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Ice Age
Natürlich wollte sonst keiner mit, und ihren Mann hatte sie gar nicht erst gefragt. Im Kino wurde Carmen zweimal angesprochen, ob irgendein Kind zu ihr gehörte, aber zu ihr gehörte kein Kind, sie war tatsächlich nur wegen des Films da. Mit einem behaglichen Seufzer machte sie es sich im Sessel bequem. Dieser Nachmittag war die Belohnung für einen ganzen Kurs „Bauch, Beine, Po“, den sie tapfer durchgehalten hatte, obwohl sie die einzige Teilnehmerin gewesen war, die von allen drei Körperteilen wirklich reichlich besaß. Jetzt hatte die Schinderei erst mal ein Ende, und das würde sie heute feiern.
Der Mann, der sich neben sie plumpsen ließ, war sichtlich schlecht gelaunt und begann ungebeten auf sie einzureden.
„Normalerweise hätte ich zu Hause `ne Menge zu tun.“ Er wandte sich zur Seite und zischte einen kleinen blonden Jungen an. „Leon, eins sage ich dir, wenn du hier die ganze Zeit so rumzappelst, ist der Film für dich beendet, und zwar mittendrin.“ Er übersprang den kleinen Jungen und bellte zwei Mädchen an. „Und ihr hört auf, euch um die Popcorn zu kloppen. Diese Tüte ist me-di-um, die kriegt ihr sowieso nicht auf.“
Carmen blätterte intensiv im Kinomagazin, aber er drehte sich wieder zu ihr.
„Eigentlich wollte meine Frau das machen, und wie sieht die Sache jetzt aus? Sie hat `ne extra Chorprobe, und ich darf los mit den Kiddies.“
Sie verkniff sich einen mitfühlenden Laut und nickte nur kühl. Leute, die sie mit ihren Problemen zutexteten, hatte sie den ganzen Tag auf der Arbeit. Sie saugte an ihrer Cola und betrachtete die Leinwand, auf der sich jedoch noch nichts tat.
„Ich will auch ´ne Cola“, sagte Leon und starrte begehrlich auf ihr Getränk.
„Du hast dir Limo ausgesucht.“
„Ich wollte aber Cola.“
„Sag` mal, geht’s noch? Ich kippe jetzt nicht deine Limo weg, um dir Cola zu kaufen.“ Für einen Moment schwiegen alle, und jetzt ging es endlich los.
Während der Werbung und der Vorschau war es noch laut im Kino, aber das störte sie nicht, im Gegenteil. Dann lehnte sie sich entspannt zurück und verfolgte die erste Szene.
Scrat, das Säbelzahneichhörnchen quälte sich Schritt für Schritt gegen den Wind durch eine beeindruckende Eiswüste. Sein Ziel war eine Haselnuss, die ein Stück weiter aus dem Eis ragte. Als es zupacken wollte, fror es ein, sprengte sich jedoch mit letzter Kraft aus seiner Eishülle, packte die Nuss und zerrte sie aus dem Eis. Augenblicklich bebte der Boden, riss auf, und Scrat stürzte mit einem gellenden Schrei in die Spalte, wobei ihm die Augen unnatürlich weit aus den Höhlen quollen.
Carmen gelang es gerade noch, ihrem überrumpelten Nachbarn ihre Cola in die Hand zu drücken, bevor sie von einem Lachflash geschüttelt wurde, der sie fast aus dem Kinosessel katapultierte.
Sie kam im Verlauf des Films nicht wirklich wieder runter. Zwischendurch sah sie kurz zur Seite und nahm vage den Mann wahr, der ihre Cola hielt, dahinter drei kleine weiße Gesichter, die sich nicht entscheiden konnten, ob sie zu ihr oder zur Leinwand sehen sollten, bevor sie wieder losprustete. Sie japste gerade verzweifelt nach Luft, als sie ein merkwürdiges Geräusch neben sich hörte. Es klang zuerst wie ein Schnaufen, wurde lauter und verröchelte in einem sonoren Kratzen, hob wieder an und offenbarte sich in seiner echten Gestalt. Es bestand kein Zweifel. Der Mann neben ihr lachte. Zunächst noch etwas ungeübt, doch dann gewann er an Fahrt. Seine Kinder fielen ein mit einer Begeisterung, in der blanke Überraschung mitschwang. Sie wandte sich wieder dem Film zu.
