und niemand anderes als… Enrico seinen Kopf ins Zimmer streckt.
Gerade als ich ihn genervt wieder hinausschicken möchte, fällt mir ein, dass es sich ja hier um sein Zimmer handelt.
„Geht’s dir wieder besser ein bisschen?“, fragt er mit seinem hervorstechenden italienischen Akzent.
„Ja eigentlich schon.“ …bis du hier reingeplatzt bist, füge ich in Gedanken hinzu.
„Kommst du wieder an Tische? Wir esse Tiramisu und trinke Kaffee.“
„Nein“, sage ich und richte mich auf dem Bett auf, beobachte mich im Spiegel am wuchtigen Kleiderschrank gegenüber und ziehe eine Grimasse. Streiche meine Haare aus der Stirn. Befeuchte mit der Zunge meine Lippen. Ziehe mein Kleid ein wenig hoch.
Schwinge mich vom Bett.
Schwindelanfall.
Ich lerne auch nichts dazu.
Jetzt nur nicht umkippen.
Augen schließen – und tief durchatmen.
Goldfarbene Punkte vor tiefem Schwarz.
Dann nur noch schwarz.
Augen aufschlagen.
Und die Welt ist wieder bunt.
Enricos verdutztes Gesicht bringt mich beinahe zum Lachen.
„Du… Was hatten du?“, fragt er völlig verwirrt.
„Nicht wichtig“, sage ich grinsend und komme langsam auf ihn zu.
18 Jahre alt ist er alt und hat noch immer den Charme eines kleinen, selbstverliebten Jungen.
Total nervig. Und verdammt süß.
Ich merke, wie auch er sich immer weiter auf mich zu bewegt.
Im letzten Moment quetsche ich mich an ihm vorbei, durch die Tür, in den dunklen engen Flur, schnappe mir meine Handtasche von der Garderobe und öffne die Wohnungstür.
Abgestandene Luft und ein deftiger Knoblauchgeruch schlagen mir entgegen.
Ich durchquere den Hausflur. Altes Holz knarzt unter meinen Schritten. Das Geräusch scheint mit jedem Schritt lauter zu werden.
Endlich erreiche ich die Haustür.
Ich drücke die schwere Eichentür auf und begebe mich in die gestaute Hitze der engen Gasse.
In eiligem Watschelgang stolpere ich über das Kopfsteinpflaster, biege bei jeder Gelegenheit ab, bis ich die Orientierung vollkommen verliere.
Ich versuche die Angstgefühle zu unterdrücken.
Schließlich habe ich überhaupt keine Lust, wieder dorthin zurückzukehren.
Ich habe ein ganz anderes Ziel.
Und mein Ziel heißt: Überall hin, nur nicht zurück.
Wir wissen nicht, was passiert wäre.
Wenn ich etwas Vegetarisches gekocht hätte.
Wenn ich ihr die Couch im anliegenden Wohnzimmer angeboten hätte und nicht Enricos Zimmer am anderen Ende der Wohnung.
Wenn die Haustür immer noch geklemmt hätte.
Wenn Enrico nicht umgeknickt wäre, als er ihr nachlaufen wollte.
Was wäre gewesen, wenn…?
Stellen wir uns nicht andauernd diese Frage?
Entwickeln wir im Kopf nicht ständig Antworten auf diese Frage?
Aber was hilft es?
Mina ist weg.
Verschwunden.
Seit acht Tagen.
Andrea ist am Ende.
Martin schläft nicht mehr.
Enrico streift ziellos durch die Stadt – immer noch Hoffnung in seinen Augen, wenn er in der Morgendämmerung loszieht. Immer wieder grenzenlose Enttäuschung in seinen Augen, wenn er in der Abenddämmerung heimkehrt.
Ich liege mit offenen Augen auf dem Rücken und starre an die Decke.
Höre das Ticken des Weckers, zähle mit.
Schließe die Augen, kann die Dunkelheit aber nicht ertragen.
Knipse die Nachttischlampe an.
Lese.
Bis meine Augen zufallen und das Buch aus meinen Händen rutscht.
Mit einem lauten Knall auf den Holzboden fällt.
Und ich aufwache.
Schlimm ist nicht, dass wir nicht wissen, was passiert wäre.
Schlimm ist, dass wir nicht wissen, was passiert ist.