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Ich bin frei
Ich stelle mir Berge vor. Hell schimmernde Bergspitzen, die wie Zacken einer
Krone aus Elfenbein in den Himmel ragen. Natürlich ist der Himmel strahlend blau, und die Sonne berührt mit ihrem währmenden Licht meine Haut.
Von den majestätisch steil aufsteigenden Felswänden der Berge umreiht liegt das weisse Tal mit dem winzigen Dörfchen. Von hier oben, aus etwa halber Höhe
der Bergspitzen, sieht es wie eine Miniaturwelt aus, unerreichbar, zu fern für mich.
Ich lasse den Moment auf mich wirken.
Mein Blick schweift über das Tal zum gegenüberliegenden Bergmassiv.
Es ist beeindruckend! Mich erfasst ein sonderbares Schwindelgefühl. Kein unangenehmes, taumelndes, jedoch eher ein Gefühl der Überwältigung, als ob ich
zu klein wäre für diese Welt, nicht hierher gehörte. Wie unwichtig bin ich, ein Mensch, ein vergängliches Nebenprodukt der Ewigkeit.
Zu meiner Überraschung fange ich an zu berechnen:
Wie weit mag es sein. Wie weit würde ich fallen, sollte sich die Schwerkraft
umdrehen und mich zu diesem Fels ziehen, an dem ich zerschellen würde. Ich denke an mathematische Formeln, die ich gelernt habe.
Wenn ich die Höhe meines Standortes wüsste, wüsste ich auch den Winkel. Dann könnte ich die Meter..... NEIN!
Plötzlich überfallt mich Scham. Diesen Moment darf ich nicht mit nüchterner Realität zerstören. Ich erkenne, dass genau das mein Problem ist, eine Schwäche, die mir das volle Auskosten des Lebens bisher verwehrt hatte. Mein ganzes Leben drehte sich um Sachlichkeit und Berechenbarkeit, doch jetzt schenkt mir das Schicksal diesen Moment, lässt mich teilhaben an der
unendlichen Grösse und Schönheit der Schöpfung, der ich angehöre. Ja! Ich gehöre hierher. Ich bin Teil der Schöpfung und ich gehöre dazu, was mich wichtig und
unverzichtbar macht. Die Grösse des Universums spielt plötzlich keine Rolle mehr! Es ist meine eigene, völlig einzigartige Schöpfung, die ich sehe. Jeden
Moment, jeden Augenblick erschaffe ich die Welt neu. Manchmal variiert der Blickwinkel, in dem ich meine Kreation sehe, aber ich begreife, dass es einzig
an mir liegt, ob er gut ist oder schlecht, ob ich hineingehöre oder nicht.
Es liegt einzig an mir, ob die jetzige Welt weiterbesteht, oder ob sie zerinnt, sich auflöst, um als völlig neuartige, gänzlich andere Schöpfung neu zu
entstehen, in der alles so ist, wie ich es erschaffe, unbeeinflusst von Nüchternheit, auf mich zugeschnitten. Es hängt allein vom Blickwinkel ab. Deshalb erleben alle Menschen die Welt anders, weil jeder seinen eigenen Blickwinkel hat. Aber die wenigsten können ihn von sich aus verändern.
Nein, die Distanz zum anderen Berg lässt sich nicht in Metern ausdrücken, denn sie variiert mit dem Blickwinkel auf die Realität.
Ich stehe von dieser Erkenntnis völlig benebelt auf meinem Platz weit über
dem Tal.
Ich bemerke, dass die Sonne auf einmal viel intensiver scheint, mein Körper kann ihre Wärme viel besser aufnehmen (war die Wärme, die ich vorhin noch
spürte, wirklich Wärme?).
Mein Blick ist immer noch auf die entfernte Steilwand am anderen Ende des Tales gerichtet.
Plötzlich beginne ich zu fallen. Ich falle nicht nach unten, ich falle auf die Steilwand zu.
Mit immer grösserer Geschwindigkeit nähert sich der Fels. Ich spüre die Schwerelosigkeit. Meine Arme sind leicht. Aber es sind keine Arme mehr. Es sind
Flügel, mächtige Schwingen, die mich tragen. Mein schwarzes Gefieder glänzt in der Sonne und ich fliege über die Steilwand hinweg, über die Berge, die sich
mir jetzt unter mir als Ganzes offenbaren und immer kleiner werdend schliesslich verschwinden. Um mich herum sehe ich nur noch das Blaue des Himmels und
spüre die Wärme der Sonne.