„Geh' runter von meinem Gesicht!“ schnauzte das Mammut das Faultier an.
Das Publikum tobte. Popcorn flog durch die Gegend.
Scrat tauchte auf, die Nuss und die nächste Katastrophe im Visier.
Die Stimmung im Saal krachte durch die Decke. Der Mann neben ihr wieherte wie ein Pferd. Irgendwann bekam er heftigen Schluckauf.
Am Ende fischte er ihren Becher unter dem Sitz hervor und gab ihn ihr strahlend zurück. „Wir sollten mal einen trinken gehen. Muss ja keine Cola sein.“
Carmen wischte sich die Tränen aus den Augen. „Ja,ja.“
Ingo tat so, als mache er sich Notizen. In Wirklichkeit malte er kleine Säbelzahneichhörnchen auf den Rand seines Kalenders. Er war früher in der Schule berühmt gewesen für seine Comics. Seine Kinder würden begeistert sein.
Er ließ schnell den Blick durch seine Klasse schweifen. Etwa 15 Erwachsene, die vor PCs saßen und Bewerbungen formulierten. Er schätzte, dass maximal zwei von denen ernsthaft motiviert waren. Die meisten anderen, von der Arbeitsagentur zu dieser Maßnahme abkommandiert, saßen schon zum zweiten oder dritten Mal hier und kannten die Nummer. Noch fünf Minuten, dann würde er rumgehen müssen und Tipps geben.
Erst Mal wandte er sich wieder seinem Säbelzahneichhörnchen zu, das in der Taille etwas zu dick geraten war. So wie die Dame gestern.
Sybille war sichtlich irritiert gewesen, als er mit den Kindern aus dem Kino zurück gekommen war.
„Du bist ja beinahe euphorisch, da habe ich wohl echt was verpasst.“ Dann hatte sie ein bisschen gelacht, um den missbilligenden Ton, der sich eingeschlichen hatte, zu kompensieren.
„Ach, der Film war eigentlich ziemlich blöd. Aber irgendwie auch witzig.“
„Mama, da war eine dicke Frau, die hat tierisch gelacht. Die war noch lustiger als der Film.“
Leon war offenbar genauso beeindruckt wie er. Ingo hatte gegrinst.
„Stimmt. Die war dick und lustig.“
„Toll, jetzt gib dein Macho-Geschwafel noch an deinen Sohn weiter. “
„Das war kein Geschwafel, das waren Fakten. Und du brauchst dich gar nicht so künstlich aufzuregen, ich habe nicht gesagt, dass du dick bist.“
„Bin ich ja auch nicht.“
Sybille wäre vermutlich mehr als überrascht, wenn sie wüsste, das er seit drei Tagen von heftigen Visionen heimgesucht wurde, in denen er die fremde Frau vögelte, in allen Positionen, die das Kamasutra hergab.
Wieder musste er grinsen. Scrat grinste zurück. Fast hatte er das Gefühl, dass er ihm zuzwinkerte.
Sybille röstete Sonnenblumenkerne. Sie hörte dabei Ina Müller und hoffte, dass Ingo nicht so bald kommen würde. Er mochte Ina Müller nicht und pflegte sie mit so leidender Miene zu ertragen, dass Sybille jedes Mal einknickte und leise stellte. Jetzt vergewisserte sie sich, dass die Küchentür zu war, und drehte noch mal richtig auf. Zog die Pfanne von der Platte und tänzelte zum Kühlschrank, um den Rucola zu suchen. Sie unterdrückte ihr schlechtes Gewissen darüber, dass die Kinder vorm Fernseher saßen. Jetzt schon deutlich länger als die offiziell erlaubte halbe Stunde pro Tag. Außerdem hatte Leons Therapeutin ihr empfohlen, ihn bei der Essenszubereitung mit einzubeziehen, um seine Feinmotorik zu fördern. Egal jetzt.
