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Ich bin nicht ich
Ich bin nicht ich
Molly geht zum Kindergarten, alleine. Sie braucht sehr lange für den Weg, denn sie geht sehr langsam. Den Blick richtet sie starr auf den Boden. Ein anderes kleines Mädchen geht an Molly vorbei, ruft "Hallo Molly" Molly schreckt auf, sie scheint verwirrt. Das andere Mädchen guckt sie verwundert an und lacht dann fröhlich, als habe Molly etwas unglaublich Lustiges gesagt oder getan. "Ich krieg dich schon dazu, etwas zu sagen", droht es grinsend. Molly starrt das Mädchen entsetzt an "Nein!" bricht es schliesslich heiser aus ihr hervor, "nein!",, dann rennt sie los. Das andere Mädchen weiss nicht, was tun. Es wollte doch nur spielen. Es dachte, Molly würde auch mal gerne spielen statt immer alleine zu sein.
Molly kommt im Kindergarten an. KiGa sagt Mami dazu. Mami denkt, Molly liebt den KiGa. Die Kindergartenleiterin kommt auf Molly zu "Hallo Molly", sagt sie freundlich. Molly antwortet nicht, sie guckt zu Boden und schweigt, sie wirkt irgendwie verwirrt. "Molly, du sollst die Leute, die dich grüssen, zurückgrüssen und sie dabei angucken!", ermahnt die Leiterin sie. Molly starrt weiterhin auf den Boden und schweigt. 'Ach, wenn sie bloss nicht so verstockt wäre. Und wenn sie nicht immer alles kaputtmachen würde. Ich habe weiss Gott genug andere Sorgen' denkt die Leiterin, seufzt tief und geht weg.
Das Kind zieht seine Schuhe und seinen Mantel aus und die Hausschuhe an und geht in den Kindergarten. Da sind viele Stühle und auf jedem steht ein Name. Alle sitzen schon, es ist nur noch ein Stuhl und auf dem steht in grossen bunten Lettern MOLLY. Er denkt, bestimmt sitze diese Molly auf seinem Stuhl. Er geht zur Leiterin und zieht sie am Ärmel "Wo ist denn mein Stuhl?" fragt er verwirrt. "Da drüben steht dein Stuhl. Was fragst Du denn wieder für Sachen, Molly?" Er will erklären, dass das nicht sein Stuhl ist und dass er doch gar nicht Molly heisst, aber die Leiterin hat sich schon einem kleinen blonden Mädchen zugewendet, das sich scheinbar die Hände aufgeschürft hat. Wieder zieht er die Leiterin am Ärmel "Das ist wirklich nicht mein Stuhl", die Leiterin seufzt laut und ärgerlich, "Aber natürlich ist es deiner, es steht sogar dein Name drauf. Setz dich endlich" Tim geht hin und setzt sich auf den Stuhl, auf Mollys Stuhl zwischen all den Mädchen. Abwesend singt er die Lieder mit und denkt dabei an das schöne Bild, das er nachher malen will. Endlich! Fertig gesungen. Er springt auf und stolpert, weil er nichts sieht. Er streicht sich die Haare aus dem Gesicht und... Moment mal! Ein Pferdeschwanz, Haarspangen... Wie ein Mädchen!
Jetzt ist Alissa da. Und Alissa ist sehr sehr wütend und auch sehr stark, denn sie ist schon zehn. Alissa beginnt zu schreien und auf den Tisch einzuschlagen, sie wirft die Buntstifte wild durch die Gegend und schmiert dem Kind neben ihr eine. Die Kindergärtnerin rennt zur ihr hin, packt sie und bringt sie mühsam nach draussen. "Es reicht, Molly! Genug ist genug!" schimpft sie.
Und schon ist Molly da. Molly guckt zu Boden, weint, entschuldigt sich. Sie weiss nicht, für was sie sich entschuldigt.
Zwanzig Jahre danach sitzt Andrea im Zimmer eines Psychiaters. "Hallo", sagt er freundlich "haben sie den Weg gut gefunden?" Andrea denkt fieberhaft nach, was sie antworten soll. Sie weiss ja nicht einmal, wo sie ist. Verunsichert beginnt sie, "I... ich..." als ihr Mary zuflüstert "Lass mich mal ran", Andrea geht bereitwillig und Mary strahlt den Psychiater an "habe den Weg gut gefunden, ja" führt sie Andreas Satz zu Ende und strahlt ihn an. Der Psychiater vermutet etwas. "Wie heissen sie?", fragt er. Mary ist verwirrt. Wieso weiss der das nicht? IHREN Namen will er ja wohl nicht wissen. "M... olly" antwortet sie zögernd. "Steht das nicht auf dem blöden Überweisungsblatt oder so?". "Doch, das steht da", erklärt Herr Miller ruhig, "ich wollte bloss sichergehen, dass SIE Molly sind. Sind Sie das?", fragt er noch einmal nach. "Natürlich" sagt Mary angriffig. "Na gut, Molly, mögen Sie Stofftiere?" sagt er, während er ihr einen Plüschlöwen entgegen hält. "Oh ja, i mak Plüstiere sehr geane. Allo Löwe" - "Hallo. Ich bin der Löwe Leo. Und wer bist Du?" - "Ik pin Tanja."
