Ich übe malen
Als ich das erste mal auf dich traf, konnte ich deinen Charakter nicht wirklich einschätzen. Nicht, dass ich das jemals zu meinen Stärken gezählt hätte, dennoch mochte ich das Selbstbild, das ich kreiert hatte, dem ich den Arbeitstitel „Ich durchschaue Menschen und kann einschätzen, ob sie mir Gutes oder Schlechtes wollen“ gab und das ich jedes mal voller Stolz betrachtete, wenn es in meinen Blick fiel. Großer Fehler.
Verstohlene Blicke, aufmerksames Zuhören, wenn du dein Wort an jemanden richtest und schüchternes Lächeln, all das war charakteristisch für unsere Anfangszeit. Ah, du interessierst dich für Musik; du beweist Geschmack bei der Aufzählung deiner Lieblingssongs. Smalltalk, der darauf hindeutet, dass uns mehr verbindet als die bloße Idee voneinander.
Wir sehen uns öfter, deine Anwesenheit empfinde ich nicht als anstrengend. Du fragst mich was ich mache; ich male; du schreibst, das ist so ein kreatives Hobby!
Nachmittage in Cafés, du redest über die Einrichtung und bewunderst die hübsch angerichteten Tortenstücke, die man uns bringt. Ich berichte dir von meinem Tag. Alles bleibt zunächst oberflächlich, aber du liest gute Bücher. Stundenlang schleudern wir uns Zitate unserer Lieblingsautoren entgegen und das macht mich glücklich, denn du bist sehr gebildet, viel gebildeter als ich es je sein werde. Trotzdem dir deine überragende Klugheit durchaus bewusst ist, gibst du dich mit mir ab, lässt mich dein Zeitvertreib sein und ich bewundere deine Geduld mit mir.
Ich will mehr von deiner Zeit, mehr von deiner Aufmerksamkeit und da du dein iPhone zu deinen ständigen Begleitern zählt, machst du mir es sehr leicht. Eine Nachricht an dich, ein Foto an mich, du erlebst so viel Interessantes!
Du gehst auf Reisen, besuchst hier und da mal einen Freund, überall scheinst du jemanden zu kennen und ich wünschte mir erginge es wie dir! Trotz alledem findest du immer Zeit für mich.
Du besuchst mich in meiner Wohnung, mein aus Sperrmüll zusammengestelltes Chaos, aber nein, du verurteilst mich nicht. Klar, du hast Geld, aber verwöhnt bist du nicht, denn du weißt den Wert einer Designer Handtasche zu schätzen.
Wie schön, dass du überhaupt keine Vorurteile hast, du kannst den billigen Rotwein genießen, den ich dir anbiete. Obwohl der Wein zu süßlich schmeckt, habe ich schon einige Gläser geleert und das macht sich bemerkbar, hoffentlich fällt dir nicht auf, dass ich angeheitert bin. Dir hingegen ist nichts anzumerken, wie kann das nur sein, du bist so dünn. Deine Trinkfestigkeit ist bemerkenswert!
Wir plaudern über dies und das, was ist der Sinn deines Lebens? Und wie sehe ich das? Du willst meine Kunst sehen? Klar, aber gut male ich nicht, ich benötige noch viel Übung. Natürlich kennst du viele Künstler und du ermunterst mich, es zu versuchen, schließlich haben deine Bekannten es auch geschafft, warum also nicht ich. So eine positive Lebenseinstellung, vermutlich kannst du alles schaffen, was du dir vornimmst und ja, du hast die höchsten Ziele. Warum kann ich nicht sein wie du?
Ich habe das Gefühl immer mit dir verbunden zu sein, denn von deinem Leben erzählst du mir viel und alles sieht so rosig aus bei dir. Du scheinst sehr beschäftigt, denn du musst ehrgeizig deine Ziele verfolgen, ich verstehe das.
Heute hast du mal keine Zeit, denn du erledigst gerade dies und das. Morgen? Wer weiß.
Doch auf Dauer macht es mir keinen Spaß alleine Torte zu essen, ich langweile mich, denn ich erhalte keine Fotos mehr von deinen Unternehmungen. In welcher Stadt du heute bist, hast du mir gar nicht erzählt. Als ich dich frage wirkst du abwesend, aber bestimmt habe ich dich nur in einem ungünstigen Zeitpunkt erwischt. Sicherlich erlebst du gerade etwas aufregendes. Ich warte wohl besser ab, gebe dir Zeit mich zu vermissen.
Leider werden die Abstände zwischen den einzelnen Nachrichten, die du an mich verfasst, immer größer und ich mache mir große Sorgen um dich. Vielleicht bedrückt dich ja etwas.
Ich habe immer mehr Zeit um malen zu üben, ich werde immer besser. Den Wein, den ich für uns gekauft habe muss ich wohl alleine trinken, besuchen kommst du mich schon lange nicht mehr. Dabei denke ich über dich nach und frage mich, was ich wohl falsches gesagt haben könnte, denn sicher bist du wütend auf mich.
Wochen vergehen und irgendwann finde ich es nicht mehr schlimm, alleine im Café zu sitzen. Lange habe ich nichts von dir gehört, aber deine Fotos, die sehe ich noch. Du hast ein hübscheres Café gefunden und trinkst nun dort deinen Kaffee, mit einer neuen Bewunderin. Wahrscheinlich sprecht ihr gerade über eure Lieblingsautoren und sie hängt begierig an deinen Lippen, wenn du von deinem aufregendem Leben erzählst. Bald wird auch sie nicht mehr von Relevanz für dich sein.
Zum Glück kann ich nun besser malen, mein Selbstbild habe ich auch korrigiert.