Es war einer der Momente, wo Wiebke und Svenja mal froh waren, einen kleinen Bruder zu haben, den man zu jedem Scheiß überreden konnte. Mit zwei Stofftieren unter dem T-Shirt hatten sie ihm einen etwas ungleichmäßigen Busen gebastelt und mit einem Kissen den Bauch ausgestopft. Das Schminken hatte gedauert, weil Leon immer so zappelte, aber schließlich hatte Wiebke ihn im Polizeigriff festgehalten, und Svenja hatte ihm mit Filzstift richtig ausdrucksstarke Augenbrauen gemalt. Daran konnten sich alle drei erinnern, die dicke Frau hatte ganz schwarze dicke Augenbrauen gehabt. Die Spielidee war bestechend einfach und unendlich oft wiederholbar. Leon drückte Leonie einen Becher in die Hand, sagte „Halten Sie mal...“, und brach in brüllendes Gelächter aus. Er wackelte dabei ordentlich mit dem Busen. Wiebke und Svenja fielen fast unter den Tisch vor Lachen.
Alle Türen waren geschlossen. Ingo lauschte kurz an der Wohnzimmertür. Die Kiddies hatten offenbar richtig Spaß, hoffentlich die Art, die nicht zu Schäden am Mobiliar führte. Er unterdrückte die Versuchung, nach dem Rechten zu sehen, und näherte sich der Küchentür. Ina Müller. Volles Rohr. Er verdrehte die Augen. Machte ein leidendes Gesicht und öffnete die Tür.
Ina Müller sang „Bye, bye, Arschgeweih“ und er blickte auf den Arsch seiner Frau, die im Kühlschrank irgendwas suchte.
Sybille fuhr erschrocken herum, als sie hinter sich eine Bewegung wahrnahm. Ingo schenkte sich ein Bier ein. Er prostete ihr freundlich zu und formulierte übertrieben lautlos mit seinen Lippen die Frage. „Auch eins?“
Sie nickte überrumpelt und sah zu, wie er noch ein Glas füllte. Dann war das Lied zu Ende. Sie nahm einen Schluck und sah ihm scharf in die Pupillen.
„Du grinst so schmierig.“
Sein Grinsen wurde noch breiter. Dann zwinkerte er ihr zu.
Leon, Wiebke und Svenja waren ziemlich überrascht, als ihr Vater ihnen ohne sich weiter um Leons Aufzug zu kümmern, Papier und Stifte hinwarf.
„Hier sind ein paar Vorlagen. Jetzt seid Ihr dran. Für jedes wirklich gut geratene Säbelzahneichhörnchen - und welche gut geraten sind, entscheide ich - gibt es 5 Cent. Mama und ich haben oben im Schlafzimmer was zu besprechen. Ihr habt Zeit, bis der große Zeiger auf der 6 ist. Wer uns in dieser Zeit stört, zahlt 50 Cent. Ihr könnte den Fernseher anlassen.“ Er zog die Tür wieder zu und lief federnden Schrittes die Treppe hoch. So trainierte man Feinmotorik. Im Bad hörte er Wasser laufen. Sybille bereitete sich vor.
Was er nicht mehr mitbekommen hatte, waren die Blicke, die seine Kinder wechselten, nachdem er den Raum verlassen hatte.
„Da ist was faul.“ sagte Svenja schließlich.
„Soll ich mein Laserschwert holen?“ bot Leon an.