Irgendwie bringt Mary alle nach Hause, wo Molly essen macht. Wieder einmal ist einfach eine Stunde Zeit verschwunden. Das passiert so oft in letzter Zeit. Aber sie ist wohl nicht die Einzige. Die Leute sagen ja auch immer "Hach, wie schnell die Zeit vergeht" und so. Sie sucht den Schlüssel, um die Wohnungstür abzuschliessen, dabei findet sie in ihrer Handtasche einen Zettel. "Hallo Molly. Ich weiss, das ist alles sehr verwirrend für Sie, aber ich denke, ich kenne Ihr Problem und es ist sehr wichtig, dass Sie Hilfe kriegen. Bitte kommen sie am Montag, dem 14.02. um siebzehn Uhr wieder. Falls etwas ist, haben Sie hier meine Telefonnummer: 0011/222'11'33. Liebe Grüsse, Jack Miller."
Die Stimmen sind auf einmal wieder da. Lauthals streiten sie sich, ob sie wieder zu Herrn Miller gehen wollen oder nicht. Irgendeine entscheidet schliesslich, wieder hinzugehen. Molly will nicht hin, sie kennt den nicht mal... Die Stimmen reden auf die Stimme, die entschieden hat ein. Es ist unerträglich. Molly stürzt auf die weisse Wand zu und schlägt ihren Kopf dagegen, bis alles ruhig ist.
Nach drei Wochen findet sich Molly plötzlich im Zimmer von Jack Miller wieder. Sie weiss wieder mal weder das Datum, noch wo sie ist. Auch nicht, wie sie hierher kam. Erstmal abwarten also. "Hallo", sagt Jack Miller, "Sie waren noch nie hier, oder? Ich bin Jack Miller, ich bin Psychiater. Nennen Sie mich ruhig Jack. Wie heissen sie?" Molly ist verwirrt. Offensichtlich war sie schon einmal da. Aber bestimmt hatte er sich schon vorgestellt und sie sich auch. Wie vergesslich sie doch ist!
Jack reisst sie abrupt aus ihren Gedanken "Ich finde es sehr wichtig, dass Sie weiterhin zu mir kommen. Meiner Meinung nach haben sie eine multiple Persönlichkeitsstörung. Der neuere Ausdruck ist allerdings dissoziative Identitätsstörung. Wissen Sie, was das ist?" Molly guckt sich hilflos um und gibt dann zu, dass sie keine Ahnung hat. Bestimmt hält er sie jetzt für dumm! Aber Jack erklärt ihr ruhig: "MPS ist eine psychische Krankheit, die meist dadurch entsteht, dass ein Kind in den ersten sieben Lebensjahren wiederholt traumatisiert wurde. Da es dies alles nicht alleine aushalten kann, beginnt es, sich wegzudenken und schafft so andere Personen. Leider entstehen dabei nicht nur hilfreiche Personen, sondern auch aggressive, wütende Personen. Menschen mit MPS hören oft Stimmen, die andere nicht hören oder haben grosse Zeitlücken; sie treffen Leute, die sie noch nie gesehen haben, die sie aber zu kennen scheinen. Das ist so, weil in der Zeit eine andere Person da war und die Zeit mit irgendetwas verbracht hat oder die Leute kennen gelernt hat. Sie können es mir ruhig erzählen, wenn Ihnen solche Dinge passieren. Wenn Sie das alles noch nicht verstehen, macht das nichts. Ich bin da, um Ihnen dabei zu helfen"
Molly antwortet nichts, deshalb beginnt Jack wieder zu reden, "Vielleicht könnten Sie auf nächste Woche aufschreiben, was Ihnen zu den Namen Tanja und Alissa einfällt. Ob Sie je so angesprochen wurden oder ob Sie die Namen mit etwas verbinden. Wenn es zu viel ist, brauchen Sie es nicht zu tun." Molly verspricht, das aufzuschreiben, während sie darüber nachdenkt, was das Ganze soll und wie sie überhaupt zu einem Psychotherapeuten kommt.
"Ich weiss, das ist sehr verwirrend für Sie, aber Sie werden es verstehen, später. - Wissen Sie eigentlich, wie sie hierher kamen?" Molly beschliesst, ehrlich zu sein. "Nein", sagt sie. "Sie wurden ins Spital gebracht, mit aufgeschnittenen Pulsadern. Ihre Nachbarin rief die Polizei, weil sie jemanden schreien hörte. Im Spital überwies man sie an mich." Molly weiss nicht, was sagen. Auf einmal erinnert sie sich: Sie schnitt sich mit einer Rasierklinge tief ins Handgelenk, dabei wollte sie das gar nicht, sie wehrte sich. Aber ihre Hand drückte das Messer nur noch tiefer herein, je mehr sie sich Mühe gab, es wegzuwerfen. Jemand schrie laut "Alissa, hör auf!" und dann war sie weg.
Jack Miller sah seine leichenblasse Patientin besorgt an. "An was denken Sie?", fragte er vorsichtig. Molly konnte nur stumm den Kopf schütteln. In ihren Augen sah er blankes Entsetzen. Er wusste, er konnte ihr im Moment nicht mehr helfen. "Dann, bis nächstes Mal, und Sie dürfen mich wirklich anrufen, jederzeit, wenn Sie Fragen haben, nicht wissen, wo Sie sind oder wenn es Ihnen nicht gut geht." Molly nickte, stand auf und verliess das Zimmer wortlos.
Viele Jahre später, als Molly schon unendlich viele Stunden bei Jack hinter sich hatte, schrieb sie traurig in ihr Tagebuch.
Wieso sah denn niemand etwas?
Worauf Mary sich den Stift schnappte und schrieb:
Wir haben es gesehen. Wir alle.
Alle anderen sahen es auch. Aber sie wollten nicht. Nicht wirklich.
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edit: Rechtschreibung, Ausdruck etc.