„Quatsch, das sind Mama und Papa!“ Wiebke verdrehte die Augen. Dann schauderte sie. „Vielleicht wollen sie sich scheiden lassen?“
Manchmal war Sybille überzeugt, dass es nur eine Situation in ihrem Leben gab, wo sie wirklich vollkommen entspannt war: bei der Kopfmassage beim Friseur. Sie hatte vor Jahren mal gelesen, dass Falco jeden Tag zum Friseur ging, weil ihn die Kopfmassage so entspannte. Sie hatte ihn nicht besonders gemocht, aber an diesem Punkt hatte sie sich ihm sehr verbunden gefühlt. Schon bei der Frage „Stimmt die Temperatur so?“ hätte sie schnurren können. Jetzt schloss sie die Augen und gab sich den geschickten Fingern von Frau Meyer hin.
Frau Meyer war definitiv die beste Friseurin im Laden, obwohl sie mit ihren ausladenden Maßen nicht unbedingt zu den restlichen Damen hier passte. Die sahen eher magersüchtig aus, konnten aber nicht so gut massieren, geschweige denn Haare schneiden. Der Genuss wäre perfekt gewesen, wenn da nicht ein kleines Problem in ihr rumort hätte. Sie versuchte, es beiseite zu schieben und klein zu denken, aber es meldete sich wieder und hackte nach ihr. Sie spürte, wie sie rot wurde. „Ist das Wasser zu heiß?“ fragte Frau Meyer prompt, und sie verneinte schnell. Sie hatte Frau Meyer schon so einiges von sich erzählt, aber das hier war schon ziemlich pikant. Der Gedanke an gestern Abend trieb ihr die Schweißperlen auf die Stirn. Nein, sie würde Frau Meyer nicht fragen, ob sie glaubte, dass ihre Kinder irreparablen Schaden genommen hatten. Eine Friseurin war definitiv keine Kinderpsychologin.
„Kommt drauf an.“ Carmen verharrte einen Moment nachdenklich, eine Strähne von Sybilles frisch gewaschenen Haaren zwischen den Fingern.
„Worauf?“ Die Frau war wirklich in Not, das konnte man an den hektischen, roten Flecken auf ihrem Hals sehen. Aber manchmal konnte Carmen sich eben einfach nicht beherrschen. Sie beugte sich zu Sybilles Ohr runter und fasste sie im Spiegel fest ins Auge.
„Was genau haben Ihre Kinder denn da auf dem Flur gehört? Klang da irgendwas missverständlich für Kinderohren? Haben Sie z.B. laut gestöhnt, mit oder ohne Sprache? Wenn mit, was genau haben Sie von sich gegeben? Oder hat Ihr Mann sowas gebrüllt wie 'Du kleine geile Schlampe, jetzt kriegst du, was du brauchst!!!?' Wie sieht es mit Ihrem Bett aus? Hat es tierisch gerumpelt? Oder gab es eher schmatzende Geräusche? Hatten Sie Licht an? Konnten die Kinder durchs Schlüsselloch nackte Körperteile sehen? Wenn ja, welche? Ein Oberarm wäre nicht so schlimm. Andere Perspektiven vielleicht doch. Haben Sie es ihm mit dem Mund gemacht? Wie lange hat es überhaupt gedauert?“
Sybille sass schockgefroren unter dem Frisierumhang. Sie liess panisch ihren Blick durch den Salon schweifen, aber niemand sah herüber. Zweimal bewegte sie die Lippen, bevor sie sich räusperte, und auch dann klang ihre Stimme noch belegt.
„Nun übertreiben Sie mal nicht.“
„Na ja, also dann...“ Carmen richtete sich gemütlich auf. „Halb so wild, würde ich sagen. Wie hat denn Ihr Mann reagiert?“
„Der hat sich totgelacht!“
„Warum?“
Sybille stöhnte gequält auf.
"Na ja, Leon stand doch plötzlich vor unserem Bett, wie 'ne dicke Frau verkleidet, scheußlich geschminkt, mit seinem blöden Laserschwert in der Hand, und hat gefragt, ob er mitspielen darf."
Carmen gelang es gerade noch, ihre Bürste abzulegen...